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5

Der Leutnant hatte schon recht gehabt: das Mädchen Marcilie wäre auch ohne den Doktor ausgekommen. Nur die anderen hatten ihre Unpäßlichkeit ins Unglaubliche übertrieben und sie zu Bett gelegt. Tags darauf war sie wieder auf den Beinen, machte die Stuben des Herrn zurecht, wusch auf, steckte Kerzen in die Kronleuchter und in die Wandarme, durchs ganze Haus, klopfte die Teppiche aus, sah nach den Öfen – Marcilie schwebte oben und unten durch den ganzen nördlichen Flügel. Und am Abend ging sie wahrhaftig wieder die Treppe des Herrn hinauf.

Der Leutnant liegt auf seinem Sofa und raucht.

Marcilie verneigt sich, das hatte ihr der Herr wohl beigebracht, und sie machte es gut, und darum antwortete er mit einem freundlichen Kopfnicken. Marcilie weiß von selber, was es hier zu tun gibt, sie geht zum Herrn hin und bleibt vor ihm stehen. Und das macht sie auch gut. Ein junges Mädchen ist ein junges Mädchen, sie faßt etwas an und macht es hübsch und weich, sie sieht einen an, und sie sieht einen nicht vergeblich an, der Blick wirkt. Immer wirkt ein Jungmädchenblick.

Marcilie nimmt das Buch auf dem Tisch. Marcilie besaß Hände, deren Finger sich hintenüberbeugen konnten, aber sie waren groß und vom Waschen aufgequollen. Auf den Handrücken sah man keine Ader.

Ja, du fühlst dich vielleicht zu unwohl, um heute abend zu lesen, sagt der Leutnant und erhebt sich vor ihr.

Nein, antwortet Marcilie und ist zuversichtlich.

Sie setzt sich auf ihren Platz unter einem bestimmten Leuchter mit zwei Kerzen, dorthin setzt sie sich. Alsdann beginnt sie zu lesen, im Anfang etwas rot und befangen, aber nach und nach geht es besser und besser. Bei schwierigen Worten kraust sie die Stirn und ist gespannt; wenn ein längeres Stück gut ging und leicht zu lesen war, wird ihr Gesicht wieder klar und ruhig. Der Herr hat sich wieder hingelegt, und er bildet sich wohl ein, er sei ein mächtiger Pascha, Er liegt so, daß er dem wechselnden Ausdruck des Mädchens folgen kann, und dies scheint ihm Vergnügen zu bereiten; wenn Marcilie die Brauen hochzieht, kann es vorkommen, daß auch er die Brauen hochzieht. Diese kleine Lesestunde jeden zweiten Abend hat er durchaus nicht eingerichtet, um Marcilie lesen zu lehren, er verbessert sie nicht ein einziges Mal, das erscheint ihm gewiß zwecklos; aber er merkt gut, daß sie besser und besser liest, sie übt sich vielleicht auf eigene Hand in der Zwischenzeit. Er hat die Lesestunde einzig und allein zu seinem eigenen Vergnügen eingerichtet. Welch ein Pascha, welch ein Egoist!

Wohl ist er über das Alter hinaus, wo er um seiner selbst willen weibliche Liebenswürdigkeit erwarten könnte; aber da diese ihm sonst im Hause nicht zuteil wird und er sie anderseits nicht ganz entbehren kann, so erkauft er sie sich jeden zweiten Abend von seinem Mädchen – seiner Dienerin? So muß es wohl sein. Man hilft sich, so gut man kann.

Die Sitten der Trausier gleichen übrigens denen der anderen Thrazier, liest Marcilie in einer Übersetzung von Herodot, ausgenommen, soweit es die neugeborenen Kinder und die Toten betrifft. Wenn nämlich ein Kind geboren wird, rechnen die bei dieser Gelegenheit versammelten Verwandten alles Unheil zusammen, dem die Menschennatur unterworfen ist, und wehklagen über das traurige Geschick, das notwendigerweise alle Sterblichen im Leben erwartet. Stirbt dagegen einer, so geben sie ihre Freude zu erkennen, wenn sie ihn zu Grabe tragen, und freuen sich darüber, daß er jetzt so glücklich ist, befreit zu sein von allen irdischen Leiden.

