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13

Jetzt geht es lawinenartig. Es vergehen Monate, es vergehen Jahre, aber sie vergehen nicht mit gleichförmigen, kaltblütigen Kleinigkeiten, wie Monate und Jahre sonst zu vergehen pflegen, sondern lawinenartig, mit kleinen und großen Stürzen. Segelfoß und die Umgegend haben sich seit der Regierungszeit des Leutnants so verändert, daß sie nicht wieder zu erkennen sind – es war eigentlich nichts untergegangen, aber alles hatte sein Aussehen und seinen Charakter verändert, und alles änderte sich noch immer, Menschen und Dinge.

Seht nur, die Coldevins, sie kamen nie mehr. Kommen sie auch dieses Jahr nicht? konnte Frau Adelheid fragen. Nein, auch in diesem Jahre nicht. Und sie wartete noch einen Sommer und noch einen Winter und fragte wieder:

Es ist doch sonderbar, daß keiner von ihnen kommt. Kommt denn nicht einer von ihnen?

Keiner, antwortet der Leutnant. Fredrik schreibt, die Eltern seien alt geworden und blieben am liebsten zu Hause. Er bittet mich, Sie zu grüßen.

Und Fredriks Frau, die Kinder?

Von denen schreibt er nichts.

Frau Adelheid läßt eine Stecknadel zu Boden fallen, braucht unendlich lange, um sie aufzuheben, und fragt dabei:

Und Fredrik selbst?

Er hat keine Zeit … Haben Sie eine Nadel verloren? Darf ich Ihnen helfen?

Danke, ich habe sie schon wieder.

Nein, alles hatte sich verändert, sogar die Coldevins. Sie kamen nicht mehr. Und alles veränderte sich noch immer mehr.

War nicht sogar die Rede davon, das Dorf Segelfoß zu einem eigenen Kirchspiel zu machen? Aber das hatte wohl noch gute Weile, Pastor Windfeld konnte doch für solch einen Plan nicht gut eintreten, dessen Verwirklichung seine Einkünfte so stark vermindern würde. – Doch wenn meine Tage hier oben gezählt sind, sagte er, so könnt ihr machen, was ihr wollt!

Seine Tage hier oben im Norden – dachte er daran, sich versetzen zu lassen? Es war ein gesegnetes Leben, das er jetzt führte ein großer Bezirk und wenig zu tun; er war auch schon sechzehn Jahre hier und wollte so lange wie möglich aushalten, er war hier festgewachsen, er hatte hier oben seine Heimat gefunden. Aber südwärts mußte er ja, er war der Diener der Kirche, und die Seelen irgendeines Östlandsdorfes riefen vielleicht schon nach ihm. Sollte er im Nordland leben und sterben? Im Nordland? Zu einer solchen Schmach konnte er doch wohl nicht verurteilt sein, C.+P. Windfeld war ein hervorragender Verkünder von Gottes Wort gewesen und hatte außerdem im Pfarrarchiv einige Aufzeichnungen über die neue Kirche in Segelfoß niederlegen können – das sollte ihm einer nachmachen! Ein solcher Mann sollte sich nicht um eine Pfarre im Süden bewerben dürfen? Mit Gottes Hilfe wollte er von dem Gesetz über die Pfarrerversetzung keine Ausnahme machen.

Mit Gottes Hilfe war da auch Aussicht auf einen Nachfolger – jetzt saß Lars Manuelsens Sohn, Lars Larsen da und studierte. Oh, dieser Lars, ein wahres Stück Eisen und ein Riese im Studieren von Schulbüchern! Er war in Kristiania und machte ein Examen, verkroch sich ein Jahr und stapelte noch viel mehr Kultur in sich auf, trat dann wieder hervor und machte ein neues Examen. Er hatte auf dem Seminar in Tromsö angefangen, sich Laursen zu nennen, aber hier in seinem Heimatdorfe als Hauslehrer für Herrn Holmengraas Kinder konnte er das nicht durchführen; jetzt hieß er schon lange Lassen, L. Lassen. Ruhm ging von seiner Studiererei aus, er mußte wohl von Heiligkeit erfaßt sein. Als der Bischof zur Visitation in das Dorf kam, sagte er: Wenn Lassen sich nicht schont, werden wir ihn verlieren, er soll schon eine schwache Brust haben, er stirbt!

Die ganze Gemeinde war stolz auf dieses Eisen, und wirklich fluchte man allmählich schon etwas weniger, vor allem in Gegenwart des Vaters, Lars Manuelsen. Bei jedem Examen ging sein Name von Mund zu Mund, und mehr als einmal war der Bursche Lars bei Per im Laden Gegenstand von Gesprächen: Wenn er es nur übersteht! sagt einer. Ja, wenn er uns nur nicht verloren geht, wie der Bischof gesagt hat! läßt sich ein andrer hören. Dann würde der Lars ja selig werden, äußert eine Stimme, und was könnte das schaden! Der Vater, Lars Manuelsen, greift ein: Du redest daher wie ein Vieh, du hast einen zuviel gekippt!

