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14

Willatz kommt heim.

Er ist groß und vornehm, trägt Gamaschen, grauen Anzug, englisch. Als die Mutter diesen großen Jungen, der ihr Sohn war, wiedersah, wurde sie stark bewegt: die Zahl der Jahre, seitdem er geboren, mußte inzwischen ziemlich groß geworden sein, auch auf sie mußten die Jahre gewirkt haben, sie war alt geworden – wie das fremd und wunderlich für sie war! Gott helfe mir, ich glaube gar, der Junge fängt an einen Schnurrbart zu bekommen! dachte sie. Diese Mutter ging wirklich mehrere Tage umher und sah mit Unwillen, daß ihr Sohn um die Wangen schon den ersten Flaum bekam.

Er hatte sich zu seiner Gesellschaft einen anderen jungen Herrn mitgebracht, einen guten Bekannten aus den Kinderjahren, Anton Coldevin, Konsul Fredriks Sohn. Jung-Anton hatte nun seit mehreren Jahren die Schule in Saint-Cyr besucht, genauso wie seinerzeit sein Vater, er erhielt eine kaufmännische Ausbildung und sollte später in das Geschäft seines Vaters eintreten.

Jetzt war endlich wieder ein Coldevin nach Segelfoß gekommen, Konsul Fredrik ließ sich durch einen fast erwachsenen Sohn vertreten. O Gott, wie viele Jahre mußten hingegangen sein, Frau Adelheid betrachtete mit gleichem Unwillen Jung-Antons fürchterliche Länge wie die ihres eigenen Sohnes.

Die beiden jungen Menschen hatten im übrigen keine große Ähnlichkeit miteinander, obwohl sie Freunde waren; wenn der eine dies wollte, wollte der andere jenes, eigenwillig waren sie beide. Anton stöberte überall herum, in der Mühle, auf der Brücke, oben bei Holmengraas, rund in allen Hütten der Häuslerleute; Willatz begleitete ihn dann und wann wohl aus Höflichkeit, aber er war englisch genug geworden, um lieber stundenlang hartnäckig und blödsinnig dazustehen und im Fluß Forellen zu angeln. Eine Mischung aus allem möglichen war Willatz, er konnte auch Klavier spielen und mit seiner Mutter singen und mit seinem Vater ein erwachsenes Gespräch führen. Er brachte in aller Stille auch einige eigene Kompositionen mit, Romanzen, Kleinigkeiten – ja, war es nicht so, wie die Mutter schon immer gesagt hatte, daß er ein Genie sei, ein Christnachtkind? Sie sang diese Kindermusik und hob sie zu Himmel und Paradies empor mit ihrem wundervollen Halbsopran. Sie vergaß, daß er ihr über den Kopf gewachsen war und sie alt gemacht hatte, sie und er waren Freunde, dann und wann nahm sie ihn mit zu Holmengraas, um den Flügel zu prüfen und die Kinder zu treffen.

Die beiden kleinen Indianer waren jetzt lang aufgeschossen und sahen merkwürdig aus, sie waren so schwarzhaarig und gelb, und ihre braunen Augen glühten. Wahrhaftig, sie schienen noch indianischer zu sein, als der Vater gesagt hatte; auch war da an Marianes Gang etwas Gleitendes wie bei einer Wilden, und sie hatte faule Hände, die verwandt waren mit jenem Müßiggängervolk, von dem sie abstammte. Jung-Willatz staunte über sie und begann nach kurzer Zeit, sich in sie zu verlieben.