Sie liest weiter, daß die übrigen Thrazier den Brauch übten, ihre Kinder zu verkaufen, aber unter der Bedingung, daß diese nicht im Lande blieben. Sie wachen nicht über ihre Töchter, dagegen halten sie ihre Hausfrauen sehr streng, behüten sie sorgfältig und kaufen sie für schweres Geld von deren Eltern. Sie tätowieren sich, und dieses gilt für sie als Beweis edler Abstammung; alle, die derartige Zeichen nicht besitzen, werden für Geringe angesehen. In ihren Augen ist nichts so schön als Müßiggang, nichts so ehrenvoll als Waffenhandwerk und Mord und Raub und Totschlag und nichts so verächtlich als Feldarbeit. Dies sind ihre merkwürdigsten Sitten –

Die Stunden gehen hin. Marcilie liest fleißig, dem Leutnant ist wohl. Dann und wann schweift sein Blick durch das Zimmer, an der gegenüberliegenden Wand hängt ein großer Spiegel, vielleicht wandern seine Augen dorthin, möglicherweise ist es des Mädchens Nacken, den er sehen will, vielleicht ergötzt dies den Pascha. Oder ist es vielleicht etwas anderes? Ist es ihm klar geworden, daß der ganze Vorgang mit diesem lesenden Mädchen und dem Herodot komisch ist und ihn selbst lächerlich macht? Weit gefehlt! Was er ausgeklügelt hat, ist nie lächerlich. Fällt ihm gar nicht ein. Ihm ist wohl, sein Auge schaut hierhin, es schaut dorthin und zwinkert so ruhig und so freundlich.

In diesem Zimmer hat er viele von den Sachen gesammelt, aus denen Klein-Willatz jetzt schon herausgewachsen ist: da steht sein kleines erstes Paar Schuhe aus grünem Saffianleder, da gibt es eine Puppe aus Stoff, eine Klapper, Kugeln, Rollen, Tannenzapfen. Ein Alphabet auf Pappe hat seinen Platz an der Wand bekommen, als ob es eine kostbare Malerei sei. Beim Anblick all dieser Dinge und eines jungen Mädchens, das ihm vorlas, hätte sich wohl ein Mann in seinem Alter zufrieden geben können.

Oder nicht?

Der Pascha erhebt sich, und Marcilie schließt das Buch, er findet Behagen an der Abwechslung. Marcilie legt das Buch auf seinen Platz zurück und nimmt ein Brettspiel hervor, rein herausgesagt ein Dambrett mit schwarzen und weißen Steinen. War das nun etwas für einen Willatz Holmsen? Und sie setzen sich hin und spielen.

Aber jetzt wird das Mädchen Marcilie noch befangener. Der Leutnant ist so geübt, er macht seine Züge ohne größeres Nachdenken, und wenn er auf ihren Zug wartet, sitzt er da und schaut sie an. Mitunter, wenn sie abends so spielen und sie zufällig die Augen aufschlägt, kann sie seinem Blick begegnen. War das nun etwas für einen Willatz Holmsen?

Sie spielen einige Partien, und er läßt sie gewinnen. Wie spaßig und eng mußte doch wohl während dieser Beschäftigung die Welt seiner Phantasie sein! Machst du diesen Zug, so gewinne ich! sagt er. Sie schrickt auf und will es ordentlich machen, ihre Hände berühren sich, ihr Atem trifft sich; sie spielen das Spiel zu Ende, aber er muß wohl etwas verrückt sein, er stöhnt. Ein paar Steine entgleiten ihm, fallen nieder, und sie bückt sich nach ihnen, jetzt – jetzt hätte der Tisch umfallen können, sein Gesicht war so sinnlos arabisch.

Danke, es ist genug! sagt er und steht auf.

Sie räumt auf und setzt alles wieder an seinen Platz, sie geht zur Tür und verneigt sich.

Ja ja, sagt er. Hm. Und wenn Daverdana morgen kommt, so sag ihr, was sie zu tun hat.

Nimm sie hier mit herauf und zeig ihr alles und lern sie an.

Ja.

Das ist alles.

Das war der letzte Abend mit Marcilie.

Aber so manches liebe Mal haben die Mädchen in der Küche sich miteinander über diese Leseabende in der Stube des Leutnants unterhalten.

Was in aller Welt treiben die nur da drinnen? sagt die Hausjungfer. Sind das nicht komische Käuze?

