Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Das Märchen von der Planwirtschaft

Herr Regierungsrat Gerhart Fleißner, Direktor des Statistischen Landesamts, war gestorben und im Himmel angekommen. Der Aufnahme-Engel prüfte seine Papiere und führte ihn zur Garderobe, wo die irdischen Hüllen abgelegt werden. Dann fragte ihn der Engel, ob er besondere Wünsche habe. »Allerdings«, sagte der Herr Regierungsrat, »ich möchte den Herrn Direktor dieser Anstalt sprechen.« Der Engel schlug entsetzt die Flügel über dem Kopf zusammen und klärte den Ankömmling auf: »Dieses ist keine Anstalt, sondern der Himmel, und da gibt es keinen Direktor. Hier herrscht die alleinige Allmacht Gottes. Wenn Sie eine Audienz bei ihm wünschen, müssen Sie den Instanzenzug einhalten. Ich werde Sie bei Herrn Erzengel Gabriel melden. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, es wird ebensolang dauern, bis Sie vorgelassen werden, wie wenn früher jemand Sie selbst im Statistischen Amt sprechen wollte.«

Der Regierungsrat setzte sich auf eine Wolke und wartete fünf Monate. Von einem mitleidigen Engel hatte er eine Harfe bekommen, damit er sich die Zeit mit Musik und Gesang vertreiben möge.

Aber er konnte nur einige vaterländische Lieder singen und 124 von seiner Studentenzeit her die Wirtin an der Lahn. Da mußte er gleich wieder aufhören. Im sechsten Monat endlich wurde er gefragt, in welcher Angelegenheit er Seine Allmacht zu sprechen wünsche. »Neuorganisation!« gab er als Zweck des Besuches an, und bald stand er vor dem Thron Gottes.

Der blickte ihn gütig und ernst an und sprach: »Herr Regierungsrat Fleißner, nicht 125 wahr? Bitte, womit kann ich dienen?« – »Darf ich mir erlauben, Eurer Allmacht ergebenst einen kleinen Vorschlag zur planmäßigen Neuorganisation der Welt zu unterbreiten?« – »Gewiß dürfen Sie das. Allerdings habe ich mich schon gleich nach der Schöpfung überzeugt, daß alles gut war. Aber immerhin, man lernt nie aus.« – »Also hier habe ich meine statistischen Tabellen«, und der Regierungsrat entnahm sie seiner Aktentasche. »Das Durchschnittsalter des Menschen beträgt 50 Jahre. Von dieser Zeit verbringt er, wenn man alle Stunden zu Tagen zusammenzählt, im ganzen: mit Schlafen 5300 Tage, Arbeit 4560, Sport- und Militärübungen 1640, Theater und Kino 1400, Krankheit 780, Essen 760, Liebe 750, Wirtshaus 740, Religion leider nur 420, Reisen 400, Lernen 390, Lesen 380 Tage, und 320 Tage sitzt er auf dem Klosett. Das ist nun alles sehr schlecht organisiert; denn dieses Pensum wird über die ganze Zeit des Lebensbetriebs in vielen einzelnen, oft ganz willkürlich eingeteilten Zeitabschnitten verzettelt, anstatt, wie es die moderne sachgemäße 126 Rationalisierung verlangen würde, jede dieser Beschäftigungen hintereinander weg überall und auf einmal zu erledigen, so daß der Mensch sich im späteren Leben nicht mehr damit zu befassen brauchte und der ganz unwirtschaftliche ständige Wechsel der Beschäftigungsarten 127 fortfiele. Es bedarf nur einer Verordnung Eurer Allmacht, um mit einem Schlage die Welt in diesem Sinne zu modernisieren und eine vernünftige Planwirtschaft in die Wege zu leiten.« Der Allmächtige überlegte eine Weile, sah sich die statistischen Aufzeichnungen an, erst kopfschüttelnd, dann zustimmend und sprach schließlich: »Genehmigt! Aber wenn es sich nicht bewährt, kann ich Sie hier nicht mehr gebrauchen. Dann kommen Sie in die Hölle. Einstweilen setzen Sie Ihre statistischen Arbeiten hier fort, der Himmel ist auch nicht richtig durchorganisiert.« – »Darf ich meine Planwirtschaft paragraphieren?« fragte der Regierungsrat. Donnernd antwortete der Herrgott: »Sie vergessen wohl, daß ich allmächtig bin? Sobald ich etwas will, geschieht es automatisch.«

Zum Zeichen des Umschwungs schickte er einige kleine Katastrophen auf die Welt hinab. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Stürme und Fluten tobten da unten, während Kometen und Meteore wie verrückt am Himmel herumrasten. Dann wurde es wieder ruhig, und die Neuordnung begann. Fleißner durfte hinabschauen und freute sich, wie die Menschen da nach seinem Plan lebten. 128

Zuerst merkte man nicht viel Unterschied. Nur ein ungeheurer Lerneifer hatte die Menschheit ergriffen. Alle lernten und studierten ununterbrochen Tag und Nacht, ohne eine Sekunde lang aufzuhören und ohne zu ermüden, 390 Tage lang. Dann wußten sie wohl alles. Das Pensum für das ganze Leben war erledigt. Plötzlich hörten sie mit Lernen auf und fingen an zu arbeiten. Ohne Aufhören, ohne die geringste Pause wurde gegraben und gehämmert, liefen die Maschinen, gingen die Eisenbahnen, fast zwölfeinhalb Jahre hindurch, von morgens bis abends, von abends bis morgens. Eine dichte Schweißwolke lagerte über der Erde. Ganz plötzlich, wie auf ein Generalstreikkommando, hörte die Arbeit überall auf. »Das ist herrlich«, sprachen die Menschen, »nun brauchen wir unser ganzes Leben hindurch nie mehr zu arbeiten.« Auch der Herrgott bemerkte erfreut, wie glücklich sie jetzt waren und klopfte dem Regierungsrat Fleißner wohlwollend auf die Schulter. Die Neuorganisation bewährte sich vorzüglich. Nun aber erwachte in den Menschen mächtig die Liebe.