Das war ein höchst eigenartiger Zustand! Als sei er durchtränkt von Seligkeit; es machte ihn matt, er bekam Stiche und empfand sie wie etwas Süßes. Sie ihrerseits war gewiß schon weiter gekommen; dies dreizehnjährige Kind streichelte ihm über die Weste und stand da und sah ihn an. Hatte das nun einen Sinn! Sie lächelten einander an und erröteten bis zu den Haarwurzeln, puterrot; er küßte sie ein wenig und traf beinahe nicht, aber er hatte einen Duft im Munde verspürt, und der war wunderbar. Oh, welch eine peinliche Verlegenheit ihm seine Dreistigkeit nachher verursachte, Herrgott, er hätte vergehen mögen, er hätte in die Erde sinken können! Er konnte sie nicht loslassen, er hielt sie fest und versteckte sich, sie versteckten sich, eines beim andern, jedes die Nase dem andern im Nacken. Jetzt hieß es loslassen und dem Blicke des andern begegnen – unmöglich. Nein, sich in die Augen sehen nach diesem Ereignis? Unmöglich. Wäre es wenigstens dunkel gewesen! Gab es denn gar keine Rettung? Da geht ein Mann unten auf dem Weg, wie ich sehe, sagt er. Wo? fragt sie und wendet sich etwas um. – Da unten, er trägt etwas. Ja, er trägt einen Sack. Siehst du nicht, daß es ein Sack ist? Dabei sind sie voneinander geglitten. Was für einen mächtigen Hahn ihr habt, sagt er und sieht sie immer noch nicht an. Oh, dazu würde noch lange Zeit nötig sein, bis sie sich wieder ansehen könnten. Aber was den Hahn anging, so fragt sie und guckt überall hin, nur nicht auf ihn: Wo ist er? Da muß Willatz denn antworten, daß er ihn nur tags zuvor gesehen hätte, aber es sei ein großer Hahn. Ja, und so schön! sagt Mariane; sein Kamm steht gerade empor, nicht bei allen Hähnen steht der Kamm so gerade, sagt Mariane.

Aber jetzt kam Felix, und so waren sie gerettet – für dieses Mal. Das war eine Zeit, schön und übernatürlich! Wenn Willatz jetzt sein Pferd ritt, so handelte es sich nicht mehr darum, von den Hütten am Wege gesehen zu werden, er ritt den langen Weg einzig und allein, um im Sattel sitzen und zu Marianes Haus und Garten hinaufsehen zu können. Milde Sommerzeit und leuchtende Augen! Er lebte in einer Welt von Süße und Schamhaftigkeit, es trieb ihn in die Wälder, auf die Berge und wieder zurück nach den Häusern, auf Wanderungen ohne Ziel. Wo lag er heute nacht? Wo konnte man nachts liegen! Im Gras, im Heu, in einer Kinderschaukel im Garten, überall, überall nur eine kurze Weile, mitunter sogar im Bett, angezogen, zusammengekrümmt, todmatt. – Das war eine Zeit!

Und wie zerrissen und unruhig er wurde, ohne Ruhe, irgend etwas zustande zu bringen. Stundenlanges Fischen im Fluß? Schluß damit; vielleicht hatte er sich auch etwas aufgespielt und sich englischer gemacht, als er war, als er dieses langweilige Zeug trieb. Gottfred war ihm in dieser Zeit ein treuer Gesellschafter; der hatte ein geduldiges Ohr und konnte Anteil nehmen an eines Mannes Schicksalsschlägen. Pauline? na ja, jaja. Auch Pauline war fein ausstaffiert mit Kleidern, genau wie der Bruder, und war feines Essen gewohnt und hatte eine gesunde Hautfarbe bekommen wie er. Aber sie war und blieb blumenhaft, mit niedergeschlagenen Augen, sie fragte ihn nicht einmal, wie viel die Uhr sei, so daß er ihr seine Uhr nicht zeigen konnte. Aber Gottfred fragte doch wenigstens in aller Zutraulichkeit nach England, so daß Willatz erzählen konnte; und der kleine Gottfred hatte, weiß Gott, schon etwas Französisch gelernt, er war also durchaus kein Nichts.

Ich sah Anton wieder zu Holmengraas gehen, bemerkte Willatz gleichgültig.

So? antwortet Gottfred.

Er war auch gestern da. Ich verstehe nicht, weshalb er jeden Tag dahin läuft; Mariane hat selbst gesagt, daß sie sich nichts aus ihm macht.

Na ja, so will er wohl Felix treffen.

Ja, aber ich habe gesehen, daß er jetzt gerade Mariane traf. Jetzt vor einer halben Stunde. Und sie sind sicher hinterm Hühnerhaus.

