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I.
Die Geschwister.

Unter einem großen Birnbaume, der reich mit goldenen Früchten besäet war, saßen drei Kinder und spielten mit den kleinen Kugeln von Glas und Thon, welche in jedem Staate Deutschlands einen andern Namen haben. Ein hübsches Mädchen von etwa zehn Jahren trat zu der Gruppe und wurde gebeten, eine Geschichte zu erzählen, wozu es auch sofort bereit war. Die muntre Julie rief jubelnd: »das ist herrlich, Mathilde, lasse uns doch wieder das schöne Märchen hören von den drei Schwestern, welche in den Wald kamen, wo alle Bäume silberne und goldene Blätter hatten.«

»Dummes Zeug,« sagte ein großer auffallend schöner Knabe, »es giebt keine Wälder mit solchen Bäumen, wäre es so, dann würden alle Leute hinlaufen, sie abzupflücken; aber es ist besser, ich kümmre mich nicht um Euch und Eure dummen Geschichten, sondern gehe meinen eigenen Weg.«

Nach diesen Worten schüttelte er den Baum und füllte seine Taschen mit Früchten.

»Dieser Baum gehört Dir nicht, er ist des Nachbars Eigenthum,« rief zürnend Leonhard.

»Dummer Junge, es kommt dem jüngsten Bruder nicht zu, den älteren zu hofmeistern. Wenn Du es für Unrecht hältst, daß ich mir von den unzähligen Birnen einige abschüttle, so thu es, mich kümmert es wenig. Du brauchst ja keine davon zu kosten.«

Nach diesen Worten kehrte Arthur, so hieß der schöne Knabe, den andern Kindern den Rücken und schlenderte hinab nach dem Dorfe.

»Es ist gut, daß Arthur sich entfernt,« sagte Mathilde, »er kann nichts thun, als spotten und ungezogen sein, mein Vater lobt Euch Alle, oft, allein von Eurem ältesten Bruder sagte Papa noch gestern zu meiner Mutter: ›an Arthur werden Revierförsters nicht viel Gutes erleben, er ist ein Egoist.‹«

»Was ist ein Egoist?« fragte die kleine Julie.

Mathilde gab eine ziemlich richtige Erklärung über dieses Wort, die Kinder achteten jedoch nicht viel darauf, sondern wiederholten ihre Bitte wegen der Erzählung, und setzten sich so, daß sie jedes Wort Mathildens deutlich hören konnten.

Während diese Kinder ruhig unter dem Baume verweilten, ging Arthur langsam hinter dem Dorfe immer weiter. Zuweilen blieb er stehen und schaute sich um, denn er wünschte unbemerkt zu bleiben, dann, als er keinen Menschen gewahrte, ging er vorwärts bis an den Saum des großen, wohlgepflegten Waldes, welcher sich zwischen Arthur's Heimatsdorfe und der nächsten Stadt ausbreitete.

Arthur stand jetzt vor einem großen, aber etwas verfallenen Hause, an welches ein nicht kleiner, aber verwilderter Garten grenzte.

Wie oft war der Knabe schon bei diesem Hause vorübergegangen, wie oft vor demselben stehen geblieben. Unzähligemal hatte er sich gewünscht, diesen Garten betreten zu dürfen, dessen Bäume im Lenz im vollen Blütenschmucke prangten, und im Herbst mit edlen Früchten belastet waren. Auch das Haus erregte seine Neugier, und eines Tages fragte er seine Eltern, wem denn eigentlich dieses große, vergraute Gebäude gehöre und von wem es bewohnt werde.

Sein Vater hatte damals Arthur's Frage nicht beantwortet; als der Knabe sie wiederholt, hatte der Revierförster mürrisch geantwortet: »was kümmert es dich, Bursche.«

Natürlich war durch diese Erwiederung die Neugier des Knaben noch lebhafter angeregt, und kaum sah er sich mit seiner Mutter allein, so bestürmte er diese mit Fragen.

