Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Zweiter Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Neunundzwanzigstes Kapitel. Unter dem Stadtgraben.

Die Dämmerung war hereingebrochen, und es war jene Zeit, ehe es ganz dunkel wird, wo man gern ohne Licht in der Stube sitzt und seinen Gedanken Audienz gibt, wo sich der Blick, unbeirrt von zerstreuenden Gegenständen, so gern nach innen kehrt, und man die Erinnerung an gute und schlechte Stunden, an gute und böse Thaten, die schmerzliche Vergangenheit und die Hoffnung für die Zukunft so gern hervorruft, um mit ihnen in mannigfaltigen Gestalten die Einsamkeit zu bevölkern.

Ebenso that es die Frau Müller in ihrer Stube im Hinterhause unter dem Stadtgraben, nur daß bei derselben dunkle und unheimliche Erinnerungen sehr vorherrschend waren. Sie saß da in der einen Ecke des alten Sopha's gegenüber der Thüre des Schlafzimmers, das ihre Tochter noch vor Kurzem bewohnt; sie hatte ihren Kopf auf den Arm gelegt, und man hätte glauben können, sie schliefe; doch war die wohlthätige Ruhe ihr fern, denn sie saß da und ließ ihr ganzes vergangenes Leben in Gedanken an sich vorübergleiten, und diese finstere Reise, die sich ihrem inneren Blick entfaltete, preßte ihr manchen tiefen Seufzer ab, manch' schmerzliches Stöhnen. Eigentlich jagte sie die Bilder finsterer Tage hinweg und schlug im Buche ihres Lebens die schwarzgefärbten Blätter hastig um, um auf den ersten Seiten desselben, bei ihrer Jugendzeit, länger zu verweilen. Ach! es waren ihrer nur wenige, die sich mit freundlichen Erinnerungen angefüllt dem nachsuchenden Blicke zeigten; nur sehr kurz war die Zeit ihrer Freude, ihrer Unschuld gewesen; nur wenige gute, freundliche Jahre waren da, welche von dem Gewicht des ganzen übrigen schuldbeladenen Lebens in die Höhe, geschnellt wurden.

Es war eine alte bekannte Geschichte, dieses Leben, aber darum nicht minder entsetzlich, weil sie in dieser Welt so oft vorkommt. Ihre eigene Mutter hatte sie dem Laster in die Arme geführt und hatte ihre Reue, ihre Verzweiflung, diese Zeugen ihrer Schuld, die sich anfänglich heftig einzustellen pflegten, durch falsche Trostgründe zu entkräften gesucht, und es war ihr das auch gelungen und sie als Mädchen immer tiefer gesunken. Doch hatte sie Glück gehabt, sie hatte eine Heirath geschlossen, die im Stande gewesen wäre, sie wieder emporzuheben; ihr guter Engel hatte ihr in der Gestalt ihres Mannes die Hand gereicht, um die Verlorene aufzuheben und sie zu unterstützen, daß sie auf einem guten Pfade fortan dahinwandle. – Aber vergebens! – sie strauchelte und fiel als Weib, wie sie als Mädchen gefallen war; das Glück verließ sie fortan vollständig, und der Engel ihres Lebens verhüllte sein Gesicht und entfloh weinend. Dann ward ihre Tochter geboren, und das arme, kleine, unschuldige Wesen rief ihr für einige Jahre die eigene Kindheit in's Gedächtniß zurück, und sie fühlte öfter die eigene Reue und Verzweiflung, die damals ihr Herz ergriffen, als ihre Mutter sie ebenso angeleitet, wie sie ihre Tochter.