Ho, die Münder gehen.

Jawohl, dann und wann kippten sie einen bei Per im Laden, das war ein lebhafter Ort mit Geschwätz und Geldgeklapper, mit Tür-Ein und Tür-Aus und Weintonnen mit Hahn und Zapfen. Und P. Jensen selbst wurde dicker und reicher und immer achtbarer, aber er war und blieb der Bauer mit hausgewebten Kleidern. Jetzt wußte ja jeder, daß ein Mann mit seinen großen Mitteln nie wieder ein Kind beim Handeln bemogeln würde; aber sieh, die Leute hatten trotzdem noch Mißtrauen gegen ihn! Man hörte nicht auf, ihm auf die Finger zu sehen und einzugreifen, wenn es nottat. Übrigens tat auch P. Jensen das Seine, den Menschen und dem Orte zum Wohle zu dienen – alles was recht ist. Als er nicht die Erlaubnis bekam, einen Tanzboden zu eröffnen, verwies er die Jugend in einen Bootsschuppen hinter der Landzunge; und dieser Bootsschuppen hatte sogar einen ordentlichen Fußboden bekommen und eignete sich ausgezeichnet zu sonntäglichen Zusammenkünften.

Aber der Mann, der alle und alles regierte, Herr Holmengraa, wurde weder mager von seiner vielen Arbeit noch dick von seinem großen Reichtum. Sanftmütig und rechtschaffen ging er umher und verwaltete seinen ungeheuren Betrieb. Bisher hatte er hunderttausend Taler versteuert; aber in dem Jahr, wo Krone und Ör als Münze eingeführt wurden und alle Summen für die Menschen mit einemmal so ins Riesenhafte wuchsen, mußte Herr Holmengraa eine ganze Million versteuern. Klagte er? Keine Spur. Nein, er machte den Eindruck, als ob er, Gott sei Dank, nicht einmal Lust gehabt hätte, zu klagen, wenn man ihn auch zu zwei Millionen von diesem neumodischen Geld veranlagt haben würde. Er mußte wohl aus Reichtum erschaffen sein. Ihm gehörten jetzt die Umgegend vom Gute Segelfoß, der Mühlenbetrieb, Kai und Hafenbrücke, ihm gehörte auch die Landhändlerei und die Bäckerei unten an der See, obwohl die auf einen andern Namen gingen; man wußte außerdem mit Sicherheit, daß er viel Geld bei den Handelsleuten an der ganzen Küste stehen hatte, jedenfalls bei Henriksen in Utvär, ja, man meinte, sein Besitz höre erst bei den Ländereien des uralten Gutsbesitzes Coldevin in Ytteröya auf, der allzu reich war, als daß Holmengraa ihm hätte beikommen können.

Es gab also doch Grenzen für ihn!

In der letzten Zeit hatte er sich darum bemüht, eine Telegraphenstation hierher zu bekommen; das war etwas langsam gegangen, die Behörde war dagegen gewesen und hatte Bedenken gehabt. Man war hier überzeugt: würde die Behörde sich nur noch ein ganz klein wenig besinnen, so würde Herr Holmengraa die Telegraphenlinie auf eigene Rechnung anlegen. Und gerade so, als hätte die Behörde endlich diese Gefahr eingesehen, kamen Stangen, Draht und Arbeiter, und der Bau begann.

Und die Mühle sauste ununterbrochen. Mächtige Lastschiffe kamen eins nach dem andern mit Korn von der Ostsee und vom Schwarzen Meer; in letzter Zeit war sogar eine Ladung Weizen mitgekommen, es gab also eine Entbehrung weniger für die Menschen hier. Weizen – ein Märchen, eine Südfrucht! Die Mühle mahlte ihn, das Volk kaufte ihn, und wahrhaftig, das Weizenmehl führte sich gut ein, es gab Weizenbrot in der Bäckerei und auf dem Tisch des armen Mannes. Es war ein Wunder, daß die Menschen hier ohne das bis jetzt überhaupt am Leben geblieben waren, hauptsächlich als kleine Kinder, damals, als die Grütze noch nicht so weiß wie Schnee war.

Was wollte man sich jetzt noch mehr wünschen? Es hatte sich sogar ein Rechtsanwalt hier niedergelassen, ein junger Mann, so voll von Gesetzeskunde, daß die Leute anfingen, etwas auf Mund und Hand acht zu geben. Man brauchte nicht länger weite Wege zu laufen oder gar bis zum Thing zu wandern, um sein Recht zu bekommen, das konnte Rechtsanwalt Rasch jetzt jedem an Ort und Stelle geben. Es war gut, daß er gekommen war, Holmengraa hatte sogar im voraus für ihn ein kleines Haus gebaut.