»Liebes Kind,« sprach sie gütig, denn sie war immer mild gegen den geliebten Sohn, »ich weiß es selbst nicht genau, wer gegenwärtig der rechtmäßige Eigentümer des Hauses ist, welches Du so oft betrachtest. Es ist verfallen, und Dein Vater hört nicht gern davon sprechen, am wenigsten Dich.«

»Mutter, ich habe gehört, daß es bewohnt ist, des Nachts schimmert Licht durch die Fenster, und drinnen soll es über alle Maaßen prächtig sein, die alte Susanne hat es erzählt.«

»Diese Frau ist halb taub, halb blind und schwatzt viel, achte nicht auf ihre Worte und schlage Dir das Haus und dessen Bewohner aus dem Sinn!«

Seit dieser Unterredung waren drei Jahre vergangen, der Knabe hatte wohl an das Haus gedacht, war aber nicht hineingekommen. Heute jedoch drückte er an dem Schloß der Eingangspforte dieses, für Arthur merkwürdigen Hauses, sie sprang auf, er trat ein.

Ein großer, schwarzer Hund sprang ihm bellend entgegen, aber Arthur beschwichtigte ihn bald. Der Knabe sah sich in der großen Hausflur um, sein Tritt hallte auf dem steinernen Fußboden wieder, er betrachtete mit Staunen das künstlich ausgeschnitzte Treppengeländer, es war zum Theil beschädigt, aber zum Theil noch immer schön. Langsam, sich fortwährend umschauend, stieg Arthur die Stiege hinan, schritt über einen langen dunklen Gang, und stand jetzt vor einer hohen Thüre von geschwärztem Eichenholz, an welche er anklopfte.

Er hörte von Innen die Tritte eines Mannes, ein Riegel wurde weggeschoben, die Thüre sprang auf. »Ach, Du bist's, mein Junge,« sagte der Mann, welcher Arthur die Thüre öffnete, »tritt näher, was bringst Du mir, oder was wünschest Du von mir?«

Arthur sah zu dem großen, stattlich aber etwas wild aussehenden Manne mit einer Mischung von Verehrung und Furcht auf und antwortete: »Sie haben mir gesagt, daß ich Sie einmal besuchen sollte, auch wollten Sie mir allerlei Schönes zeigen und ich sollte die fremde Dame sehn, von welcher man weiß, daß sie in die Zukunft blicken kann, sobald sie nur will.«

»Gewiß, mein Junge, denn ich habe eine große, mächtige Liebe zu Dir, aber siehst Du, ich habe die herrlichen Sachen noch nicht alle hier, und was hier ist, noch nicht ausgepackt, doch vergebens sollst Du nicht zu mir gekommen sein, ich will Dich wenigstens bewirthen, folge mir.«

Nach diesen Worten ging der Mann in das Nebenzimmer, gefolgt von Arthur, der sich jetzt in Umgebungen sah, die ihn mit Staunen und Entzücken erfüllten.

Das Gemach, in welchem die beiden Bekannten sich befanden, war mit aller Pracht und all dem feinem Geschmack ausgestattet, den man nur in den Pallästen der Fürsten findet. Der Knabe war ganz betroffen, als er sich in dem hohen Venetianerspiegel in Lebensgröße sah, dann wandte er sich zu den großen Gemälden, die aus breiten goldenen Rahmen von den Wänden herab schauten und flüsterte: »O, wie schön!« Der Mann weidete sich an des Knaben Bewunderung, endlich sagte er: »In das Zimmer der Dame, das noch viel schöner ist, kann ich Dich heute nicht führen, aber setze Dich und genieße das, was ich Dir vorsetze.«

Hierauf nahm der Mann aus einem Wandschranke eine silberne Fruchtschaale, welche mit Apfelsinen, saftigen Datteln und Feigen von der besten Sorte gefüllt war, Früchte, von welchen der Knabe bisher nur gehört hatte. Er langte auf den Zuspruch des Mannes tapfer zu, und ließ sich auch den Malaga schmecken, welchen der Wirth dem jungen Gaste in einem großen Kristallkelche reichte.

