Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Krassogerontophilie

Ein Kriminalmärchen

Alle Blicke wandten sich der vornehmen, schlanken Blondine zu, die den Hotelsaal in Pörtschach am Wörthersee, betrat, wo die Jazzmusik spielte und schon ein wenig getanzt wurde. Sie war nicht mehr in der ersten Jugend, aber sehr elegant und von eigentümlichem Scharm. Sie speiste allein, nur in Gesellschaft ihres kleinen chinesischen Hündchens, dem sie manchmal einen 19 Leckerbissen vorlegte. Der Liebling erleichterte die Anknüpfung eines Gesprächs.

»Ein reizendes Tierchen!« sagte der berühmte Rekord- und Herzenbrecher Baron Falotti, »was ist er für eine Rasse?« Im Lauf der Konversation forderte er die Dame zum Tanzen auf. Sie lehnte kühl ab, sie sei zu ermüdet von der Reise. Aber nicht lange darauf sah man sie mit dem fetten, glatzköpfigen Bankier Gutstein einen Tango tanzen, er schwitzte so dabei, daß er sie bald an ihren Tisch zurückführen mußte. Mit bezauberndem Lächeln lud sie ihn ein, bei ihr Platz zu nehmen und etwas Erfrischendes zu trinken.

An einem Tisch in der Nähe saß der berühmte Sexualforscher Professor Rehfeld mit einem Freunde. »So macht sie es immer«, dozierte er. »Das ist die Gräfin Circe aus Ungarn, ich habe sie schon am Lido beobachtet. Ein hochinteressanter Fall von Krassogerontophilie.« »Bitte, was bedeutet dies Wort?« fragte der 20 Freund. »Wir Sexualpsychologen bezeichnen damit eine besondere Form der Perversität, eine krankhafte Veranlagung. Die daran Leidenden fühlen sich nur zu dicken, alten Personen des andern Geschlechts hingezogen. Bei der Gräfin Circe ist die Krassophilie noch stärker ausgebildet als die Gerontophilie, denn sie flirtet auch mit jüngern Herren, wenn sie besonders wohlbeleibt sind.« – Ein heißer, verlangender Blick aus den Augen der Gräfin traf den alten Professor. »Sehen Sie«, flüsterte er, »ich wiege ja auch meine hundert Kilo, sie möchte immer mit mir anbandeln. Vielleicht werde ich der Wissenschaft einmal das Opfer bringen und Studien an ihr machen, denn in der ganzen medizinischen Literatur sind bisher nur vier Fälle dieser Perversität authentisch belegt.«

Am nächsten Tag, am Badestrand, war Gräfin Circe bereits von einer ganzen Sammlung dicker und alter Herren umschwärmt. Sie sah unerhört schlank und schön im Badekostüm aus; um so merkwürdiger wirkte der Gegensatz zu den Fettwansten, mit denen sie sich in lustiger Unterhaltung herumtummelte, wobei sie, wie genießerisch, diesen und jenen Bauch betastete oder dicke Falten 21 des Rückens prüfend durch die Finger zog. Zum Schluß mußte sich unter allgemeinem fröhlichem Gelächter jeder der Herren auf die automatische Waage stellen, und die Gräfin schrieb Namen und Gewicht in ihr Notizbüchlein.

Baron Falotti hatte das Spiel noch nicht verlorengegeben. Er wußte, wie blendend er auch im Schwimmanzug aussah und welchen Eindruck er stets auf Frauen machte, es würde ihm doch ein leichtes sein, diese ekelhaften Falstaffs auszustechen. Kavaliermäßig begann er eine Konversation. Die Gräfin schien gelangweilt, führte ihn zur Waage und stellte fest, daß er nur neunundsechzig Kilo wog. »Das notiere ich mir gar nicht«, sagte sie, »überhaupt, ich habe keine Zeit, ich reise ab.« Sie winkte den andern Verehrern zu: »Auf Wiedersehen in Nagy Teremtem!« und war 22 verschwunden und nicht wiederzufinden.

