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19. Richard und Marie

Der Zwischenakt auf einem großen Theater bietet wieder ein ganz anders belebtes und nicht minder interessantes Bild dar, als das Treiben hinter den Koulissen. Dort befindet sich nun Niemand als die Arbeiter, welche neue Koulissen aufhängen, Versatzstücke herantragen, »aus dem Wege!« rufen, dort plötzlich stehen bleiben, wenn ihnen ein Vorgesetzter des Theaters in den Weg kommt, und hier einen der niederen Völker, der nicht schnell genug ausweicht, unsanft auf die Seite stoßen. Alles Andere strömt auf der halbdunkeln Bühne zusammen, wo sich auch gewöhnlich der Intendant einfindet, seine kleinen Audienzen ertheilt, sowie Tadel und Lob spendet. Die ersten Künstlerinnen sind in die Garderoben geeilt, nachdem ihnen vorher die Sängerin-Mutter vor einer der Koulissen einen warmen Shawl umgeworfen.

Lieber Leser, der du vielleicht nicht weißt, wie eine Sängerin-Mutter beschaffen und woran sie zu erkennen ist, betrachte dir während der Vorstellung eine Dame, die, ehe der Akt anfängt, hinter der Prima-Donna die Bühne betritt, ihr während des Gehens den Schleier in malerische Falten wirft, oder eine Feder etwas kokett herabbiegt, die ihr bei langen Kleidern die Schleppe sorgfältig nachträgt und meistens eine große Tasche am Arm hat, worin sich kölnisches Wasser, Eibischsaft, etwas Hustenzucker und ein Fläschchen mit Gerstenschleim befindet, – eine Frau, gewöhnlich nicht sehr groß, aber meistens wohlbeleibt, gekleidet mit einer halb verblichenen, kümmerlichen Eleganz. Wenn du sie näher anschaust, erinnerst du dich dunkel, jene Mantille oder diesen Kopfputz früher einmal auf der Bühne gesehen zu haben. – Sie lobt ihre Tochter in den Zwischenakten, damit diese den Muth nicht verliert, sie bringt ihr einen Stuhl, bis eine neue Scene kommt, und dann schickt sie dieselbe mit einer guten Ermahnung hinaus vor die Lampen. Ist die Sängerin-Mutter früher selbst Sängerin gewesen, so bleibt sie an der Koulisse stehen und singt die ganze Partie mit, natürlich leise, wobei sie sich gesteht, daß sie das zu ihrer Zeit Alles viel besser und schöner gemacht, daß es keine Stimme mehr gäbe, daß die Kunst zu Grabe gehe und daß sie selbst der letzte Mohikaner gewesen. – Ist die Sängerin-Mutter aber eins jener harmlosen Wesen, das zu Hause kocht, wascht, bügelt, auf der Straße die Sonnen- und Regenschirme trägt, die Tochter auf allen Reisen begleitet, im Vorzimmer schläft, die zudringlichen Courmacher abweist, sowie die guten Freunde des Hauses unterhält, bis Mademoiselle ihre Toilette gemacht, die aber dafür keine Vergangenheit hat und, wenn sie einmal nach Hause schreibt, nur verstohlener Weise den Namen des kleinen Gäßchens auf die Adresse setzt, wo sie einstens gelebt, – so trippelt sie hinter den Koulissen auf und ab, folgt seitwärts der Tochter in großer Angst, bald vor-, bald rückwärts, entsetzt sich über die Todtenstille des Hauses oder athmet tief auf bei dem kleinsten Applaus, ist in beständiger Furcht, ihre Tochter möchte irgend ein Unglück haben, einen Fehltritt thun, kurz, ist das rührende Bild einer jener unglückseligen Hennen, die zufälligerweise statt Hühnern Enten ausgebrütet und die nun verzweiflungsvoll am Ufer des Teiches zurückbleiben müssen, während jene in dem gefährlichen Element lustig umherplätschern. –

Auch die Tänzerinnen erscheinen im Zwischenakte, leichtgeschürzt, kurzgerockt, mit feinen Knöcheln und sehr starken Waden, und drängen sich eifrig um den großen Portalvorhang, dessen beide Oeffnungen beständig von einem neugierigen Auge benützt werden. Man sieht, ob dieser oder jener Platz besetzt ist; man gibt sich kleine Zeichen und tritt endlich seine Stelle schmollend einer Anderen ab.

