Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Lusi

Frau Fabrikdirektor Arbogast hatte ein vorzügliches Dienstmädchen. Sie wurde allgemein darum beneidet. Beim Kaffeekränzchen sagte Frau Bankier Herzog zu ihr: »Was, und diese Torte hat sie auch selbst gemacht? Wenn ich so eine Perle hätte wie Ihre Lusi, Frau Direktor, ich weiß nicht, was ich darum geben würde.« – »Ja, wir sind recht zufrieden mit ihr, sie tut jede Arbeit gern, ist geschickt und fleißig und so bescheiden! Treu wie Gold und ohne Liebschaften, obgleich sie eine Schönheit ist. Allerdings hat sie auch ihre Eigenheiten. Zum Beispiel mag sie durchaus keinen Fisch essen. Und dann hat sie sich ausbedungen, jeden Freitag nachmittag will sie ganz für sich haben. Nicht etwa, um 51 auszugehen, nein, da haben wir ihr erlauben müssen, unser Bad zu benutzen, und sie bringt stundenlang darin zu. Dafür verzichtet sie ganz auf ihren Sonntagsausgang. Ich glaube, daß sie irgendeiner Sekte angehört.« – »Wir haben mal eine gehabt, die war eine Wiedertäuferin«, sagte Frau Bankier Herzog, »die war auch eine Perle. Wir hatten sie zehn Jahre, dann bekam sie den religiösen Wahnsinn. Seien Sie recht vorsichtig, Frau Direktor! Wie lange haben Sie denn Ihre Lusi schon?« – »Seit dem 5. Oktober 1929. Ich weiß das Datum noch so genau, weil es gerade der Tag war, an dem wir die Nachricht bekamen, daß unser armer Lothar mit dem Dampfer untergegangen war, Sie wissen ja, bei der Überfahrt nach Indien, schon im August.« Frau Direktor Arbogast wischte sich einige Tränen ab und fuhr fort: »Sie hatte sich auf meine Annonce gemeldet. In meinem Schmerz vergaß ich ganz, sie um ihre Zeugnisse zu fragen. Sie sagte bloß: ›Ich heiße Melusine.‹ Melusine, das ist etwas unpassend für ein Dienstmädchen, wir wollen Sie Lusi nennen, hab ich gesagt. Meine Verzweiflung war so groß, daß ich mit allen Bedingungen einverstanden war, zumal sie bloß zwanzig Mark Lohn beanspruchte. 52 Nur Ruhe wollte ich haben, um mich auszuweinen. Und Lusi war so nett zu mir, so besorgt.

Sie versuchte mich zu trösten. ›Sehen Sie, gnädige Frau‹, meinte sie, ›Ihr Sohn ist jetzt in einer glücklicheren Welt. Er hat gewollt, daß ich zu Ihnen komme und mich Ihrer annehme. Lothar ist eine gute Seele.‹ Vielleicht ist Lusi manchmal nicht ganz richtig. Mein Mann wollte sie deshalb zuerst gar nicht behalten. Sie hat sich auch eine große Fotografie meines Lothar geben lassen und hat sie in ihrem Zimmer aufgehängt. Ja, sie hat ihre Eigenheiten. Und dann, haben Sie es bemerkt? Diese dicke Perlenkette, die sie immer trägt. Ich habe ihr gesagt, daß ich es ungehörig finde, daß ein Dienstbote so auffallenden falschen Schmuck trägt. Da hat sie mich auf den Knien gebeten, sie tragen zu dürfen. Ich mußte es ihr erlauben.«

Der Arbogastsche Haushalt, von Lusi betreut, ging seinen wohlgeordneten Gang. Dann kam die große Wirtschaftskrise.

Eines Tages saß der Direktor bleich und verstört beim Mittagessen und rührte keine Speise an. Als ihn die Gattin besorgt fragte, ob er krank sei, brach er völlig zusammen und berichtete schluchzend, daß sein ganzes Vermögen bei der Sekuritas-Bank verlorengegangen war und daß sie nur mehr auf sein Direktorgehalt angewiesen seien, das aber auch infolge des Geschäftsrückgangs um fünfzig Prozent gekürzt werden solle. In der Aufregung 53 hatten sie nicht beachtet, daß Lusi jedes Wort hören konnte. Sie merkten es erst, als sie zu ihnen trat und sprach: »Ich möchte der Herrschaft so gern helfen. Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, aber verkaufen Sie das hier!«

Sie nestelte ihre Perlenkette los und legte sie auf den Tisch. Da mußten Arbogasts trotz der traurigen Lage lachen, und ihr Lachen wurde fast krampfhaft und fand kein Ende. »Aber nein, es sind wirkliche Perlen!« rief das Mädchen. Noch halb erstickt vom Lachen antwortete der Direktor: »Ja, wenn die echt wären, das wären mindestens zweihunderttausend Mark.« – »Sie sind echt! Bitte verkaufen Sie sie.« Man glaubte ihr nicht. Aber am Nachmittag gelang es ihr doch, die gnädige Frau zu überreden, daß sie mit der Perlenkette zu einem Juwelier ging. Der schätzte sie auf dreihundertfünfzigtausend Mark und übernahm sie kommissionsweise zum Verkauf.

