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6

Klein-Willatz ist groß und lang geworden und eine ganze Reihe von Jahren alt, er singt gut und spielt gut Klavier, aber er ist wild und eigensinnig; es nützt kein Zureden mehr bei ihm, wie ehemals, er tut, was er will, und entzieht sich der mütterlichen Schule.

Sein Vater hatte schon seit längerer Zeit über ihn nachgegrübelt: ein Hauslehrer, wie er ihn selbst in seiner Kindheit gehabt hatte, ein Hofmeister mit einigen Schulkenntnissen und sonst nichts – es schauderte ihn, wenn er an so etwas überhaupt nur dachte. Und dann sollte wohl solch ein Lehrer aus irgendeinem Dorfe hier in den Stuben auf Segelfoß umhergehen dürfen und mit bei Tisch essen und mit dazu gehören; gab solch ein Mensch am Tage Unterricht, so studierte er in den Nächten, entweder auf den Pfarrer oder den Rechtsanwalt hin. Der Leutnant kannte diese Rasse, er konnte mit solchen Leuten nicht sprechen, ihr Gedankengang war ein anderer, nichts war ihnen angeboren, sie besaßen nur Schulkenntnisse.

Der Leutnant dachte an England: das wäre das richtige Land für seinen Sohn, die richtige Schule, dieses teure Land. Wenn man nur die Mittel hätte, ihn dorthin zu senden! Mittel? Hatte er nicht Lars Manuelsens langen Laban in Tromsö ganz und gar zu versorgen, und da sollte sein eigener Sohn zu Hause verschmachten! Könnte er außerdem so ungeheuerlich hinter dem alten Coldevin zurückstehen, der seinen Sohn Fredrik nach Saint-Cyr auf die Schule geschickt hatte?

Der Leutnant grübelt und grübelt.

Aber Klein-Willatz grübelt nicht. Seit einem Jahr spielt er nun schon Tag für Tag mit dem Nachbarjungen Julius, dem zweiten Sohn von Lars Manuelsen, und diese zwei machen sich köstliche Tage zusammen. Klein-Willatz hat Julius sogar über die Hintertreppe mit in seine Stube genommen und ihm alle möglichen Sachen gezeigt, und da haben sie mit Wasserfarben gemalt. Es war nicht zu glauben, wie neu und merkwürdig Julius für ihn war; Julius erzwang sich außerdem reichlich Achtung mit Hilfe seiner sehr großen Hände und Füße, die sie sofort gemessen hatten. Vor Willatz' Bett lag ein kleiner Teppich. – Gib acht, du trittst auf den Stoff! sagt Julius. Ja? fragt Willatz verwundert. Aber als Willatz dann wieder auf den Teppich trat, hob Julius den Teppich auf, schüttelte ihn und legte ihn aufs Bett. Weshalb tust du das? fragte Willatz. Ja, nein, du darfst damit nicht so schlecht umgehen und darauftreten, sagte Julius.

Die beiden Kameraden hatten sich schön mit den Farben eingeschmiert, und als Willatz sich das Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser wusch, stand Julius daneben und betrachtete ihn mitleidig. Willst du dich denn nicht waschen? fragte Willatz. Nein, jetzt müssen wir uns beeilen, sagte Julius, die Flut kommt.

Julius war ängstlich und bat Willatz, ja leise die Treppe hinunterzugehen: träfen sie auch keinen anderen, so könnten sie doch Daverdana treffen, und Daverdana hatte, weiß der liebe Gott, den Bruder mehr als einmal zu Hause verprügelt. Nach Julius' Vorschlag sollte Willatz zuerst hinuntergehen; wäre dort alles sicher, so sollte er sich unten im Gange räuspern. Willatz geht. Julius geht wieder ins Zimmer hinein und nimmt einen Gummiball mit, den er zwischen allen den Sachen da drinnen gesehen hat, er meint wohl, sie könnten den Ball draußen sehr gut gebrauchen. Jetzt räuspert sich Willatz, und Julius schleicht hinunter.