Ich werde nachsehen, wenn du willst.

Nein, meinst du etwa, ich mache mir etwas daraus! Laß die nur! Was ich noch sagen wollte, Bella ist hübsch gebaut, findest du nicht?

Ja, und sie ist so fromm, antwortet Gottfred und erzählt von seinen Besuchen bei ihr. Sie steht so still, wenn ich ihr die Hufe wasche, und dreht sich um und sieht mir nach, wenn ich weggehe.

Willatz hört nicht zu, er ist wohl mit etwas anderem beschäftigt und fragt plötzlich:

Kannst du schweigen?

Schweigen?

Kannst du stumm sein wie ein Grab? Wenn du das kannst, so möchte ich dich um einen großen Dienst bitten.

Ja, ja, antwortet Gottfred gehorsam.

Aber du sollst nicht ja sagen, wenn du es nicht halten kannst. Denn es ist eine wichtige Sache. Nämlich diesen Brief abliefern.

Ja, das werde ich.

Und ihn persönlich ihr geben. Du siehst, wessen Name darauf steht? – Ja.

Aber hier gilt es, schnell zu sein, und das Wichtigste ist: – Verschwiegenheit. Nein, schnell, sage ich, das meinte ich ja gar nicht, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen wollte, ich habe es ganz vergessen. Also Gottfred, du verstehst mich, hier kommt es darauf an; und wenn Anton da ist, so blinzelst du ihr zu, daß sie ihn fortschicken soll.

Ja.

Aber du darfst auf keinen Fall Anton etwas davon merken lassen.

Nein.

Gottfred blieb ungeheuer lange fort, es dauerte endlos, und Willatz mußte ihm entgegengehen. Er traf ihn unten an der Brücke; Gottfred hatte sich vorsichtshalber unter einen der Büsche dort gelegt, er zog einen Brief hervor.

Hast du ihn ihr nicht geben können? fragte Willatz ängstlich.

Doch ja. Und diesen sollte ich dir bringen, dir persönlich, bat sie mich.

Antwort – sie sandte eine Antwort! Gottfred war großartig!

Sie gehen heim, Willatz wäre am liebsten gelaufen, aber das ging nicht an. Was wohl in dem Brief stand?

Ich habe einen Spazierstock zu Hause, den sollst du bekommen, sagte er. Weißt du, was in dem Brief steht?

Nein.

Na, ja, mag in Gottes Namen drin stehen, was will. Hast du Anton gesehen?

Nein, er war schon weggegangen.

Willatz eilt hinauf in seine Stube, bleibt dort einen Augenblick oder zwei, kommt dann bebend vor Entzücken wieder heruntergesprungen, überirdisch, findet Gottfred und gibt ihm den Stock. – Nein, danke, das sollst du nicht tun! Doch, red' keinen Unsinn! – Er eilt wieder hinauf in die Stube, bleibt eine längere Weile fort, kommt singend die Treppe herunter, bleibt draußen auf dem Hof stehen und sieht sich um, kehrt um und wandert die Treppe wieder hinauf. Dies ist das dritte Mal, und es sieht so aus, als wenn er jetzt vorhabe, sich mit einigen schweren Schulaufgaben oder dergleichen einzuschließen. Nach einer halben Stunde hat er wohl genug gelernt, er zeigt sich wieder auf der Treppe und kommt die Stufen herunter. Was soll er sich vornehmen? Er ist jetzt ruhig und etwas schlaff, seine Mutter trifft ihn auf der Diele, sie will ein bißchen spazierengehen, Mutter und Sohn wechseln ein paar Worte, sie bittet ihn, nicht mitzukommen. Er hört seinen Vater drinnen in seiner Stube auf und nieder wandern – der gute Vater, ein Kamerad und Gentleman –

Willatz klopft an und tritt bei ihm ein.

Angelst du nicht? fragt der Vater. Anton ist gewiß den Fluß hinaufgegangen.

Ja, das ist er wohl. Nein, ich hatte keine Lust dazu. – Aber wie grau du doch geworden bist, Vater.