Oh, die Hausjungfer hat selbst genug von einem Kauz an sich, und wenn sie etwas Gewagtes sagt, bekommt sie einen schiefen Mund vor lauter Lachlust. Sie ist vom Westland, ist ›über‹ zwanzig Jahre und heißt Jungfrau Kristine Salvesen. Aber Gott sei der Jungfrau gnädig, wenn der Leutnant eines Tages ihre Gewagtheiten zu hören bekäme!

Glaubst du, sie sitzen da und sehen einander an? sagt sie.

Marcilie sagt, daß sie aus einem Buche vorläse, antwortet eine von den Stubenmädchen.

Lesen?

Das sagt sie selbst.

Die Hausjungfer bekommt einen schiefen Mund und äußert: Ja, sie lesen. Sie buchstabieren und setzen zusammen. Hohoho! lachen alle Mädchen und stehen gekrümmt da und pressen die Hand vor den Mund.

 

Es ist ein Sommerabend, und die Sonne scheint, und der Leutnant geht noch einmal hinaus, geht und wandert, geht und schaut, und weil er ein Mann der Ordnung ist, bis zum äußersten ist, sieht er nicht nur hinauf zu seinen Fenstern, sondern er sieht auch hinauf zu den Fenstern seiner Frau – die stehen offen. Man kann Stimmen hören. Seine Frau spricht mit jemand. Da er ein Mann der Ordnung bis zum äußersten ist, dürfte seine Frau gern etwas leiser mit dem Doktor sprechen.

Aber das Mädchen ist ja schon wieder auf, sagt sie.

Und der Doktor antwortet:

Wieder auf? So habe ich die Gefahr wohl etwas übertrieben, gnädige Frau, um heute wieder hier vorsprechen zu können.

Der Leutnant geht in den Garten. Dort gibt es einen Springbrunnen, den sein Vater angelegt hat; dessen Strahl steigt in die Luft und steht wie eine gebogene Stahlklinge vor der Sonne. Er blickt hin über den großen Garten, hin über die Felder, hin über das Meer. Es liegt ein fremdes Boot mit Mannschaft an der Lände vertaut, das wartet wohl auf den Doktor. Schwer und ruhig leuchtet der Fjord, er ist so still wie vor einem Gewitter, weit draußen gegen die Felshöhen liegt eine dunkle Wolke, die ist violett, sie hat eine breite Kante von Gold. Es ist, als quelle aus ihr ein Goldfutter hervor.

Der Leutnant geht bis zur Gartenmauer hin, er hört Schritte hinter sich, aber er dreht sich nicht um. Weil er ein Mann der Ordnung bis zum äußersten ist, verschließt er das Gartentor und zieht den Schlüssel ab.

Ho, ruft es hinter ihm. Schließen Sie bitte nicht zu, Herr Leutnant. Einen Augenblick …

Man ruft nicht Ho, wenn man einen Willatz Holmsen meint. Der Leutnant wendet sich langsam um.

Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, ich bin hier gewesen und habe nach dem Patienten gesehen, nach dem Mädchen, sagt der Doktor. Da der Leutnant ihn nur betrachtet, nimmt er auch den Hut ab und grüßt: Guten Abend. Die Krankheit des Mädchens hat nicht lange gedauert, sagt er.

Ja, sie ist wieder auf, sie ist gesund, antwortet der Leutnant.

Ja.

Ja.

Sie betrachten einander. Der Leutnant beginnt zu lächeln.

Entschuldigen Sie, sagt der Doktor, kann ich hinauskommen?

Da der Leutnant keine Miene macht, zu öffnen, fragt er halb in Spaß und halb in Angst: Oder soll ich über die Mauer?

Nur, wenn es Ihnen keine Ungelegenheiten macht, antwortet der Leutnant.

Ungelegenheiten?

Andernfalls werde ich Sie hinüberwerfen.

Der Leutnant hatte seine Beherrschung verloren, er hielt den großen Torschlüssel so krampfhaft fest, daß seine Knöchel weiß wurden. Der Doktor sah an der Mauer hinauf und sah an der Mauer hinunter, warf einen letzten ratlosen Blick auf den Leutnant und machte ein paar hastige Ansätze. Es war ein so stiller Abend, es war ein so schönes Wetter, so recht dazu geschaffen, um über eine Mauer zu klettern. Als der Leutnant sich etwas später beruhigt hat und ins Haus gehen will, trifft er seine Frau in der Tür; seine Frau steht in der Tür, Adelheid. Er hatte nichts dagegen, daß sie dort stand, er grüßte. Bitte schön, hier könnte sie den Mann sehen, der dem Mädchen Marcilie zum letztenmal zugenickt hatte. Er sah freundlich und überlegen aus.