»Nun,« begann Wilfried, so hieß der Mann, »wie gefällt es Dir hier, und wie findest du diesen Wein? Trinke ihn fein langsam und verspeise diese Früchte dazu, da wird er Dir nicht zu Kopfe steigen. Also, sage mir, gefällt es Dir besser hier, als daheim in deinem schlichten Jägerhäuschen?«

»Das will ich meinen,« antwortete der Knabe, »hier ist es ja wie man es sich im Himmel nicht schöner denken kann.«

»Möchtest Du immer in solchen Zimmern wohnen, Früchte wie diese genießen und auch Gewänder haben, welche zu diesen Umgebungen passen, dazu alle Taschen voll Geld um jedes Ding zu kaufen, das deinen Augen gefällt?«

»Freilich wohl, aber dies wird mir nicht zu Theil«, antwortete der Gefragte.

»Warum nicht? Der Mensch kann Alles erreichen, was er sich vorgesetzt hat, einem jungen Menschen mit so aufgewecktem Kopfe und solchem Aussehn, wie Du hast, steht die ganze Welt offen. Sage mir einmal: was hast Du bisher gelernt?«

Mit dem Hochmuth eines Knaben, der auf seine Schulweisheit stolz ist, erwiederte Arthur. »Ich schreibe eine gute Hand und rechne wie der Teufel, im Lateinischen, in Geschichte und Geographie bin ich stets der beste und mein Oheim, der für sehr streng und auch für sehr gelehrt bekannt ist, sagt: aus mir würde etwas Tüchtiges werden, er lobt sogar mein Griechisch.« Wilfried lachte.

»Hahaha, daran erkenne ich den Herrn Pfarrer, also Du sollst studieren, mein Söhnchen? Was wirst Du davon haben? Wenn Du bis in dein dreiundzwanzigstes Jahr Dich geplagt, und wie es in der Studentensprache heißt, geochst hast, kommst Du als Candidat mit einigen Thalern an eine Schule oder wirst Hofmeister bei den ungezognen Buben eines reichen Edelmannes, verliebst Dich in dessen gute schöne Tochter, wirst wieder geliebt und ungeachtet Deiner persönlichen Vorzüge aus dem Hause gejagt. Doch das verstehst Du noch nicht, ich sage Dir nur dies, und das wird Dir klar sein, Du wirst als Dorfpfarrer oder Prediger in einem Landstädtchen nicht einmal so wohnen, wie in dem einfachen Hause deines Vaters, statt Weines wie diesen hier wird selbst an hohen Festtagen Dünnbier Dein höchster Genuß sein, und Kartoffeln mit Hering werden bei Dir für eine Leckerei gelten. Wähle Dir einen anderen Beruf, mein Junge, lerne Etwas, was Dir Geld einbringt, viel Geld, dafür kannst Du Reisen machen, die Wunder des Orientes sehn, und so viel Datteln und Ananas speisen, als hier zu Lande Heidelbeeren.«

»Ananas? ich habe einmal eine Ananas abgebildet gesehn, ja wer Geld hat, kann auch diese haben,« erwiederte Arthur, »aber wie fange ich es an, schnell reich zu werden?«

»Das will ich Dir schon ein andres Mal sagen, fülle Dir jetzt die Taschen mit diesen Südfrüchten und komme in sechs bis acht Tagen wieder zu mir, da sollst Du eine ächt spanische Chokolate mit mir trinken, und ich will Dir Manches erzählen. Daheim darfst Du aber nicht sagen, daß Du mich gesprochen hast, sonst wird Dir das Wiederkommen verboten.«

»Das weiß ich Herr Wilfried.«

»So, ei, wer hat Dir denn untersagt, mit mir zu sprechen, dein Vater oder deine Mutter, mein Söhnchen?«

»Der Vater, wie er allein mit mir war!«

»So! Nun er will eben nicht, daß Du erfährst, wie schön es draußen in der Welt ist; auch weiß er wohl, daß ich Dich gut tractiren kann und wünscht nicht, daß Du Geschmack an Dingen finden sollst, welche Du Dir später doch nicht erwerben kannst. Indeß hast Du ja Deinen eigenen guten Verstand und über Deinen künftigen Lebensberuf muß ein so gescheidter Bursche, wie Du einer bist, selbst entscheiden. In Amerika hat jeder junge Mensch, sobald er zwölf Jahr alt ist, freien Willen, hier ist es anders, also geh, damit Du nicht zur Abendsuppe zu spät kommst und gescholten wirst.«