Zwischen diesen Gedanken entwand sich ihren Lippen oftmals ein schmerzlicher Ausruf nach der Tochter und der Name »Anna« zitterte häufig durch das stille Gemach. Wie war das Kind so gut und unschuldig gewesen! Wie fühlte jetzt die Mutter mit entsetzlichem Schmerze, was sie schon hier allein verbrochen, wie furchtbar sie gefrevelt an dem herrlichen heiligen Geschenk, das ihr der gütige Himmel mit ihrem Kinde gegeben! – Einmal in ihrer Jugend war sie dem Tode nahe gewesen, und das war gerade damals, als sie ihre ersten Fehltritte begangen, und nur durch ein Wunder war sie gerettet worden. Wie wahr und innig entrang sich jetzt der Wunsch ihrer Brust: »o wenn man mich damals nicht gerettet hätte, wenn ich untergegangen wäre in dem tiefen See meines heimathlichen Dorfes!« –

Immer tiefer vergrub die Frau ihren Kopf in die Hand und eine Fluth von Thränen bedeckte ihr Gesicht. »Anna!« seufzte sie abermals, und die Sehnsucht nach ihrem Kinde wurde zur Verzweiflung. Sie hatte sie gefürchtet, die eigene Tochter, gefürchtet, wie man in ihrer Lage ein besseres Wesen fürchtet; denn sie kannte das Herz ihres Mädchens und wußte, daß es rein geblieben war, rein in der Sünde, welche sie umgeben. Ja, sie hatte sie gefürchtet, aber zugleich mit Hoffen zu ihr emporgeschaut, indem sie geglaubt, daß, so lange Anna in ihrer Nähe sei, der Himmel sich ihrer noch erbarmen und kein größeres Unglück über sie hereinbrechen würde. Jetzt war das Mädchen fort. Wohin? – wer konnte es wissen? Ihr ärmliches Lager drüben im Schlafzimmer war so liegen geblieben, wie sie es damals verlassen, und als sie den ersten und zweiten Tag nicht zurückkam, als selbst der Steinmann keine Kunde von ihr erhielt, da hatte sie in halb wahnsinniger Freude das seidene Kleid des Mädchens, ihre feinen Schuhe, ihren Hut und einen Handschuh, den sie gefunden – wo der andere geblieben war, wußte sie nicht – auf das armselige Bett gelegt. Das war heute Nachmittag gewesen, und sie hatte mit teuflischer Lust den Steinmann an das Lager geführt, ihm die Kleider gezeigt und ihm Alles von dem Mädchen erzählt, Alles, was sie wußte und was er nicht geahnt. Sie hatte sich geweidet an seiner Wuth, an dem wilden Schmerze, den er gezeigt, und es hatte sie die Fluth von Verwünschungen beruhigt, welche er auf ihr Haupt herabströmen ließ – Verwünschungen, die der entflohenen Beute galten, welche er so sicher geglaubt und die allein ihm nicht zu Theil geworden. Wie hatte er erstarrt dagestanden, als ihm die Mutter erzählt von dem ungeheuren Frevel, den sie an ihrer Tochter begangen, und wie hatte er das Messer in seiner Tasche ergriffen, als sie ihm hohnlachend erzählte, nur um seinetwillen sei das Mädchen geflohen, und ihr wäre der tiefe Grund des Flusses lieber gewesen, als ein freundliches Wort von seinen Lippen!

Der Steinmann hatte nie etwas Schrecklicheres erfahren, eine härtere Strafe hätte dem wüsten und leidenschaftlichen Menschen nie zu Theil werden können. Mit einem Geheul der Wuth war er hinweggestürzt, furchtbare Rache schwörend. Darüber aber lachte die Frau – was konnte er thun, das sie noch elender machte, als sie sich im jetzigen Augenblicke schon fühlte? – Wie hatte sie das Kleid ihrer Tochter mit Küssen bedeckt, wie ihre feinen Stiefelchen und den kleinen Handschuh! –

Das alles überdachte die Frau in der Ecke des Sopha's, und obgleich ihr die Dämmerung in dem Zimmer wohl that, so fürchtete sie sich doch. Oft hob sie den Kopf empor, indem sie geglaubt, sie höre Geräusch in dem Schlafzimmer ihrer Tochter, doch war das jedesmal Täuschung und nur das eigene Blut, das rasend in ihren Pulsen klopfte.

Jetzt erhob sie abermals den Kopf und blieb wie erstarrt sitzen, denn die Thüre, die von der Treppe in das Zimmer führte, hatte sich langsam geöffnet, und sie erblickte eine lange, dunkle Gestalt, welche unbeweglich stehen blieb und nach ihr hinzublicken schien.

