August Hagen
Norika
August Hagen

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Der Johanniskirchhof mit den Bildwerken Adam Kraffts.

Der Nürnbergische Chronist Johann Müllner erzählt:

1475

»Gegen das Ende dieses Jahres am St. Andreastage griff die Pestseuche und ein schreckliches Sterben um sich. Wer gestern Freunde hatte, hatte sie morgen nicht mehr, und wer morgens wohl auf war, lag abends auf der Bahre. Da standen viel Häuser offen und preisgegeben, denn niemand war, der sie verschließen sollte, da waren die Straßen öde, wenn nicht ein Trauerzug die Ruhe unterbrach. Die Glocken wurden nicht gezogen, denn sonst wäre deß kein Ende gewesen, aber für beständig hörte man das Meßglöcklein, da hin und her mit der Hostie der Priester ging, um Sterbende zu berichten, und jeder sagte sich: heute gilt es dem Nachbarn, morgen mir. Was sonst Segen brachte, brachte dir jetzt Fluch. Wenn du den Kranken wartetest, so war dein Schicksal, mit ihm begraben zu werden, wenn du dem darbenden Bettler einen Almosen gabst, so gab er dir Pestbeulen wieder, wenn du in die Kirche gingst, um Trost zu suchen, so stieg dir aus den Gewölben verpestender Leichenduft entgegen.

1476

Das Sterben dauerte fort und vermehrte sich noch im Herbste. Da verfügte der Rat, alle Kranke ohne Ansehen der Person aus der Stadt in die Lazarette bringen und niemand, so er an der Seuche gestorben, in der Stadt begraben zu lassen. Es ward außerhalb der Stadt ein weiter Raum bei der Johanniskirche abgesteckt und eingeweiht, woselbst alle beerdigt werden sollten. Aber die Leute waren nicht damit zufrieden und verlangten in den Kirchen neben den Ihrigen eine Ruhestatt. Es hat dieses Sterben gewährt bis zum April des nachfolgenden Jahres.«

Soweit der Chronist. Nürnberg ist die erste deutsche Stadt, die außerhalb der Ringmauern der Stadt ihren Kirchhof anlegte. Dies ist der Johanniskirchhof, unweit dem Tiergärtnertor, nicht weniger berühmt wegen des Andenkens ausgezeichneter Männer, die hier ruhen, als wegen der Werke der Kunst, die hier prangen und dem Tode den Sieg abgewinnen. Der Chronist bemerkt, daß die Leute der löblichen Einrichtung des Rates widerstrebten, wie alles neue ans Liebe zur Gewohnheit bei der Menge Widerspruch findet, wenn es nicht Vergnügen und eitlen Tand bezweckt. Allen Edlen, denen das Wohl der Stadt am Herzen lag, war jetzt die Aufgabe gestellt, dem neuen Kirchhof den Ruf der Heiligkeit zu geben, um auf dem Wege der Andacht die Sache durchzusetzen. Martin Ketzel und Adam Krafft streiten um die Ehre, ein tief eingewurzeltes Vorurteil siegreich überwunden zu haben.