Der Mann schob Arthur noch einige goldene Aepfel in die Tasche, und öffnete die verriegelte Stubenthüre; als ob es ihm jetzt erst einfiele, warf er leicht hin: »wie geht es deiner Mutter? Ist sie krank, ich sah sie noch nie, so lange ich hier bin!«

»Sie ist nicht krank, sie ist in den letzten Tagen zu Hause geblieben,« erwiederte Arthur, »kennen Sie meine Mutter?« fragte er nach einer Pause.

Wilfried antwortete nicht, er warf dem Knaben einen eigenthümlichen Blick zu und sagte, indem er eine verabschiedende Bewegung machte: »also in sechs bis acht Tagen kannst Du wieder kommen, zu derselben Stunde.«

»Wenn Sie es erlauben, Herr Wilfried,« sagte höflich der Knabe.

Der ernste Mann riegelte die Thüre wieder zu, als er allein war, stützte seinen Kopf in die Hände und sah finster vor sich nieder. Er dachte an die Zeit, wo er, ein stolzer, einnehmender Mann zum ersten Mal in das Dörfchen gekommen war, und auch an den Tag wo er in der Stadt Arthur's Mutter zum ersten Mal gesehen hatte.

»Wie anders wäre mein Leben geworden, wenn sie« – murmelte er, »aber jetzt ist nichts mehr zu ändern.« Während sich Wilfried seinen Erinnerungen überließ, ging Arthur mit raschen Schritten auf sein Vaterhaus zu.

Er war nicht nur ein selten schöner Knabe, er besaß auch einen lebhaften, hochstrebenden Geist und neben Fleiß und Wißbegier, Abenteuerlust und Genußsucht. Bisher hatte er von der Welt noch nichts gesehn, als sein Dörfchen und die nächste kleine Stadt, in welcher der Bruder seiner Mutter als Geistlicher ein Leben führte, wie es einem Seelsorger ziemt, still, prunklos, den Wissenschaften und seinem Berufe gewidmet. Ein solches Leben bestimmten die Eltern Arthur, ihrem Sohne; aber sie lasen nicht, oder vielmehr sie verstanden nicht, in dessen Seele zu lesen, sie bedachten nicht, daß die Bücher, welche Arthur in die Hände bekommen hatte, ihn mit Sehnsucht erfüllt hatten, die Länder zu sehn, die Thaten zu vollbringen, von denen die Schriftsteller erzählten. Arthur zählte erst zwölf Jahr, aber schon hatte er fest beschlossen, nur noch einige Jahre das gute Gymnasium der kleinen Stadt zu besuchen, und dann in eine große Stadt zu gehn. Er besaß Geist und bereits auch Kenntnisse genug, um einzusehn, daß ein Knabe von zwölf Jahren noch nicht viel unternehmen kann, und daß die Grundlage zu dem glücklichen Fortkommen eines unbemittelten Menschen, Kenntnisse sein müssen.

Als er seine Geschwister noch friedlich neben den beiden andern Kindern unter dem Birnbaume sitzen sah, lachte er vor sich hin; »das sanfte Julchen wird dereinst eine gute Hüterin für ihr Nest abgeben, glücklich wenn kein Regenwetter einfällt sobald sie Wäsche trocknen will, und Bernhard mit den blonden Locken mag sich dereinst auf die Kanzel in Reinthal stellen, ich thu' es sicher nicht.«

Die Geschwister sprangen auf, als sie den ältesten Bruder kommen sahen, sagten der kleinen Nachbarin Lebewohl und gingen, den lieben Arthur, – der wenn er dazu aufgelegt war, doch am schönsten erzählte, – bei den Händen fassend, dem Forsthause zu, wo die Mutter sie erwartete.

Glückliche Kinder! was wird euer Schicksal sein? Und welch ein Mann wird Arthur werden, entweder ein bedeutender, der sich und Andern nützt, oder ein Zerstörer des eigenen und fremden Glückes. Je nachdem der Führer ist, welcher ihn leitet.


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