Die Frau faßte krampfhaft die Lehne des Sopha's und erhob sich langsam und leise; denn sie fürchtete, daß das unter der Thüre ein entsetzliches Gespenst sei, das bei dem geringsten Laute, bei der geringsten auffallenden Bewegung über sie herfallen würde. Das dauerte einige Sekunden, während Beide sich fest anblickten, worauf die Gestalt einen Schritt in's Zimmer trat und die Frau mit leiser, zitternder Stimme sagte: »wer bist du?«

Bei dem Klange dieser Stimme zuckte das dunkle Wesen an der Thüre zusammen und antwortete mit tiefer, klangloser Stimme: »ich bin der Lukas!«

Noch einen Augenblick hielt die Frau sich aufrecht an dem Sopha, dann stürzte sie auf denselben nieder und rief: »Jesus, Maria, was wollt Ihr von mir?«

»Ich habe einen Brief von deiner Tochter,« sagte die Gestalt mit derselben tiefen Stimme, »wahrscheinlich das letzte Wort, das du in diesem Leben von ihr erhalten wirst. Der Brief war offen, als er gefunden wurde, ich weiß seinen Inhalt. Daß du es sein mußtest, habe ich geahnet, als ich deine Anna zum ersten Mal gesehen; dein Ausruf, als du vorhin meines Namen hörtest, hat es mir bestätigt.« –

»Hattest du nicht genug mit deinem eigenen Geschick?« fuhr die Gestalt fort zu reden; »jammervolles Geschöpf, erinnertest du dich nicht mehr der Qualen, die du, wenn auch nur kurze Zeit, selbst erduldet, als deine Mutter dich zu so etwas Entsetzlichem gezwungen? – Nein, du hast dich daran nicht erinnert, du hast ein viel besseres Geschöpf, tausendmal besser, als du je gewesen, und reiner als tausend andere ihres Geschlechts, die stolz und ohne Mackel einhergehen, hinuntergedrückt, zuerst geistig, dann leiblich vernichtet!« – –

»Du hast nicht die Hand Gottes erkannt, die dich in jener Nacht errettet, zweimal verkannt hast du sie, du fingst kein besseres Leben an und brachtest deine Tochter demselben Tode zur Beute, dem du wunderbarer und ungerechter Weise entgangen!«

»Meine Anna!« schrie die Frau verzweifelnd auf, »meine Anna! wo ist mein Kind?«

»Bei Gott!« sagte die Gestalt feierlich, »du hast dem klaren tiefen See Lust nach seiner Beute gemacht, aber er mochte dich nicht, du warst dem Tod zu schlecht, du entgingst ihm, aber deine Tochter fiel ihm zu. Ihr ist wohl!«

»O, o!« stöhnte die Frau und zerraufte ihr Haar; »du bist nicht der, für den du dich ausgibst, du bist kein lebendes Wesen, du bist ein Teufel, der mich zur Verzweiflung bringt!«

»Kann wohl sein,« antwortete die Gestalt mit derselben tiefen Stimme; »wahrlich, ich bin ein Todesbote! nimm hin den Brief.«

Als die Frau ihr wirres Haar aus dem Gesichte warf und aufblickte, sah sie durch die Dunkelheit ein weißes Blatt Papier auf dem Boden flattern, die Thüre schloß sich ebenso geräuschlos, wie sie sich geöffnet, und als die Frau in entsetzlicher Angst an die Treppe eilte, erblickte sie nichts, als einen schwarzen Mantel, der hinabzuflattern schien. –

Wie lange nach dieser schauerlichen Scene die Frau in der Sophaecke gelegen, wußte sie selbst nicht. Sie war beschäftigt mit schrecklichen, ja blutigen Bildern, die unablässig ihr Inneres erfüllten. Sie kämpfte einen gewaltigen Kampf und endlich drang ein Lichtstrahl in ihr finsteres Gemüth. Darauf blieb sie noch einen Augenblick ruhig sitzen und hörte alsdann, wie die Treppe, welche zu ihren Zimmern führte, unter starken Fußtritten knarrte und ächzte. Die Thüre wurde geräuschvoll geöffnet und zwei Männer traten in das Zimmer, blieben aber an der Thüre stehen, als sie die Dunkelheit bemerkten.