Der Vater stutzt.

Grau? Ach, nicht besonders. Wo ist deine Mutter? Wollt ihr nicht spielen?

Ja, nachher. Das letzte, was wir sangen, war ein englischer Text, aber mit norwegischer Musik, konntest du das hören?

Ja. Sehr schön.

Ich wollte es dir ja eigentlich nicht sagen, aber – die Musik war von mir.

Der Vater wunderte sich noch mehr.

Willatz – sag einmal, außerordentlich schön, ich hörte es hier drinnen. Du hast also selbst –? So. Weiß deine Mutter das?

Ja.

Musik ist freilich etwas Schönes, das ist schon wahr. Was sagt deine Mutter dazu?

Sie meint, es sei schön.

Der Vater sagte plötzlich:

Hast du einmal darüber nachgedacht, was du werden willst, mein Freund?

Pause.

Künstler oder Marineoffizier? Man muß sich zu etwas Bestimmtem entschließen, ich sage das nicht, um dich zu drängen, aber es ist für euch selbst das beste. Musik ist ja nur Gesang und Spiel. Aber das war ganz besonders schön – ich ging hier drinnen auf und ab, hörte zu … Fand deine Mutter das auch?

Ja.

Der Vater gibt sich eine entschlossene Miene und sagt:

Also, Musik, das ist das eine, Ernst aber das andere; sind wir uns nicht darüber einig? Fass' einen starken Entschluß, so können wir darüber sprechen. Ich habe nichts dagegen, daß du Bildhauer oder Maler wirst, unsere Familie soll vielleicht einmal solch einen Ausschlag machen, ich weiß es nicht. Denk darüber nach und sag mir bei Gelegenheit deine Meinung.

Willatz erreichte also einen Aufschub und war froh. Aber er mußte darauf gefaßt sein, daß diese Frage bald wieder gestellt werden könnte; ob es also nicht das beste wäre – jetzt schon eine Andeutung zu machen?

Ja, es ist wohl deine Ansicht, daß ich die Schule in Harrow ganz durchmachen soll? fragte er.

Gott weiß, ob sein Vater das wirklich gemeint hatte, ob dieser ergraute, alternde Herr, der da in der Stube auf und ab ging, das ganz und gar mit sich abgemacht hatte, Gott weiß es. Aber er antwortete sofort:

Die Schule ganz durchmachen? Selbstverständlich – wenn du willst. So, du hast nun die Zeit vor dir, du kannst dir also überlegen, was du werden willst. – Jawohl, mach du nur die Schule ganz durch.

Oh, so war das aber nicht gemeint gewesen. Willatz hatte keinen größeren Wunsch, als die Schule in Harrow zu verlassen, sie war ihm weiter nichts als eine unsagbare Pein, sie hielt ihn auf. Hier mußte die Mutter ihm helfen, kommt Zeit, kommt Rat, der Vater war ja auch ein famoser Mensch, und Mariane war entzückend –. Ich könnte dir diese Lieder noch einmal vorspielen, wenn du es möchtest? sagte er.

Jetzt? O nein, danke, warte bis deine Mutter kommt, ich habe gerade etwas zu tun. Aber Dank für die gute Absicht.

Dazu nickte er, und Willatz ging.

Der Leutnant war wieder ungestört, aber das, was er jetzt zu tun hatte, schien nichts weiter zu sein, als wieder auf und ab zu gehen. Die Schule ganz durchmachen? Diese Schule in Harrow wurde etwas rätselhaft, der Fall mußte untersucht werden. War das eine Universität? Jahr für Jahr auf einer feinen Schule in Harrow – wollte der Junge dort eigentlich bleiben? Das beste wäre, er schriebe einmal an Xavier Moore, er beredete die Sache einmal mit Adelheid.

Er klingelt und fragt, ob die gnädige Frau ausgegangen sei?

Ja, Gottfred hatte die gnädige Frau zu Holmengraas hinübergehen sehen.

Melde mir, wenn sie zurückkommt.