Georg Ketzel, Bürger in Nürnberg, war ein gottseliger Mann, der lange Vorsteher des heil. Geistspitals war. In einer Kapelle ordnete er hier zur Erbauung seiner selbst und gleichgesinnter Freunde die Vorstellung des heil. Grabes in Jerusalem an, nach Zeichnungen und Berichten andächtiger Pilger, die von daher gekommen waren. Die Wände der Kapelle ließ er braun tünchen und mit Moos und Muscheln verzieren, damit sie das Ansehen eines Felsens gewönnen. Seine Kinder waren ihm dabei behilflich, namentlich sein Erstgeborner, Martin. Daher kam es, daß Martin schon als Knabe gern sich mit dem Gedanken beschäftigte, selbst zum heiligen Grabe zu wallfahrten, um ein genaues Abbild davon zu erhalten. Und es war kein Knabentraum. Als 1477 der Herzog Albrecht von Sachsen, von heiligem Gefühl durchdrungen, nach dem gelobten Lande zog, schloß Martin sich an das Gefolge desselben an und begrüßte glücklich die Erde, wo der Heiland verblutete und beerdigt ward. Nicht rastete er hier, sich Geist abtötenden Empfindungen hingebend, sondern von früh bis spät ging er damit um, alle heiligen Stätten genau zu vermessen und auszuzeichnen. Mehr als einmal maß er mit Schritten ab die Länge des Weges von Pilatus' Hause bis zur Schädelstätte und die Entfernung der sieben Fälle voneinander. Mit einem Schatz glaubte er heimzukehren. Wie groß aber war sein Schrecken, als er in die Vaterstadt angelangt, seine Schriften durchsah und die Vermessung des Wegs vermißte, auf dem der Heiland vom Blutverhör zum Kreuze geführt wurde. Unglücklich über den Verlust, sah er seine Reise nach Jerusalem für halb verfehlt an. Aber ein rechter Eifer wird nie erkalten und gölt' es, Felsen zu sprengen und Meere auszuschöpfen. Nach neun Jahren trat Martin Ketzel die Reise von neuem an in dem Zuge des Herzogs Otto von Bayern. Alle Mühseligkeit des Weges überwand er froh, und zum zweitenmal am Grabe des Erlösers knieend, vergaß er alles, was ihn betrübt und bekümmert hatte. Noch genauer vermaß er jetzt die der Andacht geweihten Örter und ihre Entfernung voneinander und ergriff dann den Pilgerstab zur Heimkehr. Tag und Nacht wahrte er das Verzeichnis mit den Vermessungen wie eine hochheilige Reliquie und freute sich ihrer in Nürnbergs Mauern. Von seinem Hause am Tiergärtnertor bis zum Johanniskirchhof ließ er jetzt darnach die Entfernung der sieben Fälle Christi durch Pfeiler bemerken. Sein Freund Adam Krafft mußte diese Pfeiler durch erhabene Bildwerke verzieren und einen Kalvarienberg mit lebensgroßen Figuren anlegen. Ein Werk großer Mühen und großer Kosten. Seitdem galt der Kirchhof für einen heiligen Wohnsitz der Entschlafenen, und wer ihn noch jetzt betritt, erneuert voll dankbarer Rührung das Andenken des Stifters und des Künstlers. Diese Nachrichten, den Johanniskirchhof betreffend, hatte ich aus den Büchern und der Erzählung des Schenkwirtes entnommen. Das war ein dicker, beredter Herr, der von allem wußte, was in Nürnberg im Altertum und in der Gegenwart geschah. Mit ihm verplauderte ich manches Stündchen, wenn er in der Gaststube wohlbehaglich im Lehnstuhle saß. Kaum hatte er heute die Erzählung vom Johanniskirchhof geendigt, so lief ich in meine Stube hinauf.

Hier erwartete ich den teuern Herrn Imhoff, der mit mir Krafft's frische Begräbnisstelle besuchen wollte. Wo konnte man des Meisters Erinnerungsfeier würdiger begehen, als hier an seinem Grabe, wo nicht eine Leichenrede zweifelhaftes Lob verschüttete, sondern wo seine Werke predigten, wie fleißig und fromm er war? Am Arm des Freundes ist die Erweckung des Andenkens Heimgegangener Lieben tröstlich und wohltuend, wie der Hauch des Nachsommers, der der Natur erstorbenes Grün von neuem zum Leben erwärmt.

Der pünktliche Freund kam zur Stunde, und unter traulichen Gesprächen die Stimme des Gefühls von jedem Zwang entbindend, begaben wir uns an Dürers Wohnung vorbei nach dem Tiergärtnertore. Hier zeigte mir Imhoff Ketzels Wohnung. Das Haus gehörte ehemals dem Nürnbergischen Patrizier Hans Rieter, einem Vorfahren Pirckheimers, und das Steinbild eines Ritters erinnerte an seinen Namen. Nach Ketzels Bestimmung bezeichnete es die Stelle, wo Pilatus seine Hände mit Wasser wusch, aber sein Herz in Blut badete. Von hier ab sieht man an sieben Stellen die sieben Fälle Christi in viereckigen Steinbildern. Wen Christi Leidensgeschichte noch niemals rührte, er sehe hieher und durch Tränen wird er seinen Hartsinn büßen. Was bewundere ich mehr, den Schmerz der Jünger und Frauen, oder die Wut der Peiniger oder die Langmut des Kreuzträgers? Wie er hier mit der blutigen Dornenkrone, unter der Last erliegend, den Frauen zuruft: Ihr Töchter von Jerusalem, nicht weinet über mich, sondern über Euch und Eure Kinder! Wie die Trauernden die Hände falten und wehklagen im Nonnenschleier mit verbundenem Kinn! Wie die Kriegsknechte in der Schalksnarrentracht unmenschlich den Gottmenschen verhöhnen und ihn an den Haaren fortzerren wollen!