Am nächsten Tag dozierte Professor Rehfeld wieder: »Der Fall bleibt typisch. Die Gräfin ist abgereist und alle dicken Herren sind heute verschwunden.« »Aber an Krassogerontophilie glaube ich nicht«, warf der Freund ein; »sie weiß, daß dicke, alte Herren das meiste Geld haben und daß da etwas zu holen ist. Das Gegenteil von Perversität!« »Irrtum«, erklärte der Professor, »ich habe mich über sie erkundigt, die Grafen von Circe sind uralter Adel, die Güter waren früher etwas heruntergewirtschaftet, aber jetzt rentieren sie glänzend, seitdem die Gräfin sie persönlich leitet. Sie ist eine der reichsten Gutsbesitzerinnen Ungarns, fabelhafte Viehzucht, an ganz Europa liefert sie ihre berühmten schweren Mastschweine, hat sich ganz darauf spezialisiert. Außerordentlich tüchtige Frau.«

Der interessante Fall kam dem Professor erst wieder in Erinnerung, als er die schöne Gräfin in Marienbad neuerdings beobachten konnte. Hier war sie ganz in ihrem Element. Sie strahlte vor Glück, nie hatte sie so viele Dicke beisammen gehabt wie hier. Alle waren in ihrem Bann, langjährige Ehen wurden rettungslos zerstört. Nur zweien ihrer Verehrer gab sie den Laufpaß. Die waren nämlich so toll verliebt, daß sie abmagerten. Als die Gräfin bei der Waage am Brunnen die erschreckende Gewichtsabnahme der beiden festgestellt hatte, sagte sie ihnen, sie sollten sich keine Hoffnungen mehr machen. Der eine kehrte reuig zu Frau und Kindern zurück, der andere, ein bekannter Großindustrieller, hat sich erschossen. Und wieder war sie plötzlich abgereist, und bald darauf ihr fettleibiges Gefolge.

Gräfin Circe tauchte dann noch in vielen Badeorten und 23 Sportplätzen auf, überall in derselben Weise. Merkwürdig war es in Kitzbühel. Sie war eine gute Skiläuferin, aber sie machte fast keine Hochtouren, nahm sich nur auf dem Übungshügel sehr einiger alter, dicker Herren an und war immer besorgt, daß sie sich nicht zu sehr anstrengten. Besonders bemühte sie sich um die Bobmannschaft, die ja, wie immer, aus Schwergewichtlern bestand. Es gelang ihr sogar, einen unendlich fetten indischen Maharadscha, der gleichzeitig mit dem Prince of Wales dort eingetroffen war, so zu fesseln, daß er sie heiraten und zur indischen Fürstin machen wollte. »Aber erst besuchen Sie mich in Nagy Teremtem!« sagte sie ihm. Kurz danach hatte sie Kitzbühel verlassen, die dicken Herren sah man auch nicht mehr am Skiübungshügel, das Bobrennen mußte abgesagt werden, weil die gesamte Mannschaft nicht mehr vorhanden war, und auch der Maharadscha war nach Ungarn abgereist. 24

Seitdem hatte man nichts mehr von dem Maharadscha gehört, und das wäre der Gräfin beinah zum Verhängnis geworden. In den englischen Zeitungen erschienen sensationelle Artikel: »Rätselhaftes Verschwinden eines Maharadschas.« Scotland Yard, das Zentralamt der Kriminalpolizei, bekam den Fall zur Bearbeitung. Detektiv Thinley wurde nach Schloß Nagy Teremtem geschickt; man hatte in Kitzbühel leicht ermitteln können, daß der Maharadscha sich dorthin begeben wollte. Der Detektiv drahtete: »Maharadscha nicht auffindbar. Besucher verschwinden im Schloß. Schickt umgehend Captain Bellygood.« Captain Bellygood war der dickste Beamte, über den Scotland Yard verfügte, ein wahrer Koloß. Er reiste sofort nach Nagy Teremtem ab und traf dort mit Thinley zusammen. Der berichtete ihm: »Von der Dienerschaft war nichts herauszubekommen, ich konnte mich auch nur schwer mit den Leuten verständigen. Ich habe in Erfahrung gebracht, daß seit Jahren sehr viele Gäste in das gräfliche Schloß zu Besuch kommen, meistens ältere, dicke Herren. Nie hat man einen davon 25 wieder zu sehen bekommen. Das Schloß hätte keinen Platz, um solche Menschenmengen zu beherbergen. Wo kommen die Menschen hin? Der Maharadscha ist am 18. Februar eingetroffen. Es ist mir nicht gelungen, ihn aufzufinden. Ich wollte die Schloßherrin besuchen, sie ließ mich sonderbarerweise fragen, wieviel ich wiege. Da ich nur hundertsechsundvierzig Pfund wiege, wollte sie mich nicht sehen, sie empfange keine Herren unter neunzig Kilo. Deshalb habe ich Sie herbestellt, Captain Bellygood. Lassen Sie sich anmelden und sehen Sie zu, was Sie herausbringen.«