»Ist Niemand da? he!« vernahm sie die Stimme Steinmann's, »Frau Müller, seid Ihr nicht da?« Und die Angeredete antwortete: »was soll's wieder? was wollt Ihr von mir?«

»Die Frau hält Betrachtungen im Dunklen,« sagte lachend der Gevatter, welcher mit dem Stadtsoldaten eingetreten war; »was sollen die Geschichten? macht doch Licht!«

»Sogleich!« erwiderte die Frau, stand von ihrem Sopha auf und that, wie der Gevatter sie geheißen. Dieser aber schüttelte mit dem Kopf, als er nun bei dem Scheine der Kerze in das Gesicht der Frau sah, das so geisterhaft bleich und entsetzlich abgespannt aussah, und als er die wirren Haare bemerkte, die um den Kopf und um die unheimlich glühenden Augen flatterten.

Der Steinmann, der das ebenfalls bemerkte, wunderte sich weniger darüber, denn ihm schien das Aussehen der Frau eine Nachwirkung zu sein von dem Auftritte, den er heute Nachmittag mit ihr gehabt. Da es ihn nebenbei freut und ihm schmeichelhaft war, daß sein Zorn diesen Eindruck auf sie gemacht, er es auch für viel passender und kluger hielt, mit seiner redlichen Hehlerin nicht vollkommen zu brechen, so reichte er ihr die Hand, indem er sagte: »nun laßt's gut sein, Frau! Geschehen ist einmal geschehen! Laßt uns für die Zukunft unsere Sachen ehrlicher und besser einrichten!« worauf die Frau mit ruhiger, aber klangloser Stimme erwiderte:

»Ja, geschehen ist einmal geschehen, wir wollen für die Zukunft unsere Sachen schon ehrlicher und besser einrichten.«

»Aber vor allen Dingen,« sprach der Gevatter lustig dazwischen, »vor allen Dingen, Frau Müller, öffnet Euren Wandschrank und laßt einen Krug guten Weins herausspazieren; ich bin verteufelt durstig und hab' während des ganzen Nachmittags kaum ein paar elende Schoppen über die Lippen gebracht.«

»Denkt nicht eher an's Saufen,« sagte grämlich der Steinmann, »als bis Ihr wißt, ob alles ringsum sicher ist – habt Ihr nichts Verdächtiges bemerkt, Frau? – nicht? so ist's recht! Jetzt aber riegelt vor allen Dingen die Hinterthür zu und laßt den dicken grünen Vorhang vor das Fenster da herab.«

Schweigend that die Frau, wie ihr geheißen, und während sie die Hinterthüre verschloß und verriegelte, verbarg sie das Briefchen ihrer Tochter, denn sie hatte nicht den Muth, es zu lesen.

Die beiden Herren hatten es sich unterdeß droben bequem gemacht, und jeder lag in einer Ecke des alten Sopha's. Der Gevatter hatte höchsteigenhändig einen Krug Wein aus dem verborgenen Schranke hervorgeholt, und nachdem er einen tüchtigen Zug gethan, wischte er sich behaglich den Mund, und die Blicke seiner beiden schiefstehenden Augen gaben sich alsdann ein Vergnügliches Rendezvous auf der röthlichglänzenden Nase.

Der Steinmann schien nicht so ganz guter Laune zu sein; er dämpfte oftmals die Lustigkeit des Gevatters mit einem Wort und versank ein anderes Mal in tiefes Hinbrüten.

Die Frau Müller hatte sich neben den Ofen gesetzt, den Kopf an die Wand gelegt und that, als ob sie schliefe.

Aus einem solch' tiefen Nachdenken fuhr der Steinmann in die Höhe und sagte: »ich hätte doch nicht gewünscht, daß die ganze Geschichte so schlimm ablief! es schauert mich doch ein wenig, wenn ich daran denke.«

»Daß das Mädel davongelaufen ist?« lachte der Gevatter, »wie kann man so etwas nicht schon in der nächsten Stunde vergessen!« – Seine Augen kreuzten sich bei diesen Worten auf dem Weinkruge, den er emporhob.