Unter jeder Steintafel befinden sich Unterschriften, die also lauten:

1. »Hie begegnet Christus seiner würdigen Mutter, die vor großem Herzeleid unmächtig wird. 200 Schritte von Pilatus' Hause.

2. Hie hilft Simon Christo sein Kreuz tragen. 295 Schritte.

3. Hie tröstet Christus die Frauen. 380 Schritte

4. Hie hat Christus sein Angesicht in der heil. Veronica Schleier abgedruckt. 500 Schritte.

5. Hie wird Christus von den Juden geschlagen. 780 Schritte. 6. Hie fällt Christus erschöpft zur Erden, 1100 Schritte.«

Hinter dem sechsten Wandpfeiler erhebt sich der schöne Kalvarienberg mit den Gekreuzigten. Auf diese Werke hat Meister Krafft den größten Fleiß verwendet, so daß man deutlich jede Sehne und Ader erkennt. Ruhig verscheidet der Heiland, denn seine Bitte um Vergebung ist erhört. Bei den Schächern siehst du hier Reue, dort Verstocktheit, hier Tränen, dort Zähnefletschen. Nicht war es not, wie wir dies auf alten Gemälden sehen, daß hier ein Engel dem Bekehrten naht, während dort ein Teufel dem Bösen die Seele aus dem Munde zerrt. Unfern dem Kreuze erblickt man eine Gruppe des Jammers, Johannes neben den Frauen, die die Leidensmutter in den Armen halten. Hinter dem Kalvarienberg steht der letzte Wandpfeiler.

»7. Hie liegt Christus tot vor seiner gebenedeiten Mutter.«

Nur mit Mühe zog ich mein Auge von den lieben Bildern zurück. Allein die Holzschuhersche Grabkapelle und ein Kruzifix, die die Kirchhofsmauer überragend uns winkten, versprachen uns neue Genüsse auf dem Gefilde, wo der Tod die Garben sammelt. Wir traten durch das Kirchhofstor und sahen hier von grauem und rötlichem Granit Leichenstein an Leichenstein, die mit Wappen und Inschriften versehen waren. Zwischen ihnen wucherten ungepflegt Blumen und Gesträuch. Nur das Grab des künstlichen Werkmeisters Adam Kraffts überdeckte noch kein Stein. Blumen brach ich ringsumher und streute sie mit stiller Wehmut auf den frisch geschütteten Hügel. Nachdem mir Imhoff manches Schöne aus dem Leben des frommen Meisters mitgeteilt hatte, entfernte er sich, um den Kirchner zu rufen, der uns die Holzschuhersche Kapelle öffnen sollte.

Langsam schritt ich zwischen den Gräbern, teils mit den Inschriften, teils mit eignen Gedanken beschäftigt. An einem Grabe in der Ferne sah ich eine Jungfrau weilen, die emsig einen Blumenkranz flocht, um ein schwarzes Totenkreuz damit zu schmücken. Ungesehen nahte ich mich der Trauernden und erkannte an dem schönen Wuchs und den blonden Locken meines Herzens Erkorne. Leise schlich ich jetzt zu ihr und im Überschwang des Gefühls faßte ich sie an, damit sie mir nicht wieder entrinnen konnte, vergessend die Heiligkeit des Ortes und die Sprödigkeit Mariens. Bei der teuern Asche, die du hier betrauerst, beschwöre ich dich, entscheide über mein Glück und meine Zukunft. Sie bat mich, sie ungestört am Grabe ihrer Mutter beten zu lassen. Auf dem Kreuz las ich: »Aemilie Rosenthalerin.« Allein die Heftigkeit meiner Empfindung verhöhnte alle Nachgiebigkeit, und ich wich nicht, sondern nur heftiger bestürmte ich sie mit Bitten.