Herr Rasch wollte bei den Herrschaften auf dem Hof Besuch machen, aber Holmengraa hatte es statt dessen so eingerichtet, daß er sich unter freiem Himmel dem Leutnant und dessen Frau vorstellte. Das war ein guter Gedanke, und beide Teile waren ihm gleich dankbar dafür.

Die Gelegenheit war folgende:

Bei der Frühjahrsschmelze hatte das Hochwasser den Mühlendamm des Leutnants durchbrochen und die Mühle weggerissen. Na, diese kleine Mühle war sowieso schon seit vielen Jahren außer Tätigkeit, gleich nachdem Holmengraa seinen Betrieb errichtet hatte, war sie verstummt; aber wie sie dastand, war sie eine kleine Herrlichkeit gewesen, die zu dem Hof gehörte – jetzt war sie weg.

Doch das Sägewerk – da war doch auch ein Sägewerk gewesen? Weg. – Und es sah so aus, als sei das Verschwinden von Mühle und Sägewerk am Fluß dem Herrn Holmengraa ganz und gar nach Wunsch gegangen; das sah merkwürdig aus, sah auffallend aus, diese beiden Einrichtungen hatten wirklich einem neuen Plan des Herrn Holmengraa im Wege gestanden, und so holte der Fluß sie.

Herr Holmengraa machte auch kein Geheimnis daraus, daß er dies Unglück verschuldet habe: sie hätten den Fluß für das Herunterflößen der Bauhölzer aus dem Walde des Leutnants allzu stark abgedämmt.

Als der Leutnant nach dem Flusse hinaufging, um sich die Verheerung anzusehen, hatte seine Frau wirkliches Mitleid mit ihm: so nahe war es ihm gegangen, daß seines Vaters und seines Großvaters Mühle und Sägewerk verschwunden waren. Er war zum Mittagessen heimgekommen und wollte später wieder nach der Unglücksstelle gehen, da bat seine Frau, ihn begleiten zu dürfen, und hierüber stutzte er zuerst und sagte dann: Ich danke Ihnen für diese Teilnahme. Ziehen Sie, bitte, hohe Stiefel an!

Und Holmengraa seinerseits hatte den jungen Rechtsanwalt Rasch mitgenommen und war dem Leutnant nachgegangen. So trafen sich die vier. Der Fluß lärmte gewaltig, sie begrüßten einander, aber sie hörten knapp ihre eigenen Worte, Holmengraa mußte schreien, als er Herrn Rasch vorstellte. Es war merkwürdig, diesen jungen Mann sein Haupt entblößen und in die lärmende Stummheit hineingrüßen zu sehen.

Sie gingen alle langsam von der Stelle weg, der Leutnant voran; als er einen Augenblick stehenblieb, sagte Holmengraa:

Da sieht man, was man aus Mangel an Erfahrung für Dummheiten anrichten kann! Ein Fachmann würde sicherlich nicht den Fluß wegen der Flößhölzer gestaut haben.

Der Leutnant spitzt die Ohren:

Hatten Sie denn den Fluß gestaut? Wozu das?

Aus Dummheit, leider. Ich bin darüber sehr unglücklich. Jetzt bitte ich nur, mir die nötige Zeit zu lassen, dann hoffe ich den Schaden wieder gutmachen zu können.

Was wollen Sie tun?

Hier war ein Damm, dort standen eine Mühle und ein Sägewerk, ich will alles zusammen wieder aufbauen.

Pause.

Im Grunde waren es alte Kästen, und sie standen da, ohne etwas zu nützen, sagt der Leutnant. Nein, Sie sollen sie nicht wieder aufführen.

Hatte Holmengraa diese Antwort erwartet? Keiner weiß das, er sagte nichts darüber. Dagegen sagte er sehr ehrerbietig zu dem Leutnant:

Dann gibt es einen andern Weg. Ich habe Ihre Hälfte des Flusses für Sie unbrauchbar gemacht, und ich will Ihnen bezahlen, was Ihre Flußhälfte wert war.

Pause.

Der Leutnant überdenkt wohl mancherlei und kommt zu dem Schluß:

Sie wünschen den ganzen Fluß zu besitzen?

Wenn es Ihnen recht ist.

Der Leutnant geht weiter, alle gehen. Als sie bis zum Scheideweg gekommen waren, hielt er an und sagte, und da hatte er sich lange bedacht:

Das tu' ich nicht. Ich verkaufe nichts mehr vom Fluß.