Nachdem das wichtige Geschäft des Hinaussehens beendigt, umgaukelt die Sylphidenschaar den Intendanten, der ruhig und groß in dieser Brandung stehen bleibt, ein unerbittlicher und hier wenigstens unerschütterlicher Fels. Da naht sich eine von ihnen tänzelnd und schwänzelnd, die Hände auf die Hüften gestützt, mit hin- und herwiegendem Oberkörper, und trägt keck eine Bitte vor um Urlaub oder Zulage, von der sie übrigens im Voraus weiß, daß sie nicht bewilligt wird. Dort pirouettirt eine aus der Koulisse in rasendem Umdrehen und steht endlich vor dem Beherrscher dieser Bretter mit einem großen Aplomb still, indem sie erschreckt thut, als habe sie ihn jetzt erst gesehen.

Auch junge Schauspieler treiben sich in dem Zwischenakt auf der Bühne umher, schauen ebenfalls gelegentlich durch den Vorhang, sprechen mit Sängerinnen und Tänzerinnen, machen dem Intendanten eine tiefe Verbeugung, des Winks gewärtig, wo er die Gnade haben wird, sich zu erinnern, daß sie ebenfalls auf der Welt sind. Auch würdige alte Männer stehen da, ruhig und groß; der Regisseur im dicken Paletot und großen Filzschuhen, grämlich und verdrießlich, wenn nicht Alles nach Wunsch gegangen; der Inspizient, der sich entschuldigt, daß die Pistole nicht zur rechten Zeit losgegangen, oder daß Herr X. einen Augenblick zu spät aufgetreten. Und zu ihnen tritt der Kapellmeister, wischt seine Brille ab, vertheilt eine Prise und meint, der erste Akt sei nicht ganz schlecht gegangen, nur seien es der Bässe zu wenig, die Violinen zu schwach besetzt, und wenn dem nicht abgeholfen würde, solle der Henker dirigiren.

Die Choristen und Choristinnen halten sich in der Nähe der großen Oefen auf. Erstere sind gelangweilt, denn sie haben den ganzen Abend draußen zu stehen, und dann wird die Geschichte voraussichtlich bis gegen zehn Uhr dauern; von den Choristinnen stehen einige in Gruppen bei einander, unterhalten sich nicht ohne Neid von den neuen und viel geschmackvolleren Kostümen der Tänzerinnen, daß da nichts gespart werde an Sammt und Seide, daß die Tricots immer schöner und die Röcke immer kürzer würden. So sprechen die Jüngeren vom Chor, während die alte Garde daneben auf einigen Bänken von dem langen, ermüdenden Stehen ausruht und wollene Strümpfe strickt.

Das dauert hier Alles so lange, bis der Obermaschinist gemeldet, die neue Dekoration stehe, meistens aber, bis der Inspizient aus den Garderoben zurückkommt und dem Regisseur anzeigt, daß Madame X. oder Fräulein Y. mit ihrer Toilette so weit gediehen sei, daß der zweite Akt beginnen könne.

Das Umkleiden der Damen ist ein schrecklicher Hemmschuh im Theater, und manches Stück, das durch ein rasches Spiel sich die Gunst des Publikums erwerben würde, wird zu Grabe getragen, weil der erste Liebhaber oder die erste Liebhaberin es für nöthig findet, sich jeden Akt in einem neuen Kostüm zu zeigen. Von einer Dame kann man sich das schon gefallen lassen, aber bei einem Manne grenzt solch maßlose Eitelkeit schon an's Fabelhafte und sollte nicht geduldet werden.

»Platz vom Theater!« ruft der Regisseur. Und das hat dieselbe Wirkung, wie der erste Hahnenschrei nach der Walpurgisnacht. Rechts und links stieben sie auseinander die glänzenden, luftigen Gestalten, verbergen sich vor dem Lichte, das gleich von den Prosceniumslampen aufsteigen wird und flattern in die dunkeln Winkel zurück, wo sie angewiesen sind, sich ruhig und still zu verhalten, bis abermals ihre Zeit gekommen. Wenn sie aber auch nach dem Theaterreglement angewiesen sind, kein Geräusch zu machen, nicht hörbar zu plaudern und nicht laut zu lachen, so wird diesem Befehle doch zum Oefteren keine Folge geleistet, und der Inspizient muß sein: »bssst – bsssst! – seien Sie doch still in's Kukuks Namen! –« vielmals und meistens ohne großen Erfolg wiederholen.