Und sie gehen ans Meeresufer und suchen Seesterne und Muscheln und Tang, bauen Steinhäuser und Ställe im Strandsand und treiben die Viehherden in den Stall; die Herden: das sind alle möglichen Muscheln. Die Kühe sind gemalt, einige mit Flecken, andere mit Streifen, die Farbe besteht aus zerriebenem Backstein und Spucke. Du großer Gott, wie eifrig die beiden bei der Sache waren, und es waren doch beide jetzt schon große Jungen.

Julius wurde hungrig, er wollte heim; aber sollte man sich schon trennen, wo das Spiel gerade am schönsten im Gang war? Willatz dachte mit Zittern daran, daß er das Mittagessen zu Haus ganz vergessen hatte; aber wie konnte er auch an so etwas denken, wo er doch keine Spur von hungrig war? Mochte es biegen oder brechen – er ging mit Julius heim.

Solch ein fremder Besuch? sagte Julius' Mutter. Du mußt so gut sein, dich zu setzen, Willatz! Komm und nimm dir etwas zu essen, Julius! Wo seid ihr gewesen?

Ich bin bei Willatz gewesen, antwortet Julius.

Bei Willatz? Du warst doch wohl nicht drinnen bei ihm, denke ich?

Ich nicht drinnen gewesen? Wir haben in seiner Stube gemalt und Zeichnungen gemacht – frag nur den Willatz selbst!

Großartig! sagt die Mutter und ist stolz wie eine Dame. Die Tochter Daverdana war ja bereits Mädchen auf Segelfoß, und jetzt war auch noch Julius da oben im Hause gewesen.

Julius behandelt Hering und Kartoffeln mit einer bewunderungswürdigen Fertigkeit, ohne Messer und Gabel, sein Teller ist viereckig und aus Holz, alles ist für Willatz so merkwürdig. Es spürt plötzlich, daß er fürchterlich hungrig wird.

Ihr scheint hier guten Hering und gute Kartoffeln zu haben, sagt er.

Ja, wir können nicht darüber klagen; davon haben wir genug, antwortet die Frau. Nein, wenn wir nur etwas hätten, was man dem Willatz anbieten könnte! Willst du vielleicht ein Butterbrot essen, was meinst du dazu? O nein, das kann man nicht erwarten.

Ja doch, bitte, antwortet Willatz. Denn sein Hunger ist unerhört. Die Frau schmiert ihm eine dicke Scheibe Brot, dann zerquetscht sie mit einer Flasche braunen Kandiszucker und bestreut die Schnitte damit.

Ja, nun mußt du versuchen, ob du es hinunterkriegen kannst, wie es nun einmal ist.

Willatz aß, Willatz hatte seiner Lebtage kein besseres Butterbrot gegessen. Denn Brot mit Kümmel drin und darauf zerstoßenen Kandiszucker, das war für ihn bisher eine unbekannte Delikatesse gewesen, er wollte seine Mutter bitten, sie daheim einzuführen.

Dann rannten die Jungen wieder hinaus, sie ersannen alle möglichen lustigen Streiche. Dieser Julius war doch ein großartiger Kerl, der reinste Fund für Willatz, er war sehr flink und war der erste, wo es galt, etwas zu ersinnen oder auszuhecken; dazu kam, daß er schrecklich fluchen konnte und fürchterlich viel wußte. Sie waren bis auf das Dach der Ziegelei geklettert, und jetzt galt es, wieder hinunterzugelangen. Man mußte rückwärts gehen und sich mit den Füßen weiter tasten; das mißglückte, so oft sie es versuchten. Zuletzt bekam es Willatz satt, und er sprang hinunter. Er kam ohne Schaden davon und erbot sich nun männlich, den Kameraden aufzufangen, wenn er herunterspringe. Aber Julius wollte nicht springen, er versuchte es verschiedene Male, doch gab er es jedesmal wieder auf. Nicht, weil ich mich nicht traue, sagte Julius, aber ich kann mir das Genick dabei brechen! Schließlich probierte er wieder die erste Art, rückwärts hinunterzuklettern, und als er ein Stück hinter sich gebracht hatte, fragte er: Ist noch viel übrig? Nein, antwortete Willatz, fast nichts mehr, laß dich nur los! Aber Julius hing da oben lange und lange, ließ sich nicht los, krabbelte wieder auf das Dach hinauf, bis er auch dies aufgab; alles war so hoffnungslos für ihn, er begann zu heulen, und er sagte, daß er nicht länger hängen könne. Laß dich nur los! rief Willatz. Worauf Julius die Augen schloß und sich fallen ließ.

