Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Vegetarier

Herr Ambrosius, ein vierzig Jahre alter, unverheirateter Kontorist, war überzeugter Vegetarier. Er hielt es für gesundheitsschädlich und unmoralisch, Fleisch zu essen. Wenn er bei seiner Sommerreise das Vieh auf der Weide sah, hatte er volles Verständnis dafür, wie gut diese Nahrung schmeckte. Er gewöhnte sich ebenfalls, die Pflanzen ungekocht zu verspeisen, nur das Wiederkäuen wollte ihm nicht recht gelingen. Mit Menschen hatte er wenig Umgang, aber bald begann er die Sprache der Ochsen zu verstehen. Über einfachere Dinge konnte er sich schon ganz gut mit ihnen unterhalten. Zu seinem Erstaunen fand er, daß die Tiere nicht so dumm waren, wie man meinte, über viele Fragen nachdachten, die ihnen unerklärlich schienen. Wenn sie zur Weide gingen, kamen sie an einem Friedhof vorüber und hatten bald bemerkt, daß dort die toten Menschen angepflanzt wurden. Warum? Und warum wurde nie ein toter Ochse gepflanzt? Überhaupt, was wurde aus dem verstorbenen Vieh? Herr Ambrosius konnte sie aufklären, erzählte ihnen, daß noch kein Ochse eines natürlichen Todes verblichen sei, alle würden von den Menschen ermordet und verschlungen, nicht einmal die Kindlein würden geschont. Zum Beweise zeigte er ihnen die Speisekarte eines 86 Restaurants, auf der sich auch Kalbsbraten verzeichnet fand. Allerdings prima Mastochsenfleisch, Beefsteak, Chateaubriand war mit bedeutend höherem Preis aufgeführt. Einer der Ochsen fühlte sich dadurch geschmeichelt, betrachtete das als eine Art Nachruhm. Doch die intelligenteren waren empört. »Warum lassen wir uns das gefallen?« fragten sie. »Weil ihr Ochsen seid«, antwortete Ambrosius. »Jeder einzelne von euch ist stärker als ein Mensch. Ihr braucht nur zusammenzuhalten, eine Bewegung, eine Partei zu gründen.« Ja, das wollte man, aber das ging nicht so schnell.

Wieder hatte der Bauer eine Auswahl des schönsten Jungviehs 87 an den Schlächter verkauft und weggeführt. »Ihr werdet sie nie wiedersehen«, meinte Herr Ambrosius, und die Erregung der Zurückbleibenden schwoll mächtig an. Sie steckten die Köpfe zusammen, berieten sich mit leisem Gemuh, das ging allmählich in dumpfes Brüllen über. Schließlich erhob sich der Riesenochse, welcher auf der letzten Landwirtschaftsausstellung mit dem ersten Preis gekrönt war, stemmte die Vorderbeine auf den Rücken seiner Lieblingskuh und ließ seine mächtige Stimme ertönen.

Ambrosius klatschte Beifall; denn er verstand jedes Wort. »Alles durch das Rindvieh und für das Rindvieh!« rief der Ochse. »Nieder mit der Knechtschaft! Wir werden heute abend nicht in den Stall zurückkehren. Jetzt ziehen wir in die Freiheit.« Sie verließen die Weide, marschierten unter beinah taktmäßigem Gebrüll auf der Landstraße dahin, ohne bestimmtes Ziel, nur fort von den Menschen, diesen Massenmördern. Sie vertrauten Herrn Ambrosius; der würde ihnen schon den richtigen Weg weisen.

Nach einer Stunde kamen sie in einen Wald. Dort kreuzte sich die Landstraße mit einer andern. Auf dieser kam ebenfalls ein brüllender Trupp dahermarschiert. Aber das waren keine Ochsen, das waren Menschen, die Gewehre trugen. Ängstlich verbargen sich die Ochsen im Gebüsch. »Wollen die uns totschießen?« fragten sie Herrn Ambrosius. »Ach nein«, beruhigte er sie, »das sind 88 Soldaten, die von Offizieren in den Krieg geführt werden. Was sie brüllen, sind Kriegslieder.« – »Und wozu führt man sie in den Krieg?« – »Damit sie dort geschlachtet werden, natürlich. Man hat dazu eigene Schlachtfelder.«

Die Ochsen konnten das nicht begreifen. »Aber, lieber Herr Ambrosius, warum lassen die sich das gefallen, genau wie wir früher?« Darauf wußte Herr Ambrosius leider keine Antwort zu geben, und die Ochsen verloren den Respekt vor seiner Weisheit. Mißgestimmt meinte der Preisochse: »Es scheint, wir haben uns auf eine zwecklose Unternehmung eingelassen. Was den Menschen selbst nicht gelingt, werden wir auch nicht fertigbringen. Das gescheiteste ist, wir gehen wieder heim zum Bauernhof.« 89

Während die Soldaten weiter in den Heldentod zogen, wanderte die Herde betrübt in den Stall zurück. Niemand sprach mehr mit Ambrosius. Der reiste am nächsten Tage ab. Man weiß nicht, ob er noch Vegetarier ist. 90

 


 


 << zurück weiter >>