Er wartet lange, eine Stunde, jawohl, Adelheid vergaß alles am Flügel! Nach zwei Stunden kam sie endlich. Was – hatte sie geweint? Sie war merkwürdig freundlich, demütig; das wunderte ihn, und er fragte: Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?

Mir? Warum? Nein, ich wüßte nicht, danke.

Sie sprachen von Willatz, Adelheid sammelte sich und führte ausgezeichnete Gründe an: es sei unsinnig, ihn noch länger auf der Schule in Harrow zu lassen; sie sei fein und teuer, ausgesucht, aber das sei alles.

Das spielt keine Rolle. Er ist unser Einziger!

Aber die Schule habe jetzt keinen Zweck mehr, der Junge tue ja nichts als musizieren.

Das mit der Musik war ja etwas, was er von der Mutter als Erbe bekommen hatte, das hatte nichts mit dem Holmsenschen Blut zu tun – der Leutnant konnte deshalb eine etwas höhnische Bemerkung machen, ohne dabei ungerecht zu sein.

Aber Adelheid – was ging heute abend in ihr vor? In früheren Tagen würde sie ihm mit gleicher Münze heimgezahlt haben, aber jetzt wurde sie nur noch demütiger und sagte bittend: O nein, sagen Sie das nicht, er ist nun einmal so, so durch und durch musikalisch. Sie sollten nur wissen – ich wage nicht, es Ihnen zu erzählen –

Daß er Lieder komponiert hat? Er hat mir das selbst gesagt.

Gott sei gelobt, das war auch das richtige. Oh, der Junge – nichts als Melodie, ich versichere Ihnen, ich singe seine Lieder mit der größten Freude. Sie haben es wohl gestern nicht gehört?

Ich hörte es gestern, als ich in meiner Stube auf und ab ging. Ich habe es schon seit einigen Tagen gehört.

Ja, was sagen Sie dazu?

Ihr Gesang ist ja immer schön.

Finden Sie? Aber die Melodie ist wirklich so musikalisch; er ist kein gewöhnlicher Junge, das, bitte ich Sie, dürfen Sie nicht vergessen.

Der Leutnant glaubte ja selbst, daß sein Sohn etwas Außergewöhnliches war; hatte er etwas anderes gesagt? Seine Mutter war ja auch keine gewöhnliche Dame – kurz gesagt.

Hm. Ich habe nichts dagegen, daß ich daran erinnert werde.

Obwohl es überflüssig ist.

Verzeihung!

Noch mehr Demut, noch mehr Sanftmut; wozu das? Der Leutnant erkannte klar, daß sie etwas erlebt hatte, sonst würde sie nicht so verändert sein. Es war ihm nicht unangenehm, daß sie ihm Respekt zeigte, sie hatte außerdem recht darin, daß die Schule in Harrow die reinste Ausbeuterei war. Da stand nun Adelheid und war in die Jahre gekommen, aber doch noch wie unbenutzt, wie unverbraucht; nach solch einer Säule konnte man lange suchen. Hm. Und für dies eine Mal beschließt er, mit seiner Frau gegen seinen Sohn Partei zu nehmen, er wollte seine Macht zeigen und gerade gegen Willatz entscheiden. Das würde ihm vielleicht gut tun.

Ich dachte daran, an Xavier Moore zu schreiben, sagte er, aber das ist ja jetzt nicht mehr nötig. Willatz verläßt also Harrow. Aber was soll nach Ihrer Meinung dann geschehen?

Was ich meine? Ich will bei Ihnen ein gutes Wort für ihn einlegen, sagte sie.

Was für ein Ton! Der Leutnant sagt:

Wollen Sie Willatz darauf vorbereiten, Adelheid, daß ich aus Gründen, die ich erst jetzt erfahre, mich seiner Rückkehr nach Harrow widersetzen muß?

Ja. Und er wird nicht enttäuscht sein, er wird Ihnen sogar danken.

Besser und besser, alles drehte sich im Kreise, das einzige, was jetzt stille stand, war des Leutnants Verstand. Nein, Mutter und Sohn gegen sich zu haben! Womit sollte das enden? Damit, daß Willatz nach Deutschland sollte. Er sollte einst ein so großer Musiker werden, wie es seine Gaben nur erlaubten, damit endete es.