Es begann eine wundervolle Zeit auf der Erde, wie ein ewiger Wonnemonat. 750 Tage taten die Menschen nichts als lieben, von früh bis spät, von spät bis früh, und wurden dessen nicht müde. Aber dann war es mit einem Schlage aus. Nie wieder Liebe!

Die Menschheit versank in einen Dornröschenschlaf. Jeder konnte sich gerade noch zu Bett begeben. Nun schlief alles. Nie 129 war die Welt so friedlich gewesen. Wie ein Lobgesang auf Herrn Direktor Fleißner drang das allgemeine Schnarchen zum Himmel. Vierzehn Jahre und einige Monate währte der Schlaf. Dann erwachten alle Menschen gleichzeitig.

Dankbaren Herzens beteten sie, beteten und widmeten sich ausschließlich religiösen Übungen. Das dauerte, ohne einen Augenblick innezuhalten, 420 Tage und Nächte hintereinander. Dann war auch diese Aufgabe für immer getan, und man widmete sich ebenso intensiv körperlichen Übungen, allen Arten Sport und der Militärausbildung. Man ermüdete nicht, ununterbrochen, 1640 Tage lang war die ganze Welt ein Stadion. Dann hatten die Leute Hunger bekommen. Die Zeit der Körperübungen war plötzlich zu Ende, endgültig. Sie fingen an zu essen. Sie aßen und aßen, 760 Tage, also mehr als zwei Jahre hindurch, in einem fort, und es schmeckte ihnen sehr gut. Dann waren sie für die ganze Zeit ihres Daseins mit dem Essen fertig, nie wieder sollte eine Speise ihre Lippen berühren. Nach der materiellen Zeit kam eine geistige. Die ganze Menschheit begann zu lesen und las unaufhörlich 380 Tage lang. Dann hat niemals wieder jemand ein Buch oder eine Zeitung angeschaut. Vielleicht hatte die Lektüre Sehnsucht, die Welt zu sehen, erweckt, wahrscheinlich aber war es einfach durch den planmäßigen Verlauf des kosmischen Geschehens bedingt, daß nun eine Zeit der Reisen folgte. 130

Jeder reiste und tat nichts als reisen. Kein Mensch war zu Hause. Alle schwirrten unablässig über den Erdball dahin, in Eisenbahnen, Schiffen, Automobilen, Flugzeugen, zu Fuß. Nie ruhten sie einen Moment aus. 420 Tage und Nächte dauerte das, dann war das Reisen für alle Zeiten vorbei. Wieder in der Heimat, erwachte bei ihnen ein unbezwingliches Interesse für Theater und Kino. Den ganzen Tag und die ganze Nacht gab es Dauervorstellungen. Niemand befaßte sich auch nur für einen Augenblick mit irgend etwas anderm. Fast 4 Jahre währte diese genußreiche Zeit, bevor sie versank. Darauf folgte die Epoche des Wirtshausbesuches. Die Menschheit verbrachte dort 2 Jahre hintereinander, ohne je heimzugehen. 131

Die Periode wurde von einer weniger angenehmen abgelöst. 320 Tage und Nächte saß die ganze Menschheit auf dem Klosett und stand niemals auf. Man war froh, als diese Zeit schließlich für immer vorbei war. Aber sie hatte sehr bedenkliche hygienische Folgen. Alle Menschen, ohne Ausnahme, waren jetzt krank. 780 Tage hatten sie ohne Unterlaß zu leiden.

Damit war dann ihre Lebensaufgabe beendet. Alle starben.

Regierungsrat Fleißner ließ sich beim Herrgott melden und sprach, sich tief verneigend: »Melde Eurer Allmacht gehorsamst, Planwirtschaft der Welt restlos durchgeführt.« Der Allmächtige tat einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, und dann fragte er: »Und wie geht es nun weiter?« – »Wieder von vorn natürlich«, meinte Fleißner. »All right! Aber Herr Regierungsrat, Sie Hornochse, da hätten Sie die Liebesjahre bis zum Schluß aufsparen oder eine Zeit für das Kinderkriegen einsetzen müssen. Jetzt ist die Menschheit ausgestorben, und ich kann meine ganze Schöpfung noch mal machen.« Regierungsrat Fleißner wollte noch etwas erwidern, aber schon war er durch einen mächtigen Fußtritt Gottes in die Hölle hinabgesaust. 132

Dort ließ er sich sofort bei Luzifer melden, um ihm Vorschläge zur Organisation der Hölle zu unterbreiten. Nie hatte Luzifer so gelacht. »Aber, guter Regierungsrat, wissen Sie denn nicht? Organisation, das ist ja die Hölle.«

 


 


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