Als Frau Arbogast ihrem Mann den merkwürdigen Fall berichtete, wurde er sehr bedenklich. Sie berieten hin und her und kamen endlich zu dem Entschluß, die Sache unter Diskretion dem Polizeidirektor, mit dem sie befreundet waren, mitzuteilen. Der versprach, ihnen einen Kriminalbeamten in Zivil zur Nachforschung zu schicken. Am nächsten Tag, es war ein Freitag, kam 54 dieser, ließ sich alles erzählen und notierte die Einzelheiten. Lusi hatte gerade ihren Badenachmittag.

Er durchsuchte ihr Zimmer und fand in der Kommode ein Kästchen voll seltsamer Muscheln. Obenauf lag ein Ring, Gold mit einem grünen Halbedelstein, in den das Arbogastsche Familienwappen eingeschnitten war. »Lothars Ring!« rief Frau Arbogast und war einer Ohnmacht nahe. »Hm, hm«, sagte der Kriminalbeamte, »wo ist das Mädchen?« Er erfuhr, daß sie im Bade sei und voraussichtlich noch einige Stunden darin zubringen werde. Man begab sich dorthin. Er klopfte wiederholt an die Tür. Nur ein Plätschern war zu hören. Es wurde nicht geöffnet. Das Badezimmer hatte aber auch ein Milchglasfenster, ziemlich hoch oben, auf den Korridor 55 hinaus. Eine Leiter war schnell beschafft. Der Beamte stieg hinauf.

Bald hatte er mit einem Glaserdiamanten eine Scheibe herausgeschnitten und steckte den Kopf durch die Öffnung. Arbogasts hörten ihn rufen: »Um Gottes willen! Was ist denn das?« Dann sprang er mit einem Satz von der Leiter herunter. Blaß und zitternd stand er da. »Ich muß sofort den Polizeirat anrufen.« – »Was haben Sie gesehen?« – »Sehen Sie selbst!« Frau Arbogast kletterte etwas beschwerlich die Leiter hinauf und blickte ins Badezimmer. Der Direktor konnte sie gerade noch auffangen, als sie in seine Arme fiel.

Schon hörte man Hupensignale von der Straße. Das Überfallkommando kam. Schutzleute erschienen in der Wohnung. Die Badezimmertür wurde aufgesprengt. In der Wanne lag Lusi, selig lächelnd. Erst als man näher hinzutrat, sah man, was war. Von den Hüften abwärts war ihr Körper ein Fischschwanz, der munter im Wasser plätscherte. Ihre Kleider lagen auf einem Stuhl. Neben den Schuhen standen zwei einzelne Frauenbeine, ganz leer, wie ausgeblasene Eierschalen. »Ein unerhörter Fall!« rief der Polizeirat. »Was soll das? Wo haben Sie die Perlen gestohlen, wo den Ring?« – »Den Ring hat mir Lothar Arbogast gegeben, als ich 56 mich auf dem Grunde des Ozeans mit ihm vermählte.

Perlen hat jedes bessere Meerweibchen, so viel es will. Wenn wir auf der Erde weilen, tragen wir sie immer bei uns, sonst verläßt uns das Glück. Und ich habe sie Lothars Eltern geschenkt.« Groß und traurig schauten ihre Augen, als die Schutzmänner sie aus dem Wasser hoben und trotz dem zappelnden Fischschwanz in Tücher einhüllten. Sie trugen sie die Treppe hinab. Auf der Straße angekommen, ließ sie langgedehnte melodische Klagelaute ertönen, entwand sich den Händen der Polizei und schwang sich über das Geländer des nahen Flusses.

Man sah sie noch wie einen sehr großen weißen Fisch unter der Oberfläche des Wassers 57 dahinschießen. Dann war sie verschwunden, und nie hat man wieder etwas von ihr gehört.

Durch den Erlös der Perlenkette gelangten Direktor Arbogasts neuerdings zu Wohlstand. In Lusis Zimmer bemerkten sie, daß Lothars Bild von der Wand gefallen war, und sein Ring war nicht mehr aufzufinden. 58

 


 


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