Auf Ihre Verantwortung, hatte der Leutnant gesagt. Er ist unser Einziger, aber hierin sind Sie sachverständig, also auf Ihre Verantwortung!

Sie machte eine Bewegung, einen Schritt vorwärts, als wollte sie die Hand ausstrecken, aber sie hielt inne. Das war schön von ihr und es wirkte auf ihn, wie sie ihm mit einer mädchenhaften Bewegung einen Augenblick lang völlig entgegenkam.

Danke, dann wird alles gut werden, sagte sie, gut für ihn und unverdient gut für mich.

Und sie spielten und sangen diesen Abend.

Ein paar Tage später war Willatz der Fürsprecher der Mutter beim Leutnant. Dies war ein so ungewöhnlicher Vorgang, es mußte etwas dahinter stecken: Adelheid wünschte ihren Sohn nach Berlin zu begleiten.

Damit, daß sie sich eines Unterhändlers bediente, wollte sie es gewiß umgehen, ihm näheren Bescheid zu geben, daran war nicht zu zweifeln. Der Leutnant fragte seinen Sohn:

Hast du deine Mutter richtig verstanden?

Ja.

Sag ihr, hätte ich sie nicht schonen wollen, so würde ich selbst sie gebeten haben, mitzureisen; aus verschiedenen Gründen. Sie versteht etwas von den Sachen, jawohl, und sie kann dir da am meisten nützen.

Willatz fühlte plötzlich eine Flut von Wehmut in sich aufsteigen, er mußte sich mit Gewalt zusammennehmen. War das Liebe, war das Mitleid? Etwas Graues und Armseliges war über den Vater gekommen, etwas Verlassenes; wie sorgenschwer das war!

Als Willatz wieder zu sprechen vermochte, sagte er: Ja, aber ein andermal müssen wir beide zusammen reisen, Vater, du und ich. Es war so nett, mit dir zu reisen.

Natürlich, nickte der Vater, ein andermal. Aber geh jetzt und sag es deiner Mutter. Und sage, ich sei darüber nicht im Zweifel, daß es hier zu Hause schlecht gehen werde, während sie fort ist. Aber dagegen ist nichts zu machen. Wann wollt ihr reisen?

Anton will in allernächster Zeit reisen.

Anton. Aber du und deine Mutter?

Mutter meint auch, möglichst bald.

Bald?

Mutter sagt, beim Musikstudium gebe es keine Ferien.

Pause.

Gut, hierin ist sie sachverständig.

Jung-Willatz hatte nicht vorgehabt, diesmal mit Julius zusammenzutreffen. Gottfred hatte ihm ja von dem Schelmenstück mit dem Federmesser erzählt, und das hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Julius war des öfteren oben beim Hof gewesen, hatte herumgestanden und herumgespäht, wie es seine Gewohnheit war, er hatte auch Gottfred gebeten, einen Gruß zu bestellen, aber Willatz war nicht gekommen. Julius konnte das nicht verstehen, sie waren doch so gute Freunde – und, geradeheraus gesagt, er war doch auch der Bruder eines Mannes, der bald ein ausgelernter Pastor war.

Übrigens war Julius nicht schlimmer geworden, als er gewesen war, im Gegenteil, in seiner Art sogar bedeutender: ein Pferd bei der Arbeit, wenn er wollte, und den Eltern daheim in der Hütte ganz und gar überlegen an Körperkraft, falls Uneinigkeiten vorkamen. Das sagte Gottfred auch, und er hatte es von Julius selbst gehört. Begabt war er immer schon gewesen, viel mehr als der Bruder, wenn er sich auch nichts aus den Büchern machte, er hatte nur keine Gelegenheit gehabt, seine Begabung zu beweisen. Oder wie – ging er vielleicht daheim in der Hütte herum und hörte nichts und sah nichts? Seine Verstandeskraft wurde zu Aufgaben verwendet, wie etwa: einen Salzwasserfisch von einem Süßwasserfisch und einen Bock von einer Ziege zu unterscheiden. Aber Julius war in der letzten Zeit ein ganz anderer Kerl geworden, er war beim Lofotfischfang gewesen, zwei Winter lang, und war oft bei Herrn Holmengraa in Arbeit. Julius war auch gut Freund mit Felix geworden, der in fröhlicher Unwissenheit und im Bücherhaß ganz sein Gesinnungsgenosse war. Felix war der reine Heide.