Wie es mir immer wider Willen ging, so auch jetzt. Der Kirchhof füllte sich plötzlich mit Menschen und aus Furcht, daß meine Absicht verkannt, daß die Sittsamkeit des Mädchens verkannt werden möchte, trat ich scheu zurück. Maria nahm diesen Zeitpunkt wahr und verschwand. Von mehreren Trägern ward ein Grabstein auf den Kirchhof gebracht, und neben ihnen ging ein Mann in blauem Wamse, den ich erst nach längerm Ansehen als den alten Vischer erkannte. Vor Eifer und Geschäftigkeit schien er gar ärgerlich und zankte mit den Trägern, die es ihm nicht recht machten, so daß ich ihn nicht anzureden wagte. Unterdes fand sich Hans Imhoff zu mir, der mich schon eine Zeitlang gesucht hatte. Er erzählte mir, wie der alte Vischer auf rührende Weise seine Liebe zum verewigten Krafft noch über die Lebensgrenze hinaus ausdehnte. Obgleich schon ein Greis, hätte er es sich nicht nehmen lassen, den Sarg seines alten Kunstgenossen mitzutragen, so viele jüngere Künstler auch dazu erbötig waren, und jetzt käme er her, einen Leichenstein, durch mühsam gesammelte Beiträge dazu instand gesetzt, auf des Freundes Grab zu setzen. Mich ergriff die Erzählung und innig drückte ich Imhoffs Hand mit dem Worte: Es ist doch ein köstlich Ding um die Freundschaft!

Imhoff ging mit mir nun in die geöffnete Holzschuhersche Kapelle, wo sich das letzte Werk von Adam Krafft befand, das der Tod ihn nicht ganz vollenden ließ. Dies war die Grablegung, von der mir einzelne Figuren der selige Meister selbst in seiner Werkstatt gezeigt hatte. Durch die Bemalung und durch Goldverzierungen hatten sie außerordentlich an Schönheit gewonnen. Die Gruppe war in der Kapelle in einer tiefen Bogenblende, die wohl zehn Fuß in der Höhe und Länge maß, aufgestellt. Fünfzehn Figuren von unvergleichlicher Schönheit stellten ein Bild der tiefsten Trauer und des heiligsten Schmerzes dar. Wie du, Herr Jesus Christ, mit Wunden und Striemen bedeckt, in das Felsengrab versenkt wurdest und in Herrlichkeit erstandest, so hat auch Krafft die Asche der Zeitlichkeit abgeschüttelt und strahlt nun im Glanze der Verklärung.

Wir verließen den heiligen Friedhof, und auf dem Rückwege labten wir uns noch einmal an den genannten Meisterwerken. Ein Streit der verschiedensten Gefühle raubte mir, als ich mich wieder allein in meinem Zimmer befand, alle Ruhe und Lust. Da ward mir ein Brief gebracht, von einer mir unbekannten Hand geschrieben. Er lautete:

»Geehrter Herr Heller!

Wenn ich Euch etwa gefiel, so war es nur darum, daß ich Euch unbekannt war, daß Ihr nicht wußtet, wie ich von niedriger Herkunft und ganz arm bin. Ich schreibe dies, während Vater Veit an seinem Kerbstock mit Tränen abzählt, wie viele Jahre, Monate und Wochen ich bei ihm im Hause gewesen bin. Nie wird es meine Dankbarkeit zulassen, mich von ihm zu trennen. Ich bitte, verändert nicht Eure Gesinnungen gegen den armen blinden Vater.

Maria Rosenthalerin.«

Also ein förmlicher Absagebrief, der alle meine Hoffnungen auf einmal zu vernichten schien. Allein, ich weiß es nicht, wie es zuging, als ich den Brief ein über das andre Mal las, fühlte ich mich wunderbar beruhigt.


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