Siehst du wohl, das war nicht so gefährlich! sagte Willatz. Aber Julius hatte sich überall gestoßen und geschlagen, und jetzt, wo er befreit und außer Gefahr war, wurde er böse und fluchte fürchterlich. Willst du dir einmal ansehen, wie ich mich geschlagen habe, sagte Julius und zeigte seine Flecken und Beulen; ich kann dir sagen, das war doch eine anständige Höhe, da herunterzuspringen!

Aber was war das? Der Ball war aus Julius' Tasche herausgefallen und lag jetzt zwischen ihnen beiden.

Hast du auch so einen Ball? fragte Willatz.

Ball? Der muß schon hier gelegen haben, antwortet Julius. Plötzlich schlägt er um und bekennt, er habe den Ball mitgenommen, damit sie etwas zu spielen hätten.

Und sie schlagen Ball, sammeln Lube Merlangus pollachius, ein merlanartiger Fisch. und springen wie Füllen. Die Erde ist weit, und der Himmel ist hoch, und ihr Lachen und Rufen ist seltsam wie Möwenschrei. Auf einmal ist der Ball verschwunden, im Gras, zwischen den Steinen, ganz unbegreiflich. Sie suchen und suchen, sie finden den Ball nicht. Dabei ist nichts zu machen. Sie geben das Suchen auf.

Jetzt kommt der kleine Gottfred von einer der Nachbarhütten oben bei den Feldern. Er hat wohl erfahren, in welch vornehme Gesellschaft Julius gekommen war, und tapst nun scheu und schüchtern daher, um mit im Bunde zu sein. Da ist der Gottfred! wisperte Julius und sprang auf; wollen wir weglaufen! Und sie rannten. Und Gottfred wurde darüber so verlegen, daß er anfing, irgend etwas auf dem Felde zu pflücken, er kam nicht näher, setzte sich endlich auf die Erde und pflückte.

Weshalb sind wir eigentlich weggelaufen? fragt Willatz.

Ja, das will ich dir sagen, antwortet Julius. Wenn es jemand gibt, mit dem ich nicht zusammenkommen will, so ist es Gottfred. Mehr sage ich nicht.

Willatz verstand nichts, aber Gottfred wurde darum nur interessanter für ihn.

Seine Mutter hat Vogeleier von einem Brutplatz gestohlen.

Aber auch dadurch wurde Gottfred nicht weniger merkwürdig ein Kamerad, der eine solche Mutter hatte, war nicht ohne Mystik. Um die Aufmerksamkeit von Gottfred abzulenken, sagt Julius: Was denkst du nun von all den Lämmern, die nicht aus dem Mutterleib geboren werden?

Ein vollständiges Rätsel für Willatz. Niemals hatte er mit offenerem Munde dagesessen. Da sagt Julius:

Ja, die Schafe, die keine Lämmer bekommen, die Lämmer verfaulen in ihnen drin.

Jaso, sagt Willatz, die verfaulen?

Ja. Wir hatten ein Schaf zu Hause, bei dem war es so – nein, sieh nur den Gottfred, sitzt dort auf dem Felde, weshalb zum Teufel sitzt der Racker dort?

Doch jetzt hat er etwas anderes entdeckt, einen Reiter, oben am Wege, den Leutnant.

Da kommt dein Vater! wispert er, und dann bedenkt er sich keinen Augenblick mehr, sondern schleicht davon.

Willatz sah sich allein, auch Gottfred hat den Leutnant entdeckt und scheint ganz in sich zusammenzukriechen und verschwindet noch mehr da hinten im Felde. Willatz bleibt keine andere Wahl, als seinem Vater entgegenzugehen.

Bist du hier? fragt der Vater und hält sein Pferd an: Du hast das Mittagessen heute vergessen. Mit wem warst du zusammen?

Mit Julius.

Was für ein Julius?

Julius. Ich weiß nicht. Er ist aus der Hütte da, sagt Willatz und zeigt hin.

Geh heim und bitte deine Mutter um Verzeihung, sagt der Vater und reitet weiter.


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