Hatte Holmengraa diese Antwort erwartet? Er schien nicht verletzt zu sein, sondern sagte freundlich wie immer:

Es gibt einen dritten Ausweg: ich werde Ihnen den Schaden angemessen ersetzen.

 

Ein paar Tage später ging Herr Holmengraa allein am Fluß entlang, auf seiner eigenen Seite. Er hatte wohl seinen neuen Plan im Kopfe und schätzte mit den Augen ab und maß mit Schrittlängen das Gelände aus und machte einen Überschlag. Der neue Plan? Ja, ein neuer Plan.

Eine Weile nach ihm kam der Leutnant den gleichen Weg, er war zu Fuß. Da er nach Holmengraas Ufer hinübergegangen war und er nie etwas heimlich tat, suchte er sicher Holmengraa selbst. Dann und wann blieb er in Gedanken stehen.

Ja, wie sehr er auch nachdachte, und wie sehr er nachgedacht hatte, zwei Tage und zwei Nächte hindurch, er war noch nicht fertig. Wenn er Herrn Holmengraas Angebot, den Rest des Flusses zu kaufen, zurückgewiesen hatte, sah dies ja wie eine Unverständlichkeit aus, wie eine Grille; aber der Leutnant wußte selbst, daß dies seine guten Gründe hatte: Die Bank hatte ihrer eignen Sicherheit wegen und nach Rücksprache mit den Bürgen in Bergen ihn ersucht, weitere Veräußerungen an Gerechtsamen und Ländereien von Segelfoß bis auf weiteres einzustellen.

Eine langmütige Bank, die das so lange hatte hingehen lassen. Aber es war trotzdem eine Beleidigung für den Herrn von Segelfoß, und er hatte sich sehr darüber gegrämt. In diesen Tagen dämmerte ihm eine ungeheuerliche Möglichkeit auf: daß er von Haus und Hof gehen müßte – wie sollte er sich da dem Nachfolger in der Dynastie Willatz Holmsen gegenüber einmal rechtfertigen? Alle seine Grübeleien hatten ihn nicht weiter gebracht, vielleicht war auch noch nicht der richtige Nachdruck in seinen Überlegungen. Oh, es war ja nur erst der Anfang, reinstes Kinderspiel. Er hätte sich selbst in dem Hühnerleben auf seinem Hof wiederfinden können: Wenn ein Huhn etwas vor hat, legt es erst den Kopf auf die eine Seite, dann auf die andere Seite und untersucht, ob die Welt für sein Vorhaben geeignet sei, dann jagt es sinnlos und ohne Ziel darauf los und hält nur ein, wenn ihm selbst eine neue Verrücktheit einfällt. Nichts in der Welt ist imstande, es gegen seinen Willen zum Umwenden zu bewegen; es kann ausweichen, es kann Umwege machen, aber es wendet nicht um.

Weshalb sollte der Leutnant umwenden? Er hatte ja nichts verschwendet, hatte ja noch nicht einmal die Orgel gekauft, leider. Er war einem Naturgesetz verfallen, einer Macht – und was vermochte man gegen so etwas? Als alter Soldat wußte er, was parieren heißt, er gehorchte dem Zapfenstreich. Natürlich war er nicht zugrunde gerichtet, ihm selbst und keinem andern gehörte das Gut Segelfoß, ihm selbst und keinem andern gehörte das große Haus mit den vielen Kostbarkeiten darin; aber sein Eigentum war mit Schulden belastet, und Verpflichtungen an andere waren an und für sich das Unerträglichste, was er kannte. Jetzt konnte er sich das sicherlich noch einmal dadurch retten, daß er Herrn Holmengraas Angebot, den durch den Dammbruch verursachten Schaden zu ersetzen, annahm, aber wieviel würde der Betrag ausmachen? Es würde nicht einmal die Bank zum Schweigen bringen, und hinterher würde davon nicht einmal etwas zum Weiterleben übrig bleiben. Er entschuldigte sich selbst gar nicht, keine Spur, es konnte schon sein, daß er nicht zu wirtschaften verstand und daß es sein Schicksal war. Er hätte sich selbst sagen können, daß niemand fortwährend Geld ausgeben kann, wenn er keine Einkünfte hat, aber er tat es nicht. Selbstverständlich brauchte er nicht noch fast: neue Patiencekarten fortzuwerfen, das war zu närrisch, und streng genommen, hätte er auch den teuren Mantel nicht nötig gehabt, den er sich für die Reise nach England angeschafft hatte. So etwas machte ja nicht soviel aus, aber es war beinahe die einzige Verschwendung, soweit er sich entsinnen konnte. Jetzt hing der Mantel da, Verwendung hatte er nicht für ihn, der General hatte nichts im Nordland zu tun, wann sollte also der Mantel gebraucht werden? Wenn ein großer und unabwendbarer Zusammenbruch ihn treffen würde, so könnte seine Frau, Frau Adelheid, ihm noch das eine oder das andere vorwerfen: Wenn doch der Mantel noch heute als ein großes, unzerschnittenes Stück Zeug beim Schneider läge! Seht, er hatte ja so mancherlei von Adelheid ertragen: unter anderem hatte sie ihn mitten in der Ehe zum Junggesellen gemacht; das konnte er wohl noch ertragen, so lange er sich selbst ohne Schuld wußte – aber wenn sie nun käme und ihm mit Recht Vorwürfe machte! Es war seine Art, daß er unverdienten Widerwillen ertragen konnte, verdienten dagegen nicht.