Jetzt zum zweiten Akt ist noch ein Zuwachs auf die Bühne gekommen, der während des ersten Akts mit dem Ankleiden beschäftigt war, das Ballet nämlich, welches nun auch gerade nicht zur Vergrößerung der Ruhe beiträgt. Hinter dem letzten Vorhang arbeitet ein Pas de cinq und macht einen schwierigen Pas nochmals durch; dazu klopft der erste Tänzer, der ihn arrangirt, so leise wie möglich in die Hände, um sich vornen nicht bemerkbar zu machen; aber die Prima-Donna auf der Scene hört diesen Lärm doch; namentlich wenn sie an das große Bogenfenster im Hintergrunde tritt, um nach ihrem Geliebten auszuschauen, bemerkt sie deutlich, wie die vier Tänzerinnen auf die Bretter springen, daß es jedesmal einen dumpfen Schlag gibt; und das trägt gerade nicht zu ihrer Erheiterung bei, vielmehr sagt sie ein paar spitzige Worte, als sie nach der nächsten Scene abgeht, welche sich aber die Tänzerinnen nicht sehr zu Herzen nehmen, denn die Prima-Donna ist verhaßt, weil sie neulich einmal gesagt, der Tanz sei keine Kunst und die Tänzerinnen nur beziehungsweise Künstlerinnen. –

Mademoiselle Marie hatte sich während des Anziehens fortwährend mit dem Schicksal der armen Katharine beschäftigt: sie sprach mit ihrer Freundin Clara darüber, doch hatte diese sie mit ihren großen klaren Augen so unbefangen und unschuldig angesehen und eine so unpraktische Antwort gegeben, daß Marie wohl einsah, die Freundin wisse in dem Falle ebenso wenig zu helfen als sie selbst.

»Weißt du was,« hatte Clara gesagt, »sprich mit Therese darüber, die wird dir einen guten Rath ertheilen können, denn wie sie kennt Niemand die Stadt und ihre Verhältnisse.«

Darauf hatte Marie ihre Toilette beendigt, indem sie ein Hütchen mit Blumen recht keck und verwegen auf der linken Seite des Kopfes befestigte. Unter demselben wallten die üppigen Haare hervor, und als sie sich im Spiegel besah, mußte sie gestehen, daß sie gar nicht unvortheilhaft aussehe. Und darin hatte sie Recht: sie war nett und zierlich vom Kopf bis zu den Fußspitzen.

Mit sich selbst zufrieden, tänzelte sie die Treppen hinab, und als sie auf die Bühne trat, warf sie einen forschenden Blick nach rechts und links, vielleicht um Mademoiselle Therese zu finden, vielleicht auch nicht; und letzteres erscheint uns sehr wahrscheinlich, denn Therese lehnte an der ersten Koulisse und schien gleichgiltige Dinge mit einem der Tenoristen zu sprechen. Marie aber wandte sich nach dem Hintergrunde und schritt, die Füße sehr auswärts, mit dem Rock hin- und herwedelnd, langsam bei der achten Koulisse vorbei, wo sich wieder Einige aus der Gesellschaft des ersten Aktes versammelt hatten. Andere aber fehlten, und unter diesen Richard, der ganz hinten beschäftigt war, irgend ein neues Seil über eine Rolle zu werfen. Daß er dies sehr ungeschickt that, wollen wir ihm im gegenwärtigen Augenblicke nicht übel nehmen, denn er sah weder auf das Tau noch auf die Rolle, vielmehr aufmerksam hinter die Koulisse, wo sich die Tänzerin vorsichtig näherte.

Diese bemerkte im Näherkommen den Zimmermann recht wohl, that aber nicht dergleichen, sondern wandelte über die Bühne, scheinbar in der einzigen Absicht, um auf die andere Seite zu gelangen.

Richard ließ das Seil los, das er in der Hand hatte, und welches nun mit ziemlichem Geräusch auf den Boden niederpolterte. Die natürliche Folge hievon war, daß die Tänzerin heftig erschrak, stehen blieb und sich umschaute, wer ihr diesen Schrecken eingejagt.

