Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Die blaue Blume

Die Firma Pietsch und Lehmann in Leipzig war eine der größten Schmierölfabriken der Welt. Sie gehörte Herrn Kommerzienrat Pietsch, der sich von kleinen Anfängen durch Fleiß und Rücksichtslosigkeit emporgearbeitet hatte. Es war ein musterhafter Betrieb, mit den modernsten Maschinen und vorzüglich organisiert. Ein erheblicher Teil des Reingewinns wurde 10 verwendet, um den Arbeitern nette, kleine Siedlungshäuser zu bauen, unweit der Fabrik, in Reihen, eins wie das andere. Dadurch blieben sie zufrieden und arbeitsfähig.

Der Kommerzienrat selbst besaß ein prächtiges Haus im vornehmsten Villenviertel, mit einem herrlichen Garten, voll der schönsten und seltensten Gewächse. Er hatte nie Zeit gehabt zu heiraten und war allmählich zu alt geworden, um daran zu denken. Nach des Tages Geschäften saß er manchmal auf der Veranda des Hauses, spielte Karten mit seinen Freunden und trank einen guten Tropfen.

An einem schönen Sonntagvormittag hatte er den Bericht seines Gärtners entgegengenommen, dann die Morgenzeitung gelesen und war mit einer Havanna im Munde sanft entschlummert. Er träumte zuerst vom Schmieröltrust, dann von blühenden Pflanzen. Im Traum erblickte er eine wundervolle Blume, wie er sie noch nie gesehen hatte, von einem ganz eigentümlichen hellen Blau und einer sonderbaren Tulpenform. Er erwachte, weil er laut vor sich hingesagt hatte: »Die muß ich mir anschaffen.« Er holte sich die Kataloge der Pflanzenhandlungen hervor, aber er konnte diese Blume nicht darin finden. Dann ließ er durch einen Diener den Gärtner herbeirufen, beschrieb ihm die Blume genau, ja versuchte sogar, sie ihm aufzuzeichnen. Der kannte sie nicht und wußte nicht zu sagen, wie sie heißt. Den ganzen Tag ging dem Kommerzienrat die blaue Blume nicht aus dem Sinn. In der Nacht schlief er schlecht. Immerfort mußte er an die blaue Blume denken.

Am Montag früh fuhr er nicht, wie sonst immer, in die Fabrik, sondern zu einer Handelsgärtnerei. Er ließ sich dort alle blauen Blumen zeigen, soundso müßte sie aussehen.

Nein, so etwas 11 führte man nicht, kannte es gar nicht. Man riet ihm, im Botanischen Garten nachzufragen. Auch dort konnte man ihm keine Auskunft geben. Betrübt und enttäuscht fuhr er endlich ins Geschäft. Dort wartete schon der Ölmagnat van Ofterdingen aus Holland auf ihn, um einen Vertrag abzuschließen. Merkwürdig, wie zerstreut Pietsch war! Die Verhandlungen wären sonst viel günstiger verlaufen, und mitten darin fragte er, ob es wohl in Holland diese blaue Blume gebe.

Nach einer fast schlaflosen Nacht fuhr er mit van Ofterdingen im Auto nach Holland. Während der ganzen Fahrt blieb er in dumpfes Sinnen versunken. Offenbar war er mit dem Verlauf der 12 Verhandlung nicht zufrieden, und van Ofterdingen hielt es für einen besonders feinen Trick, daß Pietsch kein Wort über Ölangelegenheiten sprach. Wenn es einmal gelang, ihn zum Reden zu bringen, sprach er nur von der blauen Blume. Ja, Pietsch war schlau. Aber sonderbar, in Holland angekommen, hatte er es so eilig, den Vertrag zu unterzeichnen, daß er zu allem bereit war.

Was hatte er nur vor, daß er alle Gärtnereien besuchte?

Zwei Wochen hielt er sich in Holland auf und kam zu der Erkenntnis, daß auch dort die blaue Blume nicht zu finden sei: »Vielleicht auf Java«, vertröstete man ihn.

Kommerzienrat Pietsch schrieb an seinen Prokuristen um eine größere Geldsumme und bestimmte, was im Geschäft zu geschehen habe. Dann kaufte er sich Tropenkleidung und fuhr mit dem nächsten Dampfer nach Batavia. Es war furchtbar heiß dort, und manchmal dachte er wehmütig an die schönen Abende vor seinem Haus bei Karten und eisgekühltem Moselwein. Aber mit der Tatkraft, die ihn immer ausgezeichnet hatte, ging er seinem Ziele nach.

Da ihm niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, wo die blaue Blume zu finden sei, mietete er sich Eingeborene, die ihn in die 13 Urwälder führten. Es war eine wohlausgestattete Expedition.

Einmal glaubte er die blaue Blume durch das dichte Laub der Tropenpflanzen schimmern zu sehen. Er trieb die Boys an, vorwärts zu eilen. Da ertönte Krachen im Gezweig der Büsche und ein riesiger Tiger stürzte hervor. Er schleppte einen der Träger fort. Der schrie fürchterlich, und man feuerte Schüsse ab. Pietsch ließ sich durch den Schrecken nicht aufhalten. Als er näher kam, fand er zwar eine prachtvolle Orchidee, aber die blaue Blume war es nicht. Monatelang durchstreifte er das Innere Javas unter unendlichen Mühen, bis er sich überzeugte, daß die blaue Blume dort nicht zu finden sei. Er litt an einer schweren Malaria und lag lange Zeit im Hospital. Als er wieder genesen war, fragte ihn der Arzt, was das für eine Blume sei, von der er in seinen 14 Fieberphantasien immer gesprochen habe. Pietsch gab ihm Auskunft, und der Arzt erzählte ihm, daß gerade so eine Blume auf den Hängen des Himalajagebirges wachse.