Nun ist er unterwegs zu Holmengraa, um sich bei ihm ein wenig zu entschuldigen. Seine kurze Abweisung hatte ihn damals in der Form selbst nicht befriedigt, er wollte sagen, wie es die Wahrheit war, daß gewisse Umstände ihn daran hinderten, mehr vom Fluß zu verkaufen. Er hätte außerdem das letztemal keine so kurze Antwort gegeben, wäre Adelheid nicht zugegen gewesen; ihretwegen hatte er als der alte Gutsherr auftreten müssen.

Da sah er oben am Fluß Herrn Holmengraas Hut und Rücken; gut, er wollte nicht um irgend etwas gebeten werden – eher das Gegenteil, wenn es möglich war. Holmengraa? Dieser Fremde hatte tief in sein Leben eingegriffen, der Leutnant sah ihn in manchem als einen Ebenbürtigen, in vielem als einen Meister an; aber wer war Holmengraa? Sein Antipode.

Da dreht Holmengraa um und kommt wieder zurück, kommt dem Leutnant entgegen. Wer war dieser Mann? Ein Heimatloser, ein Mann ohne Abstammung, ohne Heim, ein Abenteurer aus allen Landen – ein Symbol vielleicht, eine Macht. Er begrüßt den Leutnant, wie er es zu tun pflegt, und der Leutnant dankt. Es ist wie früher zwischen ihnen, aber der Gutsbesitzer ist in diesem Augenblick der weniger sichere. War Holmengraa hier umhergewandert und hatte ihn erwartet?

Der Leutnant beginnt sogleich, wie er es zu tun pflegt:

Sie nannten das letztemal, als wir zusammen sprachen, drei Auswege. Es gibt einen vierten: wir lassen alles auf sich beruhen.

Das kann ich nicht, antwortet Holmengraa.

Ich kann nicht mehr vom Fluß oder von meinem Grund verkaufen. Gewisse Verpflichtungen aus der Zeit meines Vaters verbieten mir das.

Aber doch wohl nicht, eine Vergütung für verursachten Schaden anzunehmen.

Hm. Das möchte ich nicht gern. Sie hatten ja keinen Gewinn von meinem Schaden.

Herr Leutnant, ich bin gerade jetzt oben am Fluß gewesen. Dort hatten mir früher zwei Dinge im Wege gestanden, jetzt sind sie fort. Das hört sich sonderbar an, aber sie standen mir im Wege, und jetzt sind sie fort.

Der Leutnant wird daraus nicht klug, und er äußert: Ich weiß nicht – ich verstehe wirklich nicht, was Sie sagen. Das verhält sich so, erklärt Holmengraa, wenn ich Ihren Damm hier auf meiner Seite des Flusses wieder aufbauen dürfte, so könnte ich eine höchst notwendige Maschine treiben. Darf ich den Herrn Leutnant bitten, mit mir zu kommen, dann werde ich es Ihnen zeigen.

Sie gehen wieder den Fluß hinauf und unterhalten sich unterwegs:

Was ist das für eine Maschine?

Eine Einrichtung mit Kabeln, die mir all die teure Pferdekraft ersparen würde, die ich jetzt zu meinem Betrieb nötig habe.

Der Leutnant sagt etwas von Schienen und Lokomotive, Holmengraa erklärt weiter:

Ja, ich will Schienen von der Brücke nach der Mühle legen, doppelte Spur. Aber der Wasserfall soll die Wagen herauf und hinunter ziehen.

Sie bleiben stehen, und Holmengraa zeigt die Stellen, zeigt ihm, dort solle der Damm liegen, dort die Turbine. Der Lärm des Wassers zwingt die Herren, beim Sprechen dicht beieinander zu stehen, was dem Leutnant unbehaglich ist, er bekommt den Eindruck, daß dem Plan länger kein Hindernis im Wege liege, und er tritt vom Fluß zurück.

Sie können doch ruhig bauen, sagte er.