»Ah! verzeihen Sie, Marie!« sagte der Zimmermann, »wenn ich Sie ein wenig erschreckt, aber ich konnte nicht dafür! Als ich Sie kommen sah, glitt mir das Tau aus der Hand, und da liegt es.«

»So, so, Sie sind es, Richard?« entgegnete das junge Mädchen unbefangen. »Ich habe wahrhaftig geglaubt, es fiele mir Etwas auf den Kopf – Man muß sich sehr in Acht nehmen,« setzte sie altklug hinzu, »denn alle Augenblicke passirt hier Etwas, wie der Regisseur sagt.«

»Ei der Tausend!« versetzte schmunzelnd der Zimmermann, »beim Ballet ist doch lange nichts vorgefallen, denn da geben wir alle doppelt Achtung, das können Sie mir glauben.«

»Und weßhalb geben Sie beim Ballet doppelt Achtung, Herr Richard? – Das wird den meisten von euch ebenso gleichgiltig sein, als wenn einmal bei der Oper oder beim Schauspiel ein Unglück geschieht.«

»Den meisten freilich,« erwiderte Richard, indem er die Hände reibend näher trat, »aber mir ist ganz besonders daran gelegen, das können Sie mir glauben, Marie. Und wenn Sie auf eine Flugmaschine müssen,« setzte er lächelnd hinzu, »da schau ich die Drähte ganz besonders an und habe meine Augen überall. Wehe denen drunten an der Wende, wenn sie mir nicht genau aufpassen! Ja wahrhaftig, ich würfe ihnen einen Gewichtstein an den Kopf.«

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar,« sagte das Mädchen, das bereitwillig stehengeblieben war; »es ist immer angenehm, wenn Jemand da ist, der ein klein wenig Interesse an einem nimmt, wenn man auf der Bühne ist.«

»Nun, ein klein wenig brauchen Sie gerade nicht zu sagen,« entgegnete der Zimmermann, indem er sich durch das volle Haar strich; »sagen Sie nur keck ein großes Interesse. Sie wissen doch, Marie, daß es so ist, und auch nicht bloß auf dem Theater, sondern auch sonst, – wo es nun gerade ist, auf der Straße, in Ihrem Hause, wo ich Sie sehe und wo ich Sie nicht sehe.«

»Ei der Tausend! Sie machen mir ja eine förmliche Liebeserklärung, Richard!«

»Wenn Sie es so nennen wollen, so thun Sie es, Marie; aber der Name ist gleichgiltig. Die Sache ist jedoch wie ich gesagt – soll mich der – na! – ich will nicht fluchen! – ich habe es Ihnen schon lange gestehen wollen, aber ich weiß wohl, ihr vom Ballet seid ganz eigentümliche Frauenzimmer. Da mag jeder Narr kommen und euch schöne Sachen vorschwatzen, das ist euch schon recht und ihr hört gerne zu; aber wenn es unsereins mit euch gut meint und euch das gerade heraussagt, so lacht ihr ihn aus und lauft nachher zu den Anderen und sprecht: denkt euch nur, das und das hat mir der Richard gesagt. Aber wenn ich so Etwas erführe, Marie, das wäre mir – hart, recht hart.«

Nun müssen wir dem geneigten Leser versichern, daß diese Liebeserklärung, wie die Tänzerin es nannte, ihr eigentlich nicht so unverhofft kam, wie man von einem Blitz sagt, der aus heiterem Himmel herabfährt. Der junge Zimmermann hatte ihr schon unterschiedliche Proben seines Wohlwollens gegeben, hatte, wie er vorhin angedeutet, bei allen vorgekommenen Schwierigkeiten gewissermaßen über sie gemacht, die Versenkungen, wenn es ihm möglich war, selbst geleitet, die Flugmaschine durch sein eigenes beträchtliches Gewicht jedesmal vorher probirt. Auch waren alle diese kleinen Aufmerksamkeiten nicht unbemerkt an dem Herzen der Tänzerin abgeglitten; wir müssen das eingestehen, wie wir auch vorhin nicht verschwiegen, daß Marie vielleicht etwas Anderes gesucht als ihre Kollegin Therese. Bis jetzt hatte sie aber dies Benehmen Richards gegen sie nur für Scherz gehalten und demselben weiter keine Folge gegeben. Was wollte sie auch? Er war der einzige Sohn eines ziemlich vermöglichen Vaters, ein hübscher Mensch, dem wohlhabende Bürgerstöchter nachschauten, und in seinem Handwerke, der Zimmerei, so wohl erfahren, dabei mit der Mechanik des Theaters so wohl vertraut, daß ihm hier eine dauernde Anstellung nicht fehlen konnte. – Und nun sagte er ihr mit einfachen Worten, daß er nur an sie denke, daß er sie liebe. –