»Nein!« antwortete der Steinmann, »ich meine die andere Geschichte.«

»So, die andere Geschichte,« murmelte achselzuckend der Gevatter, wobei seine Augen mit einiger Verlegenheit gegeneinander hinzuschielen schienen. »Ja, da läßt sich nichts mehr ändern, man muß die Sache als ein Unglück betrachten; das ist gerade so, als wenn ich Jemanden die Fenster einwerfen will und treffe ihn selbst zufällig mit dem Steine vor den Kopf, daß er todt hinfällt, – das ist nichts weiter als ein Unglück.«

»Freilich ein Unglück, aber ein großes; wir haben freilich dem Kerl dem Winkler, einen tüchtigen Possen gespielt, er liegt an einer Kopfwunde bedeutend, wenn auch nicht gefährlich, darnieder, und sowie er gesund wird, heißt es freilich vor der Hand: Adieu Hofkutscher! und er kann die graue Livree anziehen; aber der Oberststallmeister hat eine gründliche Untersuchung versprochen, und wenn man auch nichts herausbringt, daß an dem Abend Jemand um den Weg gewesen, der die Pferde absichtlich zum Stürzen und Durchgehen gebracht, so werden doch Alle vom Stalle auftreten, wenigstens die Meisten, und ein gutes Zeugnis; für den hoffärtigen Lumpen ablegen – was ist da gewonnen?«

Der Gevatter zuckte abermals mit den Achseln und gab die Richtigkeit dieser Bemerkungen zu.

»Ich bin sonst nicht ängstlich,« fuhr der Steinmann fort, »aber mich schaudert's, wenn ich an den Leichenzug von der Hofdame denke; steigt da Abends gesund und frisch in den Wagen und liegt am andern Morgen todt auf ihrem Bette!«

»Allerdings!« antwortete der Gevatter, »es ist ein unangenehmer Zufall.« Er that einen neuen Zug aus dem Kruge, und die Frau am Ofen zuckte kaum merklich zusammen. »Bei allem dem aber,« fuhr der Gevatter fort, »müßt Ihr meine gutgetroffenen Anstalten höchlich beloben: wie haben die vom Stalle den ganzen Platz mit den Laternen untersucht, und haben sie etwas gefunden? – nicht das Geringste! und ich selbst hatte mich wohl gehütet, als Zuschauer auf dem Platz zu bleiben.«

»Man muß gestehen,« versetzte der Stadtsoldat, »daß die Sache außerordentlich schön eingefädelt war; nur hat dieser Kerl ein unverschämtes, unerhörtes Glück. Ich ließ mich gleich nach dem Vorfall auf dem Platze sehen und stieß zufällig auf den Hoflakaien Jean; ich hätte den Kerl gern niedergeschlagen, denn er sah mich mit einem wahren Giftblick an, mit einem Blick, als wollte er sagen: du wirst auch nicht betrübt sein über das Unglück des Hofkutschers.«

»Ihr hättet doch besser gethan, an dem Abend wegzubleiben,« entgegnete der Gevatter; »ich war froh, als ich das ganze Stadtviertel hinter dem Rücken hatte, und das versichere ich Euch, es wird lange Zeit dauern, ehe ich mich entschließen kann, des Nachts dort unter die Bäume zu gehen; ich sehe noch immer zu deutlich den Stamm vor mir, an welchem die Frau hinstürzte und liegen blieb; es ist, beim Teufel, ein unangenehmes Gefühl – sprechen wir nicht mehr von der Sache, kommen wir auf etwas Anderes!«

Der Steinmann ließ sich herab, jetzt ebenfalls einen Schluck aus dem Kruge zu nehmen, und sagte beistimmend: »ja, von etwas Anderem!«