Aber sie packte es falsch an und sagte:

Ich habe auf Sie gewartet, aber Sie waren fort. Sie gingen draußen spazieren.

Er antwortete:

Sie pflegen abends nicht auf mich zu warten. Das liegt Ihnen so fern. Haben Sie wirklich zu so später Stunde auf mich gewartet?

Bitte schön, wollen Sie nicht hineingehen?

Sie gingen hinein.

Ich habe auf Sie gewartet, um Sie zu fragen, was für einen Narren von Arzt Sie für uns bestellt haben.

Der Doktor? Ich kenne ihn nicht. Er ist Distriktsarzt. Er ist seit zehn Jahren Ihr Arzt.

Seit zehn Jahren. Aber jetzt nicht mehr.

Warum das? Ich kenne ihn nicht, aber Sie kennen ihn doch? Ole Riis – von ihm selbst ist wohl nicht viel zu erzählen; aber seine Schwester Charlotte Helene, die den Magnaten Rodvanyi in Ungarn heiratete, hatte ja ein ganz ungewöhnliches Schicksal. Hat er denn nicht auch Ihnen von ihr erzählt?

Ach, Sie reden nur so.

Ich rede nur, was ich weiß. Dieser kleine unwissende und selbstsichere Mensch hat mich wirklich nicht sonderlich beschäftigt.

Ja, Sie reden nur so, Willatz. Ich hätte Sie gern um etwas gebeten; aber wenn ich darüber nachdenke –

Was ging eigentlich in Frau Adelheid vor? Sie war so erregt, sie schlang plötzlich die Arme um ihren Mann und sagte:

Oh, weshalb sind Sie nur so? Ich bitte Sie um Verzeihung!

Zu seinem eignen höchsten Erstaunen erwiderte er ihre Zärtlichkeit nicht mehr, er stand steif da und wandte den Kopf ab.

Da ließ sie ihre Arme sinken, wankte zur Seite und ergriff einen Stuhl.

Sie verstand von alledem wohl nichts, verstand nicht, daß sie ihnen beiden einen unheilbaren Schaden zugefügt hatte, daß seine Langmut zu Ende war, daß an ihre Stelle sein trotziger Wille getreten war.

Sie fühlte nur ihre Demütigung.

Weshalb kamen Sie dann herein? sagte sie.

Um zu hören, was Sie mir zu sagen hätten, antwortete er. Einzig und allein deshalb.

Oh, jetzt hatte er Oberhand, und er gebrauchte sie. Sie fühlte das und antwortete:

Ich habe nichts mehr zu sagen.

Das können Sie doch nicht im Ernst meinen?

Wollen Sie wissen, was ich Ihnen zu sagen hatte? fragte sie und erhob sich steil. Der Doktor – ich wollte Sie bitten, diesem Bauern zu sagen, daß wir seiner nicht mehr bedürften. Jetzt wissen Sie es.

Hm, sagte der Leutnant.

Aber das berührt Sie wohl nicht?

Ich kann mir, antwortete ihr Mann unerträglich überlegen, ich kann mir keinen angenehmeren Auftrag vorstellen.

Durch seinen Ton gereizt, rief sie: Das tun Sie ja doch nicht, nein, das tun Sie gewiß nicht.

Sie wissen nicht, was Sie sagen.

Ich kenne Sie, fuhr sie erhitzt fort, Sie reiten am liebsten im Schritt, Sie setzen Ihre Person nicht aufs Spiel. Das ist eine Eigentümlichkeit von Ihnen. Aber wie Sie wollen. Und gute Nacht.

Als sie schon die Tür erreicht hatte, besaß er noch die boshafte Selbstbeherrschung zu sagen:

Sie deuteten vor ein paar Tagen beim Mittagessen an, daß Sie gern einmal wieder eine Reise nach Ihrer Heimat machen möchten. Von meiner Seite aus ist nichts dagegen einzuwenden – das Geld liegt jedenfalls bereit – jetzt wie früher.

Pause.

Gut. Danke.

Aber dieser Vorschlag ihres Mannes verwirrte sie sehr, sie ging vornübergebeugt aus der Stube hinaus, mit langen, hastigen Schritten, um allein zu sein, bevor ihre Tränen kamen.

Der Leutnant jedoch steckte seinen Ring wieder an die rechte Hand.


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