Das Mädchen schrak ordentlich zusammen und in ihrem Geiste tauchten allerlei seltsame und schöne Phantasmen auf. Sie glaubte, daß er wahr spreche; ach! und dieser Gedanke war doch zu süß, um ihn unbedingt annehmen zu können. Sie, in den traurigsten und gedrücktesten Verhältnissen geboren und erzogen, bis jetzt von dem fürchterlichen Willen ihrer Tante abhängig, sollte einstens noch glücklich werden können, sollte nicht untergehen in dem Abgrund, neben dem sie schon lange gewandelt; denn daß es Richard ehrlich mit ihr meine; wenn er es einmal gesagt, davon war sie fest überzeugt. Er war als sehr solid und arbeitsam selbst bei den Theaterleuten bekannt, und sogar der Intendant hielt große Stücke auf seine Redlichkeit und gab Alles auf sein Wort; denn bei schwierigen Flugwerken zum Beispiel mußte sich Richard immer zuletzt überzeugen, ob Rollen und Taue auch in Ordnung seien, und erst wenn er gesagt, es sei Alles richtig, gab sich der Chef zufrieden.

Marie hatte nicht bemerkt, daß, während sie so träumte, Richard ihre beiden Hände ergriffen hatte und freundlich lachend den Versuch machte, ihr in die niedergeschlagenen Augen zu blicken. Sie sah das lange nicht, denn jetzt plötzlich fielen ihr die Worte der arme Katharine ein, als sie ihr gesagt: wenn du einmal einen braven Mann hast und es dir gut geht, und du hast eine halbe Stunde Zeit, so besuche mein Grab und gib meinem armen Kinde, wenn es noch lebt und du es an einer Ecke stehen siehst, ein kleines Almosen. – – Diese Worte verwandelten sich in ein freundliches Bild, und sie stand mit Richard Hand in Hand an einem kleinen armseligen Grabe und legte auf Dornen und Disteln, die dort wucherten, einen frischen Kranz von duftenden Rosen. – Ah, wenn das wahr würde!

Da schrak sie empor, denn draußen im Saale applaudirte gerade das Publikum lang und heftig; – Etwas von ihrer Phantasie war der Wahrheit gemäß, und wenn auch nicht neben einem Grabe, so stand sie doch Hand in Hand mit Richard auf der halbdunkeln Bühne und er sagte lachend: »Na, Mädel, lange genug hast du dich bedacht, ob du Ja oder Nein sagen sollst. – – Nun, was ist's, Marie? Bin ich dir angenehm oder nicht? Willst du es mit mir wagen oder hast du auch so verfluchte Liebschaften im Kopf wie die Anderen und willst lieber ein kurzes lustiges Leben führen?«

»Nein, nein,« entgegnete eifrig das Mädchen, »gewiß nicht, Richard!«

»Na, ich glaub's schon,« versetzte er gutmüthig. »Ich glaube, daß du ein braves, ehrliches Mädchen bist; es ist das freilich ein Wunder, wenn man deine Tante – die Gott verdammen soll! – ansieht. Aber glaub' mir, Marie, ich habe dir aufgepaßt, so genau ich konnte, und namentlich immer auf deine Arme und Hände gesehen –«

»Und warum das?« fragte sie lächelnd unter Thränen, die langsam aus ihren Augen hervorquollen.

»Ei, das will ich dir sagen,« entgegnete er lustig. »An den Armen und Fingern sieht man's gewöhnlich bei euch zuerst; weißt du, da lassen sich auf einmal verdächtige Ringe sehen und eine Armspange; und das sind des Teufels Ketten, mit denen ihr festgeschlossen werdet. – Neulich hatt' ich dich schwer im Verdacht.«

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte sie fröhlich. »Da hatte mir auf der Bühne Therese eins von ihren Armbändern geliehen. Ich mußte doch als Hofdame geschmückt kommen!«