»Apropos,« fuhr der Gevatter fort, »ich habe auch die Papiere gründlich durchgesehen, die in dem Packetchen waren, welches ich in jener denkwürdigen Nacht bei der alten Person im Vorderhaus mitspazieren ließ. Sie betreffen die verstorbene Marie, Ihr wißt ja wohl, die damals als Lampenputzerin mit unter Eurer Fuchtel war. Sie hat ein kleines Mädchen hinterlassen, welches die Welscher aufzieht. Es fanden sich nun in dem Packele meistens dünne Liebesbriefe, vertrocknete Blumen, Haare und dergleichen einfältige und nichtssagende Geschichten; nur ein Papier darunter ist sehr beachtenswerth: es ist das Schreiben eines Advokaten aus Mailand, welcher der Verstorbenen anzeigt, daß er den Auftrag habe, ihr eine nicht unbedeutende Summe nach und nach auszahlen zu lassen, sowie sie sich, die Marie nämlich, an ihn deßhalb wenden wolle und genaue Auskunft gebe, wie es ihr und namentlich ihrem kleinen Kinde ergehe. Dieser Advokat heißt, wenn ich nicht irre, Cäsar Bartolini, und sagt in einem zweiten Schreiben, welches ein halbes Jahr nach dem ersten hier angekommen sein muß: wenn dagegen die Marie geneigt sein sollte, ihr Kind durch die Vermittlung eines hiesigen Handlungshauses in eine Pension nach Paris zu geben, so habe eben dieses Handlungshaus den Auftrag, derselben einen anständigen Jahresgehalt für ihre Lebenszeit auszuzahlen.«

»Ei, ei!« sagte der Steinmann und sein eines Auge glänzte freundlich, »und die dumme Person ist darauf nicht eingegangen? Ich glaube wenigstens nicht, daß sie es that, denn sonst wäre sie nicht in so bitterer Armuth gestorben.«

»Versteht sich!« lachte der Gevatter, »die dumme Gans hat diese Anerbietungen alle abgelehnt; denn ich fand einen dritten Brief von dem Advokaten, worin er sagt: »»ich habe Ihre Antwort auf meine beiden Briefe erhalten und dieselbe dem Herrn Grafen mitgetheilt; es hat ihn außerordentlich schmerzlich berührt, daß Sie seinen vernünftigen Vorstellungen kein Gehör geben. Indem ich mich genöthigt sehe, Ihnen hiermit zum letzten Mal zu schreiben, glaube ich die Versicherung ausdrücken zu können, daß der Herr Graf stets geneigt sein wird, Ihnen zu helfen, sobald Sie einmal in den Fall kommen werden, diese Hülfe durch mich in Anspruch nehmen zu wollen.««

Nach dieser Mittheilung dachte der Steinmann eine Weile ruhig nach, und der Gevatter schien sich ebenfalls in ergiebige Plane zu Versenken.

»Da wären nun zwei Wege,« sagte der Erstere nach einer Pause, »um aus diesem Briefe einigen Nutzen zu ziehen: entweder wir schreiben diesem Herrn Bartolini, das heißt, wir lassen die Marie eigentlich schreiben – es wird Euch ein Leichtes sein, aus vorgefundenen Briefen ihre Handschrift so täuschend nachzuahmen, daß der Italiener damit zufrieden sein kann – oder wir bleiben bei der Wahrheit und schreiben dem Advokaten, daß die Marie gestorben ist, daß sich das Kind im Elend befinde, daß es von der Gnade armer Leute leben müsse, was ja Alles wahr ist, und erbitten uns eine namhafte Summe zu deren Unterstützung.«

»Das Letzte ist besser,« versetzte der Gevatter und rieb sich vergnügt die Hände; »bleiben wir bei der Wahrheit, ich liebe die Wahrheit über Alles; und dann haben wir auch wegen der Adresse keine Schwierigkeit. Ihr unterschreibt den Brief, Ihr mit Eurem Namen und Titel, als zur Polizei gehörig, und so wird Euch der Italiener vollkommen trauen.«

»Das wird doch nicht gut angehen,« meinte der Steinmann und unterstützte das Kinn mit der Hand; »beim Teufel auch, meinen Namen! bedenkt doch, meinen Namen!«