Wie denn? Nein. Aber gibt es denn keine Form, die uns beide zufriedenstellen könnte?

Das weiß ich nicht. Die Bank verbietet mir, zu verkaufen.

Eine Bank? fragt Holmengraa gleichgültig. Ich werde Sie von der Bank auslösen.

Der Leutnant bleibt stehen. Da fährt wohl ein Lichtstrahl durch sein Herz, das sprach seiner Herrenseele zu, der Bank mit barem Gelde Antwort geben zu können.

Es ist eine große Summe, sagt er, aber mein ganzes Gut steht als Pfand. Ich habe etwas abgezahlt, vierzehntausend stehen noch.

Von dem alten Gelde?

Ja, leider, vierzehntausend von dem alten, großen Gelde: Taler. Holmengraa hatte sicherlich nach und nach etwas von des Leutnants Art, eine Sache abzumachen, gelernt, er faßte sich kürzer und kürzer:

Handelt es sich um Wechsel?

Ja. Mit Bürgen, die wieder Sicherheit im Hof haben.

Ich werde die Papiere einlösen.

Merkwürdig – da wurde nun eine große, ungeheuer wichtige Sache abgemacht, aber man sprach nur die wenigen notwendigen Worte. Als die Herren sich voneinander verabschiedeten, war alles in Ordnung, sie hatten sich auch über eine Summe für den ganzen Fluß und den ganzen See oben in den Bergen geeinigt. Herr Holmengraa kaufte das alles aus dem Gut Segelfoß heraus und besaß es. Der Leutnant hatte wohl Lust, jetzt, da er sowieso hier war, sich einige Strecken seiner Waldungen hier auf der Westseite wieder einmal anzusehen; er kehrte um und wanderte wieder nach der Ruine seines Dammes, daran vorbei und folgte dem Fluß bis ganz hinauf nach dem Bergsee. O ja, feines Jungholz stand hier oben, in fünfzig Jahren würde auch hier ein großer Wald stehen, ein wertvoller Wald, Jung-Willatz konnte deshalb ruhig sein! Im ganzen genommen – die Dinge renkten sich wieder ein! Ein ziemlich wichtiges Geschäft heute nachmittag abgemacht, die Bank los und wieder Geld in den Händen, eine schöne Summe, genug für lange Zeit. Wer auch Herr Holmengraa sein mochte – er war wie eine Art Vorsehung für ihn, Rat in Ratlosigkeit; – der Leutnant mußte staunen. Und das beste an allem war, daß er keine unentgeltlichen Dienste von Herrn Holmengraa angenommen, sondern nur Geschäfte mit ihm gemacht hatte. So sollte es sein. Herumgehen und ewig gebunden sein wegen eines geleisteten Dienstes? Kein Kauf ist so teuer wie Geschenke.

Ja, der Leutnant ist weiser und weiser geworden. Wo war jetzt seine Unbändigkeit, sein Eigensinn aus jüngeren Tagen? Nur selten einmal zeigte er noch Feuer unter der Asche. So sollte es sein.

Er sitzt hier eine Stunde lang und denkt, er ist Philosoph und hat keine Hast. Er erhebt sich, geht weiter in den Wald hinauf und sucht einen Überblick zu gewinnen: viele frische Stümpfe leider, vom letztenmal, da er Grubenhölzer schlug, aber auch viel schöner Jungwald war zurückgeblieben, die Zeit würde den schon reifen lassen und Willatz reich machen!

Er macht einen Bogen und steht so schließlich vor Holmengraas Anwesen: ein großes Haus, aber neu und exotisch, mit einem ungeheuren Dach, das weit über die Hauswand hinausragte, um Schatten zu geben – als wenn das hier nötig wäre! – und außerdem ruhte das Dach noch auf Holzsäulen. Alles das sah so ansiedlermäßig aus, die Hühner trieben sich im Hof herum, im Garten gab es eigentlich bis jetzt weiter nichts als Johannisbeerbüsche. Seht, da kommt Adelheid heraus, auf der Hofseite des Hauses, sie hatte wohl wieder auf dem Flügel gespielt. Herr Holmengraa begleitet sie hinaus und führt sie längs der Hauswand nach dem kleinen Durchgang zum Garten. Komisch – er führte sie, den Arm um sie gelegt. Sie ließen sich bei den Johannisbeerbüschen nieder.

Auch hier unten gab es schönen Wald, aber etwas unrein mit Laubbäumen gemischt. Wenn es nun wirklich die Luft eines Nadelwaldes war, die Herr Holmengraa gesucht hatte, weshalb hatte er dann sein Haus in einen Mischwald gebaut? Der Leutnant hatte früher nicht darüber nachgedacht, aber jetzt fiel es ihm ein. Er ging weiter, kam wieder zum Fluß und blieb auf der Brücke stehen. Seht, da stand wahrhaftig die Ziegelei noch, stand so vergessen da, so ganz und gar vergessen von der großen Überschwemmung – das einzige, was ihm von dem Fluß und den alten Einrichtungen übrig geblieben war.