»Jetzt aber plaudern wir bald eine Viertelstunde zusammen,« sagte er nun scheinbar ungeduldig, »und ich weiß noch nicht einmal, woran ich bin. Gleich muß ich hinüber zum Verwandeln, deßhalb sage mir, wie du es meinst, einfach Ja oder Nein. Wenn du Ja sagst, so ist die Sache abgemacht und ich komme dann nächstens zu deinem alten Drachen, um mit ihr ein ernstes Wort zu reden. – Nun? – Wenn du aber Ja gesagt, so habe ich ein Recht auf dich wie du auf mich, und dann, Marie, nimm dich in Acht und stelle dich so, daß die bösesten Leute nur Gutes von dir sagen können; denn wenn mir einmal Einer herkäme und so allerlei schlechtes Zeug in die Ohren zischelte, da gäb's ein Unglück, das kann ich dich versichern. – Nun, wie ist's?«

»Ja – ja!« sagte die Tänzerin, nachdem sie ihre beiden Hände zurückgezogen: »ich mag dich wohl leiden, Richard; und was das Andere anbelangt, da kannst du ganz ruhig sein. Du weißt, wie mir das Treiben so vieler junger Mädchen verhaßt ist.«

»Amen!« sprach er, indem er ihre rechte Hand ergriff und sie schüttelte. »Wenn es nicht so strenge gegen das Theaterreglement ginge, dann müßtest du mir einen Kuß geben, aber ich hole mir ihn später nach; wenn du an deinem Kanale aussteigst, wirst du mich schon sehen. – Adieu, Marie!«

Damit ging er an sein Tau zurück, während die Tänzerin über die Bühne hinüberflog und sich an einem einsamen Plätzchen auf eine Rasenbank unter einer Gruppe von gemalten Palmbäumen niederließ. Warum sie hier die Hände faltete und eine Zeit lang heftig weinte, wußte sie nicht. Aber endlich erschrak sie, daß sie es gethan, denn sie dachte an ihre rothe Schminke, und als sie erschrocken auf ihren Busen sah, bemerkte sie auf dem hellgrünen Atlas große dunkle Flecken.

Bald waren diese Schäden übrigens wieder vertilgt; Clara hatte ihr geholfen, sich auf's Neue zu schminken und dabei einen Theil des süßen Geheimnisses erfahren. Clara war hiedurch ebenfalls nachdenkend geworden, und als die Andere nun abermals hinabhüpfte, um Therese aufzusuchen, blieb sie droben in der Fensterecke sitzen, stützte den Kopf auf die Hand und versank in tiefe Träumereien.

Therese befand sich noch immer hinter der ersten Koulisse: sie hatte ihren rechten Fuß auf einen kleinen Schemel gestellt und hielt sich mit der einen Hand an der Ranke einer Waldblume, die über ihrem Kopfe herabhing. »Wo steckst du denn, mein Schatz?« rief sie der herankommenden Marie zu. »Ich habe schon nach dir gesehen, aber du warst verschwunden. – Ich hoffe doch nicht –«

»Ich suchte dich auf der andern Seite,« entgegnete Marie.

»Hast du was Neues erfahren? – Von ihm – von dem sauberen Herrn auf der zweiten Gallerie?«

»Nein, nein! Meine Tante läßt mich, Gott sei Dank! in Frieden; sie hat in den letzten Tagen nichts darüber gesprochen: ich hoffe schon, sie hat meinen inständigen Bitten Gehör gegeben.«

»So, das hoffst du?« erwiderte Therese. »Da kennst du die Alte schlecht. Ich will dir gelegentlich einmal erzählen, wie sie es mir gemacht hat. Nimm dich aber zusammen, das rathe ich dir. Der, den du mir da oben gezeigt hast, läßt nicht so leicht nach, das ist einer von den stillen Scheinheiligen, die im Trüben fischen und im Dunkeln langsam aber sicher gehen.«

»Aber am Ende habe ich doch einen freien Willen!« sagte ängstlich Marie.

»Den hast du nicht, arme Sklavin,« entgegnete die Andere, indem sie sich hoch ausrichtete. »Schau mich an, ich sehe auch gerade nicht aus wie Jemand, der sich leicht zwingen ließe. Und doch – man wird am Ende müde. – Aber sprechen wir nicht mehr darüber!« Damit warf sie die Oberlippe trotzig in die Höhe, ließ die Federn ihres Kopfputzes langsam durch ihre Finger gleiten und setzte mit ruhigem Tone hinzu: »Du hast mich also gesucht! – nun denn, was soll's?«

Marie erzählte nun ihrer Kollegin von der armen Nähterin, von dem Kinde, das man derselben geraubt, von dem man aber den Todtenschein beigebracht, und das sich nun wahrscheinlich irgendwo befände, wo es, so befürchte die Mutter, langsam dahinsiechen werde.