»Den Teufel auch!« spottete ihm der Gevatter nach, »bedenkt doch, meine Haut, die ich immer zu Markt getragen, und meinen Hals, wenn die Kutschergeschichte herauskäme, und meinen ehrlichen Namen, wenn sie mich einmal als Vagabund aufgreifen, und meinen Rücken, wenn sie mich wegen ausgezeichneten Diebstahls einmal sechs Jahre aufheben, zu Anfang und zu Ende geschärft durch Stockhiebe, bedenkt doch das auch, Gevatter! all' diese edlen Theile um Euren lumpigen Namen! Thut in's Teufels Namen nicht so kostbar. Ihr wißt selbst, wenn die Leute »Steinmann« gesagt haben, so spucken sie nachher aus, und das soll alsdann so viel heißen, als: Pfui Teufel!«

»Die Gauner und Vagabunden,« sagte ruhig lächelnd der Stadtsoldat, »thun freilich dergleichen, und die bösen Buben auf der Gasse und einige alte Weiber mit schlechten Mäulern.« Bei diesen Worten schaute der Stadtsoldat auf die Müller, die aber fest zu schlafen schien. »Aber was rechte Leute sind, die wissen schon, was sie an dem strengen, aufmerksamen, unnachsichtigen Steinmann haben, das versichere ich Euch; ich bin bei Einem wohlweisen Magistrat recht gut angeschrieben, und weil ich das bin und mich dadurch emporzubringen hoffe, so wollen wir dieses letzte Geschäft noch selbander bestens zu Ende bringen.«

»Wie so, dieses letzte Geschäft?« fragte erstaunt der Gevatter und stellte den Krug, den er eben erhoben, erwartungsvoll auf das Knie.

»Das will ich dir sagen, mein Junge,« versetzte der Steinmann, »ich hoffe nächstens aus dem Polizeidienste auszuscheiden und ein anderes Pöstchen zu erlangen; es kann mir das auf keinen Fall fehlschlagen; wenn ich aber eben dieses Pöstchen bekomme, so ist es unumgänglich nothwendig, daß ich wenigstens vor der Hand alle Verbindungen abbreche, die meinem guten Rufe Abbruch zu thun im Stande wären.«

»So, so! ei, ei!« entgegnete der Gevatter, und ihm schien diese Aussicht nicht besonders zu gefallen; »aber was soll dann aus mir werden?«

»Du hast dir auf alle Fälle etwas zusammengespart,« meinte der Steinmann, »und für dich wäre es auch die höchste Zeit, nach einem soliden, stillen Lebenswandel zu greifen, denn ...«

»Ich mir etwas zusammengespart?« lachte der Gevatter, »nicht einen Kreuzer! Wie gewonnen, so zerronnen! Was hab' ich nicht für schwere Ausgaben gehabt! kostet mich doch z. B. die Kutschergeschichte für Zurüstungen an fünf Gulden dreißig Kreuzer, die Ihr mir aber auf alle Fälle ersetzen müßt, Gevatter, und was Euer Pöstchen anbelangt, so wird die Anstellung wohl noch gute Wege haben. Ihr habt schon oft von dergleichen gesprochen, ich bin aber vor der Hand erfreut, daß wir das einträgliche Geschäft mit dem Italiener zusammen machen; ich entwerfe und unterschreibe den Brief, und so könnt Ihr auf keine Weise compromittirt werden.«

»Abgemacht!« entgegnete der Steinmann; »aber vergeßt nicht, was ich Euch gesagt; seht Euch nach irgend einem anständigen Brod um, unsere Sache wird mir nachgerade langweilig; auch das Haus hier,« setzte er leise hinzu, »eckelt mich an – wie war das sonst anders!« setzte er mit einem Seufzer hinzu; »aber die Frau da wird unausstehlich langweilig.«

»Ja, ja,« bekräftigte der Gevatter, »sie gönnt uns kaum mehr ein freundliches Wort, und selbst ihr Wein ist in der letzten Zeit verdammt schlecht geworden; jetzt lehnt sie in einer Ecke und schläft.«

»Den Schlaf der Gerechten!« lachte höhnisch der Steinmann, und dann erhoben sich Beide und schlichen, ohne »Gute Nacht« zu sagen, die Treppen hinab zur Hinterthüre hinaus in die engen Gäßchen. Obgleich Beide über die Frau droben kein Wort weiter sprachen, so hatten sich doch Beide mit ihr beschäftigt, und als sie ein paar hundert Schritte von dem Hause entfernt waren, blieb der Gevatter plötzlich stehen und sagte:

»Seit die Anna fort ist, gefällt die da droben mir wahrhaftig ganz und gar nicht mehr; mich soll der Teufel lothweis holen, aber ich gehe nicht mehr gern in das Haus; 's ist mir immer, als müsse da einmal irgend einem von uns ein großes Unglück geschehen.«

»Na, wißt Ihr was, Gevatter,« sagte der Steinmann grinsend, und aus seinem einen Auge schoß ein wahrhaft teuflischer Blick: »so kommt Eurer Ahnung zuvor und richtet selbst ein großes Unglück da an.«

»Meint Ihr?«

»Warum nicht?«

»Ich hab' der alten Hexe nie recht getraut, und wenn Ihr nicht von den Augen ihrer Tochter verblendet gewesen wäret, so hätten wir sie nie so tief in unser Getreibe sehen lassen,« sprach der Gevatter, und der Steinmann fügte hinzu:

»Auch hat sie beständig ihren Vortheil ...«

»Glaubt Ihr?«

»Da ist vom Glauben keine Rede, ich weiß, daß die Alte Geld hat, viel Geld hat sie versteckt.«

»Glaubt Ihr wirklich?«

»Hat sie doch in Metthausen ein schweres Päckchen – es mußte Geld darin sein – nie aus der Hand geben wollen; o die Alte ist schlau und hat uns Beide immer an der Nase herumgeführt! oder hat sie,« setzte der Steinmann ingrimmig hinzu, »mich vielleicht nicht an der Nase herumgeführt? mich mit dem verfluchten Mädel, Euch mit vielem, vielem Geld!«

»Mit vielem, vielem Geld!« wiederholte der Gevatter gedankenvoll und faßte zuckend nach dem Messer in seiner Hosentasche. »Ja, das soll anders werden!« setzte er wie zu sich selbst sprechend hinzu, »wir wollen der Geschichte ein Ende machen!«

»Aber nicht eher darf das geschehen,« sagte der Steinmann fest und bestimmt, »bis das italienische Geschäft bereinigt ist; dann mit den Piastern in der Tasche und mit dem Gelde der Alten da oben könnt Ihr Euch schon durch die Welt schlagen; aber früher etwas thun, wäre der offenbarste Wahnsinn.«

»Ich hasse die Müllerin!« sprach ingrimmig der Gevatter; »ich habe sie immer gehaßt; haben mich dieses Weib und ihre schlechte Tochter nicht immer behandelt wie ein räudiges Thier? Ja, die Anna hat ausgespuckt vor mir, bis ich ihr eines Tages zugeschworen, ich steche sie nieder, wenn sie es noch einmal thue.«

»Nur noch eine kleine Weile Geduld!« sagte der Steinmann, »keine voreiligen Thorheiten! Jetzt geht ruhig nach Hause und schlaft Euren Rausch aus – widersprecht mir nicht – Ihr habt wieder einen Rausch, macht morgen die Briefe, und in circa vierzehn Tagen, so denk' ich, haben wir ein ordentliches Kapitälchen beisammen.«

Der Gevatter wünschte gute Nacht und stolperte brummend und fluchend nach Hause; der Steinmann aber lachte sich in's Fäustchen und dachte bei sich: »wenn der Kerl eine rechte Dummheit anstellt, so muß er schleunigst flüchtig werden, dann bin ich ihn für alle Zeiten los. –

Droben in ihrem Zimmer lag unterdessen das auserkorene Opfer der teuflischen Berechnung der beiden Gauner vor ihrem Sopha auf den Knieen und benetzte ein kleines, beschmutztes Papier mit ihren Thränen. Es waren die letzten Worte ihres einzigen Kindes, ihrer schönen Anna, und sie hatte, mit Bleistift geschrieben, der Mutter ein ewiges Lebewohl gesagt. »Allein in der Welt stehend,« schrieb sie, »erliegend unter fürchterlichen Erinnerungen, sei ihr das Leben eine Last, und die Mutter möge noch das Einzige für ihr Kind thun, was ihr zu thun übrig bliebe, und Gottes Barmherzigkeit anstehen, daß er ihre vielen und schweren Sünden ihr vergebe.«


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