 

Wenn der Leutnant auf dem Sofa in seiner Stube liegt, springt er nicht mehr auf und klingelt nach Daverdana, er hat viele Angewohnheiten abgelegt, er hält sich im Zaum. Aber es geht dem Leutnant nicht schlecht, so weit ist es durchaus nicht gekommen, sein Haar wird grau, aber das kommt von den Jahren, er liest in den Humanisten, aber aus Neigung. Wenn jetzt der Leutnant wirklich einmal klingelt, so kommt Gottfred.

Der kleine zarte Gottfred mit den Kinderhänden.

Er bekam ja damals vor ein paar Wochen den Befehl, sich oben bei dem Leutnant einzufinden, er war unglaublich ängstlich gewesen, und seine Mutter hatte ihn nach dem Hof begleiten müssen. Aber der Leutnant war sehr freundlich gegen ihn gewesen und hatte mit ihm gesprochen und ihm gesagt, daß er bleiben könne. Dieser wunderliche Leutnant, nachher hatte er den Jungen zu seiner Frau hineingebracht und gefragt, ob nicht auch sie meine, daß er bleiben könne; und ja, das hatte auch seine Frau gemeint, genau wie der Mann. So war also Gottfred für immer geblieben. Er hatte nun schöne Kleider an und hatte die ganze Zeit gutes Essen bekommen, er sieht also aus wie ein kleiner feiner Herr, obgleich er wie ein Page angezogen ist, mit kurzer Jacke und blanken Knöpfen. Er hat die besondere Pflicht, die Reitpferde der Herrschaften und das Sattelzeug rein zu halten, aber im übrigen hatte er auch andere nützliche und notwendige Dinge zu verrichten. Er war ausschließlich der Diener des Herrn und der gnädigen Frau, kein anderer hatte ihm etwas zu befehlen, und er teilte sich zwischen beide. Die hohe Frau hatte ihn sicherlich nicht am wenigsten nötig. Wie leicht konnte sie zum Beispiel nicht Lust bekommen, jemand etwas Französisch zu lehren; und wer war passender dazu als Gottfred? Ebenso wenn sie sich herzlich einsam fühlte und den Wunsch hatte, mit jemand zu sprechen, so war Gottfred ja nicht weit weg. Nur an Willatz dachte sie dann und unterhielt sich im Grunde nur mit ihm; hier und da las sie einen oder den andern von ihres Sohnes Briefen Gottfred vor, und das war ein Fest.

Der Leutnant selbst verwendete den Knaben Gottfred mehr zu Freiluftarbeiten, so, die Post vom Kontor auf der Brücke zu holen oder dorthin zu bringen oder die Tauben mit Erbsen zu füttern. Das mußte auch gemacht werden. Alles in allem gab es viel in dem großen Haus zu tun; wenn die Herrschaft ausging oder heimkam, stand Gottfred auf der Diele, damit er zur Stelle sei, falls man ihn brauchte. Das wollte auch getan sein.

Im übrigen waren Leutnants eine milde Herrschaft, die ihre Dienerschaft nicht überanstrengte, und Gottfred war außerdem so klein. Wenn der Leutnant selbst nach ihm klingelte, so handelte es sich zum Beispiel darum, daß Gottfred die Haupttreppe hinuntergehen und nach dem Thermometer sehen sollte; wenn der Knabe dann zurückkam und die Grade meldete, nickte der Leutnant: mehr gäbe es nicht zu tun.

So gut ging es Gottfred. Und jetzt wollte auch Pauline, Gottfreds Schwester, die mit den niedergeschlagenen Augen – sie wollte nun auch zu Leutnants kommen und bleiben, ja, auch sie. Und dem konnte eigentlich nichts im Wege stehen. Die Mutter war es, die hinaufkam und ihre Tochter anbot. Ich werde die gnädige Frau fragen, antwortete die Jungfer. Ich werde mit meinem Mann sprechen, antwortete die gnädige Frau. Haben Sie Verwendung für sie, so ist von meiner Seite auch nichts im Wege, antwortete der Mann. Bringen Sie das Mädchen herein, antwortete Frau Adelheid. Wie heißt du? Pauline? Wir wollen dich hier behalten. Wie alt bist du? Sieh mich an, Pauline!

So blieb denn auch Pauline für immer. Es gab schon so viele Dienstboten auf Segelfoß – einer mehr oder weniger machte da nichts aus.

Die Zeit verging.