Ueber die Züge Theresens hatte sich während dieser Erzählung ein so höhnisches, ja böses Lächeln gelagert, daß man ordentlich davor zurückschrecken konnte. Sie biß ihre Zähne aufeinander und schien angelegentlich die Spitze ihres seidenen Schuhes zu betrachten. In Wahrheit aber schaute sie weit hinaus durch Gebälk und Fundament, tief in die Erde und mußte dort etwas Schreckliches erblicken, denn plötzlich schrak sie auf, schauderte zurück und preßte ihre Hand mit einem tiefen Athemzuge auf's Herz.

»Du hast mich nicht angehört,« sagte Marie, während sie ihre Freundin ängstlich betrachtete. »Du hast mich gewiß nicht verstanden.«

»Oh! es ist leicht, das zu verstehen,« entgegnete Therese; »ich begreife dich vollkommen und weiß, was du willst. Es gibt solche Orte, wo man kleine Kinder aufbewahrt, bis der gnädige Gott sie zu sich abruft. Aber dahin zu kommen ist sehr schwer; sie sind verschlossen, wie das Grab, dessen Vorzimmer sie ja auch sind. – Laß mich nachdenken; mit Gewalt durch die Polizei ist nichts zu machen, sie hat ja einen Todtenschein erhalten, also existirt das Kind eigentlich nicht mehr. – Wenn ich mich auch irgendwo hinwenden wollte, wo eine solche Anstalt besteht, glaube mir, man läßt mich ebenso wenig eindringen, wie die Mutter jenes Kindes. O, die sind schlau wie der Teufel!«

»Aber du könntest mir doch eine Adresse geben, damit ich's ihr mittheile.«

»Die ziehen bald hierhin, bald dorthin – aber wart' einmal, – da fällt mir eben ein, in dem Hause, wo der alte Schellinger wohnt – du kennst ihn doch, unsern armen Freund, da hinten steht er – da soll sich so was befinden.«

»So wollen wir hin und ihn fragen.«

»Das wäre sehr unklug; bei dir hätte es am Ende nichts zu sagen, aber ich könnte mich in ein schönes Licht bringen,« entgegnete Therese, sonderbar lächelnd. »Nein, nein, das müssen wir gescheidter anfangen. Ich traue in dem Punkt dem alten Fuchs nicht recht: wir müssen Jemand an ihn abschicken, der ihn vorsichtig ausholt.«

»Du hast Recht, Therese,« versetzte das junge Mädchen. »Aber wem sagen wir es?«

Die Andere zuckte die Achseln und antwortete nach einigem Nachdenken: »Das ist für mich eine unangenehme Kommission; wenn ich es auch einem sage, so machen sie ihre schlechten Witze; und ich hasse das.«

»Ich weiß schon, was ich thue,« sagte eifrig Marie. »Ich erzähle die ganze Geschichte dem Zimmermann Richard, der soll mit dem Schellinger sprechen.«

»So, dem Richard erzählst du es, mein Schätzchen?« entgegnete die andere Tänzerin lachend. »Ah! das ist dein Vertrauter! Ja, ja, man treibt so allerlei, wenn man mich sucht und sich dann erst ungeheuer lange hinter dem letzten Vorhange aufhält. – Nun, erschrick nur nicht: du brauchst dich dessen nicht zu schämen, und wenn er es gut mit dir meint, was ich hoffe und glaube, so greif' zu, und wie ich schon früher gesagt, nimm dich zu Hause doppelt in Acht. – Aber jetzt geh' und sprich mit Richard darüber, erzähle ihm offen die ganze Geschichte, wie du mir soeben gethan.«

Diesen Rath befolgte denn auch Marie, und man kann sich leicht denken, daß sich der Zimmermann von der Tänzerin gern hinter eine Koulisse führen und sie da unter vielen Neckereien die traurige Geschichte vortragen ließ.

Das Resultat dieser Erzählung war, daß er während des dritten Aktes den Garderobegehilfen auf die Seite nahm und ein längeres Gespräch mit ihm hielt. Darauf trat er zurück hinter die achte Koulisse, wo diesmal der erste Maschinist selbst, der Herr Hammer Vater, die Konversation leitete und von seinen Kriegsthaten erzählte.