Eines schönen Tages wandern Willatz und Anton die Landstraße entlang, und Julius steht vor seiner Hütte. Daß auch Felix in der Nähe ist, daran ist kein Zweifel, man hört ihn irgendwo unten bei den kleinen Häusern pfeifen.

Die beiden jungen Herren nicken guten Tag und wollen vorübergehen.

Aber nun hatte Julius sicher gedacht, daß eben diese jungen Herren endlich gekommen seien, um ihn zu treffen – weshalb sollten sie wohl sonst gerade diesen Weg gegangen sein –, und aus dem Grunde hatte er sich vor seiner Hütte aufgestellt.

Was ist das – kennst du mich nicht, Willatz? fragt er.

Doch! antwortet Willatz.

Ja, kommst du nicht zu mir?

Nein, antwortet Willatz verwundert.

Worauf Julius es sehr krumm nimmt, daß die beiden Herren so unrichtige Absichten haben, und sagt:

Na, denn nicht. Ja, ja.

Aber inzwischen waren die jungen Herren stehengeblieben, und Anton platzte mit einem Gelächter los. Na, und Julius stand doch nicht da, um sich auslachen zu lassen? Keinesfalls! Groß und schwer war er, auch seine Augenbrauen hatten sich wieder gut herausgemacht, und außerdem besaß er ein paar ordentliche Fäuste.

Was steht dieser Schafskopf da und grinst? fragt er.

Nun war aber doch Anton Coldevin seinerseits ein Mann, der sich mehr als einmal mit den Kadetten in Saint-Cyr gemessen hatte; es ging also nicht an, daß man ihn einen Schafskopf nannte.

Willst du vielleicht ein paar runtergehauen haben? sagte er.

Nun hätte Julius wohl gewiß nicht zwei Schritte rückwärts machen, sondern im Gegenteil etwas vorgehen sollen! Aber wozu so etwas? Wer hatte ihn jemals zum Mutigsein aufgefordert, oder wer hatte so etwas anerkannt, wenn er es bewiesen hatte? Er stand da und mußte ja schandenhalber zu verstehen geben, was das anginge, so habe er keine Angst, ein paar runtergehauen zu bekommen; aber sein Gesicht war merkwürdig schmal und verkniffen geworden.

Pause.

Im Prinzip hatte Willatz nichts gegen eine nette kleine Prügelei, aber es ging nicht an, hier mitten auf der Landstraße. Nein, haltet den Mund, Jungen! sagte er. Felix kam angewandert, der kleine Indianer; oh, wie interessiert er sofort war, es verstand sich, daß Julius' Sache auch die seine war. Er glitt ruhig zwischen den Gegnern durch und sah Anton mit funkelnden Augen an. Dieser kleine Teufel konnte gewiß recht gefährlich werden. Willatz mußte viele Worte verlieren und schließlich damit drohen, daß er seiner Wege gehen würde, bis er endlich Anton überredet hatte, mitzukommen. Aber da schwoll Julius' Mut mächtig an:

Komm doch wieder! schrie er. Ho, er wurde ein Riese, ein Held, er spuckte Tabak, daß es Blasen trieb, und dieser Pastorenbruder gebrauchte kräftigere und immer kräftigere Redensarten: Ich hab da oben Kvaenen einander prügeln sehen, sagte er, komm nur wieder! Glaubst du, ich habe Angst vor dir? Ich will dir das Fell gehörig gerben. Ich werde Knopflöcher aus dir machen, von oben bis unten.

Und Felix stieß kleine Schreie aus, zum Zeichen, daß er Julius' Vorhaben billigte.


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