Der Leutnant macht seinen täglichen Ritt und blickt über seine Acker und seine Zäune, seine Gräben und seine Waldungen hin; er bespricht wie früher mit dem Knechte Martin, was auf dem Hof gearbeitet werden soll, er bestellt auch mitunter die Häusler zu besonderer Tagarbeit, und alles zusammen macht er auf seine alte gute Art.

Aber die Winter waren lang und öde. Wenn er jetzt des Abends in seiner Stube herumgeht, ist kein anderer Laut im ganzen Hause zu hören als sein eigener vom Teppich gedämpfter Schritt. Oh, die Winter waren lang und öde. – Jung-Willatz besuchte noch immer in England die Schule, und Adelheid spielte auf dem Flügel bei Herrn Holmengraa.

Ein eigener Mann, dieser Holmengraa. Jetzt gehörte ihm der Fluß, und er hätte also seinen Damm und seine Turbine bauen können, aber er tat es nicht. Zwei Jahre lang tat er es nicht. Bis er eines Tages dem Leutnant erklärte, nein, er hätte leider den Plan aufgeben müssen, seine Leute würden darunter zu sehr leiden, die Fuhrleute würden brotlos werden. Mein Plan muß scheitern! sagte Herr Holmengraa. Na, überhaupt, dieser Plan mit einer Wasserlokomotive – hatte er den denn jemals ernstlich erwogen?

Aber so viel war geschehen: Herr Holmengraa war Herr über Segelfoß geworden, über den Fluß, den Wald und alle Acker, der Leutnant wußte es.

Als ihm das zum erstenmal klar geworden war in all seiner ungeheuren Wirklichkeit, da war der Leutnant wahrhaftig sehr entsetzt gewesen, und er war in kurzer Zeit noch mehr ergraut. Er richtete es so ein, daß er notwendigerweise Herrn Holmengraa eines Tages unten auf dem Wege treffen mußte: er wurde zu dieser Zusammenkunft von seiner eignen Angst gejagt, um in den Augen seines Gläubigers zu lesen. Aber Herr Holmengraa war genau wie früher gewesen, höflich und rücksichtsvoll gegen den Herrn auf Segelfoß, wie am ersten Tage. Und so ging der Schrecken ja wieder vorüber, es verstrichen Monate und Jahre, und keine Umwälzung geschah. – Ihr Lieben, Holmengraas Haus bekam ja immer noch seine Milch unten vom Hof, und er bezahlte dafür! Aber es soll auch nicht vergessen werden, daß der Leutnant seinerseits Zinsen und Abtrag von seiner Obligation pünktlich bezahlte, obgleich es ganz gewiß Herr Holmengraa war, der ihm auf die eine oder andere Weise das Geld dazu verschaffte.

Also gut – all dieses war nicht so gefährlich, es gab schlimmere Dinge. Wie konnte man zum Beispiel ganz und gar eine Orgel vergessen, deren Kauf man einmal beschlossen hatte? Und wann und woher bekam man vor allem das Geld zur Erweiterung der Kirche: für die Galerie, auf der die Orgel stehen sollte? Der Leutnant machte sich Vorwürfe, daß diese Sache so langsam fortschritt, es mußte ja geradezu den Eindruck machen, als hätte er kein Geld dazu. Fing seine Energie an nachzulassen? Bei der ersten guten Gelegenheit wollte er nun aber wirklich die Sache in Angriff nehmen.

Und es gab vielleicht auch andere Dinge, bei denen er zu nachgiebig gewesen war; der Leutnant machte vor sich selbst kein Hehl daraus, daß er mit Willatz ein ernstes Wort sprechen müßte, wenn er nun endlich in den Ferien heimkäme. Der Junge war gewiß groß und prächtig, aber er hatte noch nicht die Festigkeit im Willen und Charakter, wie ein Willatz Holmsen sie haben mußte. Was ging mit dem Jungen vor? Er wollte Unterricht im Zeichnen und Malen haben, er wollte Künstler werden – gut, werde Künstler! Er wollte lieber Seemann werden – Marineoffizier –, noch besser, oh, viel besser, mein Junge, sei eine Zeitlang Seemann, bis du dann Segelfoß übernimmst! Aber Willatz hatte auch viele andere Grillen und wollte viel und vieles versuchen, er hatte leider sogar angedeutet, daß er sich ganz der Musik widmen wollte; doch das war wohl der flüchtigste von allen seinen Einfällen gewesen, er ließ gar nichts mehr davon verlauten.

Aber der Vater hätte es nur wissen sollen, daß es gerade die Musik war und nichts anderes, auf die Willatz seine ganze Zeit verschwendete, Tag und Nacht. Das war es ja auch, was Willatz mit ins Blut bekommen, was die Mutter ihn gelehrt hatte.


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