Der alte Schellinger hatte sich indessen auch bald wieder näher geschlichen: er zuckte oftmals die Achseln, wenn der Andere irgend etwas besonders Seltsames vorbrachte, schüttelte bedeutsam den Kopf und flüsterte auch wohl dem Schwindelmann zu: »Ich versichere dich, er lügt fürchterlich!«

Bald ging die Oper zu Ende, der Vorhang fiel für heute Abend zum letzten Mal und wurde dann langsam wieder emporgezogen, nachdem die Zuschauermenge fast das Haus verlassen. An den Eingangsthüren wogten und drängten noch die letzten Massen und in den Gängen sah man noch Kopf an Kopf.

Richard, der heute Abend gar keine Eile zu haben schien, befand sich auf der halbdunkeln Bühne und neben ihm stand Schellinger, während etwas rückwärts Herr Hammer einigen der Zimmerleute und Maschinisten noch eine merkwürdige Geschichte erzählte.

»Ja – a, ja – a,« sagte er, »das habe ich noch vergessen, wie es damals in dem Kriege bei uns zuging. Als mich eines Tags der selige Bernadotte zu sich kommen ließ und mir eine Depesche auftrug, – es handelt sich vom Auswendiglernen und ich erzähle euch das nur, weil heutigen Tages unsere Schauspieler so viel Wesens daraus machen, wenn sie einmal in ein paar Tagen eine lumpige Rolle memoriren müssen, – Hammer, sagte Bernadotte zu mir, hier ist eine Depesche an Napoleon. Hast du wohl Courage, sie durch die feindliche Armee an den Kaiser zu bringen? Wenn sie dich aber damit erwischen, so schießen sie dich todt. – Ist denn der Inhalt so gefährlich, Excellenz? fragte ich. – Sehr wichtig und gefährlich, entgegnete er und zeigte sie mir. Das waren sechzehn enggeschriebene Seiten Französisch. – Wissen Sie was, Excellenz, sagte ich ihm, vertrauen Sie mir die Depesche eine halbe Stunde an, dann komme ich wieder und sie sollen mit dem Hammer zufrieden sein. – Und er gab sie mir und eine halbe Stunde nachher brachte ich ihm seine Depesche wieder und sprach: Excellenz wollen die Gnade haben und mich gefälligst überhören. – Und das that er, und ich sagte ihm die Depesche her, alle sechzehn Seiten und irrte nur zweimal, indem ich Allerhöchstdieselben sagte, wo nur Höchstdieselben stand.«

»Brrr!« machte Schwindelmann. Die Andern lächelten verstohlen und Schellinger blickte melancholisch im Kreise umher, als sei er betrübt, daß man ihm den Rang abgelaufen. Dann schlich er zu dem Theaterdiener hin und sagte ihm abermals: »Nein, der Hammer übertreibt; was der Mensch sich das Lügen angewöhnt hat!«

»So, nun sind wir fertig!« rief der erste Maschinist; »das dauert immer lange, bis das Haus leer ist. Ja – a, ja – a, wenn ich mir denke, daß es hier einmal brennen könnte, das müßte ein fürchterliches Unglück geben.«

»Noch schlimmer als in C.,« sagte Herr Schellinger, »denn da hatten sie doch weite Treppen und Gänge, und Viele konnten entfliehen; die da verbrannten, blieben sitzen, weil sie vor Schrecken wie erstarrt waren.«

»Nein, nein,« entgegnete Herr Wander, »so ist es nicht, Schellinger; der Rauch hat sie gleich betäubt und erstickt.«

»Vor Schrecken blieben sie sitzen,« sprach hartnäckig der Schneider; »ich war dabei.«

»O Schellinger, wie kannst du lügen!« sagte der erste Maschinist. »Haben wir nicht an dem Abend zusammen hier gestanden, gerade wie heute?«

»Ja, ja, – es ist möglich,« entgegnete traurig der Garderobegehilfe; – »aber es ist doch wahr, daß sie vor Schrecken gestorben sind, ich habe die besten Nachrichten. – Den Tag nach dem Unglück hatte ich Briefe von C. – ganz ausführliche und unzweifelhafte, denn sie kamen – von Einem, der selbst mit verbrannt ist.«

In diesem Augenblick erloschen sämmtliche Lichter am Kronleuchter, Alle entfernten sich lachend, und die Bühne blieb öde und leer.

 


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