Bellygood begab sich ins Schloß. Thinley wartete vor dem Tor. Bellygood ist nicht wieder herausgekommen. Scotland Yard blieb ratlos. Gräfin Circe war eine so prominente, angesehene Persönlichkeit, daß die lokalen Behörden nicht zum Einschreiten zu bewegen waren. Thinley ließ sich nicht abschrecken. Gerade war wieder ein dicker Herr angekommen. Unter einem Vorwand machte der Detektiv seine Bekanntschaft; es war Professor Rehfeld, der sich endlich entschlossen hatte, den interessanten sexualpathologischen Fall gründlich zu studieren und der Einladung zu folgen. Er erwähnte das im Lauf des Gespräches, und Thinley fand es an der Zeit, den Professor über alles aufzuklären: »Halten Sie es für möglich, Herr Professor, daß Menschen im Schloß ermordet werden?« – »Man muß immerhin vorsichtig sein«, antwortete der nach einigem Überlegen. Sie kamen überein, daß er Thinley als seinen Diener mit ins Schloß nehmen sollte. Thinley hatte eine dafür passende Verkleidung in seinem Koffer. Die Gräfin war hocherfreut, den Gast bei sich zu sehen; den Diener wollte sie aber heimschicken, man habe so viel Personal im Schloß, daß er ganz überflüssig sei. Der Professor gab nicht nach und setzte endlich seinen Willen durch. Er hatte mit dem Detektiv ausgemacht, daß, wenn Gefahr drohe, er ihn durch einen Ton wie das Quieken eines Schweines zu Hilfe rufen würde.

Der Professor und die Gräfin nahmen den Tee in der Halle des Schlosses beim Radioklang einer Zigeunerkapelle. »Sie haben es schön hier«, bemerkte der Professor. »Ja, es ist zum Aushalten, mein lieber Professor, wollen Sie sich das Schloß ansehen? Ich habe auch schöne, alte Bilder. In meinem Schlafzimmer hängt ein berühmter Correggio.« – »Der interessiert mich sehr.« – »Möchten Sie ihn gleich anschauen?« Es war etwas ungewöhnlich, daß das Schlafzimmer unmittelbar neben der Halle gelegen war. Sie führte ihn hinein in den eleganten, mit modernem Luxus ausgestatteten Raum. Als der Professor das schöne Gemälde eine 27 Weile betrachtet hatte, hörte er ein Rascheln hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie die Gräfin die Arme verlangend um seinen Hals schlang. Dabei berührte sie seinen Hinterkopf mit einem kleinen elektrischen Kontaktapparat. Der Professor hatte ein seltsames Gefühl, als ob er sich entkleiden, sich auf den Fußboden niederlassen und auf allen vieren gehen müsse. Er konnte dem Drange nicht widerstehen. Eigentümlich benommen war es ihm dabei im Kopfe. Er fühlte, wie er, einem Tiere gleich, im Zimmer herumsprang.