Wieder bestellte sich der Kommerzienrat Geld von zu Hause und gab dem Geschäft briefliche Direktiven. Dann fuhr er nach Indien und rüstete eine Himalaja-Expedition aus.

Sie dauerte fast ein Jahr lang, führte durch wilde, unerforschte Berge bis zu steilen Schneegipfeln, in Schrecknisse und Gefahren. Aber von der blauen Blume erblickte man keine Spur.

Fünfundzwanzig Kilo hatte der Kommerzienrat an Gewicht verloren, seine Gesichtszüge waren faltig und vergrämt geworden. Zudem hatte er durch den Tritt eines wütenden Elefanten für immer einen verkrüppelten, hinkenden Fuß bekommen.

Ein Fakir weissagte ihm, er werde in einem tibetanischen Klostergarten die blaue Blume antreffen, und dorthin machte er sich auf den Weg. 15

Von Zeit zu Zeit ließ er sich Geld aus der Heimat kommen. Sonst hörte man dort wenig von ihm. An seine Fabrikleitung schrieb er immer seltener. Er dachte fast nie mehr an Schmieröl. Wenn er nur erst die blaue Blume gefunden hatte, dann würde er sofort zurückkehren, um alles nachzuholen. Aber auch auf den Hochebenen Tibets fand er nicht, was er suchte. Die Mönche erklärten ihm, nirgends in ganz Asien gebe es diese Blume. Sie sei bestimmt in Brasilien in einigen Exemplaren vorhanden. Es war eine weite Reise von Tibet nach Valparaiso. Pietsch unternahm sie ohne Zögern.

In den Wäldern des Gran Chaco wäre er fast den Kopfjägern zum Opfer gefallen. Unendliche Strapazen mußte er ertragen. Chile und Mexiko durchstreifte er dann noch, immer in der Hoffnung, am nächsten Tage werde er die blaue Blume entdecken.

Amerika war eine Enttäuschung. Er dachte daran, nun Afrika zu durchsuchen. Vielleicht am Kongo . . .?

Kommerzienrat Pietsch war nun schon ein müder Greis, aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Wieder wollte er sich Geld schicken lassen. Da traf ihn die Nachricht, daß er keins mehr haben könne. Durch seine dauernde Abwesenheit sei die Firma Pietsch und Lehmann insolvent geworden; van Ofterdingen habe sie übernommen. Pietsch besitze kein Guthaben mehr. Mit seinem letzten Geld fuhr er als Zwischendeckpassagier nach Hamburg. Er besaß nicht einen Pfennig, als er von Bord ging, und so beschloß er, zu Fuß nach Leipzig zu wandern; denn frühere Hamburger Geschäftsfreunde, die er aufsuchte, glaubten ihm nicht, daß er der Kommerzienrat Pietsch sei, wiesen ihn ab und drohten mit der Polizei. Es fiel ihm schwer, mit seinem lahmen Bein zu 16 marschieren. Schwer war es ihm auch, als er zum erstenmal Menschen um eine milde Gabe ansprechen mußte. So bettelte er sich durch und unterschied sich bald in nichts mehr von irgendeinem Landstreicher, der unter Brücken übernachtete und keinen ganzen Fetzen am Leibe hatte. Aber heimlich hielt er immer noch Umschau, ob er die blaue Blume nicht irgendwo sehen würde.

Es war Frühsommer, als er endlich in der Heimat anlangte. Er humpelte hinaus zu der Fabrik, die einmal ihm gehört hatte, und wollte dort eine Unterstützung erbitten. Gerade war Feierabend, und Arbeiter und Angestellte verließen in dichten Scharen das Gebäude, meist junge Leute, er erinnerte sich an keins der Gesichter. Nur ein älterer Mann war dabei, den er sogleich erkannte. Der war ein tüchtiger Vorarbeiter gewesen, und der Kommerzienrat hatte oft mit ihm in Angelegenheiten des Betriebes oder der Arbeiterwohlfahrt verhandelt. Er konnte sich nicht enthalten, ihn anzureden. »Guten Abend, Eichhorn, wie geht's 17 Ihnen?« Eichhorn schaute ihn fragend und etwas verächtlich an. »Ich bin Kommerzienrat Pietsch.« Eichhorn traf es wie ein Blitzschlag, war das wirklich Pietsch? Tränen traten ihm in die Augen, er konnte nur sagen: »Sie, Herr Kommerzienrat? So geht es Ihnen jetzt? Bitte, kommen Sie mit mir.« Sie gingen zusammen nach den Arbeiterhäusern. In abgerissenen Worten berichtete Pietsch von seinem Leben. »Wollen Sie bei mir bleiben, immer?« fragte Eichhorn. »Die Wohnung ist uns zu groß geworden, seitdem unsere Kinder erwachsen und ausgeflogen sind.« Durch das wohlgepflegte Gärtchen gingen sie auf das saubere Siedlungshaus zu. Da, auf einem der kleinen Beete erblickte Pietsch etwas, das sein Herz fast zum Zerspringen brachte. »Die blaue Blume!« rief er, »hier ist sie, die blaue Blume! Endlich!«

Er kniete vor ihr nieder und küßte sie inbrünstig. 18

 


 


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