Ein mächtiger Toilettenspiegel stand in einer Ecke des Zimmers. Der Professor lief auf ihn zu und erschrak, als ihm daraus ein fettes Schwein entgegenkam. Es dauerte eine Weile, bis er sich bewußt wurde, daß das sein eigenes Spiegelbild war. Die Gräfin hatte einen Gummistempel bereit, mit dem sie ihm Buchstaben und Nummern auf den Rücken druckte. Dann ging sie ans Telefon. Ein Gutsarbeiter kam mit einem Strick, um den Eber fortzuschaffen. Entsetzen packte den Professor, er wollte um Hilfe rufen, aber nichts als Grunzen und Quieken brachte er 28 heraus. Und er quiekte, daß es weithin durch das Schloß gellte. Wie gut, daß er gerade dieses Zeichen mit Thinley verabredet hatte! Der hörte es, sogar in dem entfernten Zimmer, das man ihm angewiesen hatte.

Den Browning in der Hand, stand er plötzlich im Schlafgemach. »Aha!« rief der Detektiv, »das habe ich mir gedacht.« Die Gräfin, nicht im mindesten erschrocken, näherte sich ihm mit ihrem bezauberndsten Lächeln. »Ei, ei, mein Lieber!« lispelte sie und streckte sehnsüchtig die Arme nach ihm aus, und den elektrischen Kontakt. Thinley war sich der Gefahr bewußt. »Keinen Schritt weiter! oder ich schieße Sie nieder!« rief er, indem er seine Erkennungsmarke vorwies und den Browning bereit hielt. »Und 29 Sie«, sagte er, zu dem Gutsarbeiter gewandt, »helfen mir jetzt, hier Ordnung zu machen.« Schon hatte er der Gräfin Circe die Handschellen angelegt und sie einstweilen in den Kleiderschrank gesperrt.

Der Gutsarbeiter mußte Thinley zu den weitläufigen, modern gebauten Schweineställen führen. Sie waren leer. »Vorige Woche ist gerade wieder ein großer Transport abgegangen, prachtvolle, schwere Tiere.« – »Und wo beziehen Sie die Schweine her?« fragte der Detektiv. »Darum kümmere ich mich nicht, ich muß sie immer in den Gemächern der gnädigen Gräfin abholen. Wir züchten nicht selbst. Übrigens sind zwei davon noch hier, sehr große, fette Eber.«

Man fand sie in einem eigenen, saubern Stall untergebracht, mächtige Exemplare, ein schwarzes und ein helles, die beide beim Anblick Thinleys von Unruhe und Aufregung ergriffen wurden. »Are you the Radjah?« fragte Thinley das dunkle. Seine quiekende Antwort klang wie: »I am, I am.« – »And you are Bellygood?« wandte er sich an das blonde Tier. Es grunzte: »Yes, yes, yes.« Thinley wußte genug. Er begab sich ins Schloß zurück, holte Gräfin Circe aus dem Kleiderschrank und zwang sie, immer mit vorgehaltenem Revolver, diese zwei ihrer Opfer mittels des elektrischen Kontaktapparates in Menschen zurückzuverwandeln und dafür zu sorgen, daß sie sich wieder ankleiden und von dem Schrecken erholen konnten.

Der Maharadscha beschwor Mr. Thinley, nichts an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, das Schwein sei in Indien ein unheiliges Tier, und er würde unmöglich werden, wenn man von dem Fall erführe. Auch Professor Rehfeld zog es vor, daß die Welt nicht von seiner falschen Diagnose unterrichtet werde. Sein Ruf als 30 Sexualpathologe stand auf dem Spiel. Die beiden reisten möglichst bald von dem Ort ihres furchtbaren Erlebnisses ab. Die Detektive blieben noch eine Weile dort, nahmen ein Protokoll auf und versuchten vergeblich, etwas über den Verbleib der andern Schweine zu ermitteln; denn die Gräfin Circe hatte sofort ihre sämtlichen Geschäftsbücher vernichtet. Es gelang ihnen auch nicht, von den Behörden einen Haftbefehl gegen die Gräfin zu erwirken. In Scotland Yard nahm man Thinleys und Bellygoods Bericht kopfschüttelnd entgegen und lehnte es ab, den Fall der Staatsanwaltschaft zur weitern Verfolgung zu übergeben, zumal die Vernehmung des Maharadschas die Aussagen der Detektive nicht bestätigte. Gräfin Circe blieb unbehelligt. Man hat sie in dieser Saison bereits wieder in einigen Badeorten gesehen. 31

 


 


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