Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Zweiter Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Sechsundzwanzigstes Kapitel. Das Ende des Traumes.

Unterdessen war die Postkalesche, welcher der Jäger Lukas mit so unerklärlicher Sehnsucht nachgeschaut, ebenfalls in dunkler Nacht dahingerollt und hatte früher ihren Bestimmungsort erreicht, als dieser die Residenz.

Das Mädchen saß mit gefalteten Händen in der Ecke des Wagens in tiefes Nachdenken versunken und gab dem gutmüthigen Postillon nur spärliche Antworten auf seine mannigfaltigen Fragen.

Hinten auf dem Wagen saß aber dieselbe Gestalt, die in Metthausen bei den Häusern vorbeigeschlichen und die Niemand anders war, als der Gevatter des Steinmann. Vergnügt hockte er auf dem Trittbrett der Kutsche, schlenkerte zuweilen mit den Füßen und dachte an die Ueberraschung des Mädchens, wenn er sich ihr morgen früh vorstellen würde. Er hatte beschlossen, vorsichtiger und, wie er glaubte, pfiffiger aufzutreten, als der Steinmann. Er wollte das Mädchen ruhig zu Bette gehen lassen, den Morgen abwarten und dann den Verhaftsbefehl präsentiren.

Endlich erblickte man in der Ferne an der Straße dunkle Gegenstände, Häuser, einen Kirchthurm; der Postillon knallte entsetzlich mit seiner Peitsche oder stieß, abwechselnd mit diesem Signal, welches dem schlafenden Schatz seine glückliche Rückkehr anzeigen sollte, lustig in sein Posthorn. Jetzt rollte der Wagen durch die einzige Straße des kleinen Dorfes, kam jetzt vor das Posthaus und hielt an. Der Postillon befahl dem herbeigeeilten Hausknecht, ein Zimmer für die Mamsell zurecht zu machen, hob alsdann das Mädchen aus dem Wagen und begleitete sie in's Haus. Es wurde ihr eine Stube angewiesen, sie schloß in derselben die Thüre hinter sich zu, und ehe sie zu Bette ging, dankte sie Gott mit innigem Gebet für die Rettung, welche er ihr hatte zu Theil werden lassen.

Der Gevatter aber, indem er wußte, daß seine Beute in Sicherheit war, kam eine Viertelstunde später als müder Fußgänger und quartierte sich in demselben Hause ein. Am anderen Morgen war er schon bei Tagesanbruch wieder auf den Beinen, und sein erster Gang war zum Schultheißen des Orts, wo er sich als geheimer Polizeiagent auswies und den Fall, so wie er jetzt vorlag, erzählte.

Der Schultheiß, ein wohlgenährter, freundlicher Bauer, mit weißem Haar, saß eben an seiner Morgensuppe und schien gerade nicht viel Behagen daran zu finden, zu so früher Morgenstunde in's Wirthshaus zu gehen, um eine Verhaftung vorzunehmen. Der Gevatter trug nämlich auf eine solche an, nachdem er vorher noch einen Versuch gemacht haben werde, Anna zur freiwilligen Rückkehr nach der Residenz zu bewegen, doch wußte er zum Voraus, daß dieser Versuch fehlschlagen würde.

Mau kann sich das Entsetzen des armen Mädchens leicht vorstellen, als der Gevatter sich in ihr Zimmer führen ließ, und sie davon in Kenntniß setzte, daß er ihr gefolgt sei und sie mit ihm freiwillig oder gezwungen nach der Residenz zurückkehren müsse. Wenn Anna den Steinmann haßte, so verachtete sie dagegen seinen Gehülfen aus tiefster Seele, und nachdem der erste Moment ihres Schreckens vorbei war, trat sie dem Gevatter mit jener Hoheit in Wort und Blick entgegen, die ihm so bekannt war und die einen solch' gränzenlosen Stolz, eine solche Entschlossenheit aussprach, daß sich der Gevatter achselzuckend nach der Thür zurückzog.

»Was wollt Ihr von mir?« sagte das Mädchen und faßte die Lehne eines Sessels, aber durchaus nicht mit dem Ausdruck, als wenn sie sich darauf stützen wollte. »Wie könnt Ihr, der Schlechteste unter den Schlechten, es wagen, in mein Zimmer zu dringen, Euch vor meine Augen zu stellen?«

Der Gevatter zuckte abermals mit den Achseln und erwiderte: »warum sich ereifern, Mamsell Anna? Meinetwegen hätten Sie hingehen können, wohin es Ihnen beliebt, aber ich bin hier im Auftrag der Polizei und habe einen Verhaftsbefehl gegen Sie in der Tasche, von dem ich vollen Gebrauch machen werde, wenn Sie mich dazu zwingen.«

Das Mädchen athmete schwer auf und hielt mit ihrem Blicke das Auge des Gevatters fest, als wolle sie erspähen, ob es wahr sei, was dieser Mensch sage; doch blieb sich das Gesicht des Gauners, der diesen fragenden Blick verstand, bis auf den Sehwinkel im Auge, der bald spitz, bald stumpf wurde, vollkommen gleich. Er zog das Papier aus der Tasche und fragte: ob sie ihm in Güte folgen wolle oder nicht.

Das Mädchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und trat an's Fenster, worauf der Gevatter den Schultheißen, der draußen gewartet, in das Zimmer rief und ihn zur Unterstützung aufforderte, damit er den Befehl, den man ihm ertheilt, ausführen könne.

Der alte Bauer trat auf das Mädchen zu und erklärte ihr mit ruhiger Stimme, um was es sich handle, daß er in seinem Amte gezwungen sei, jenen Mann in seiner Pflicht zu unterstützen, daß ihm oft schon ähnliche Fälle unangenehme Stunden bereitet, und daß es am besten wäre, wenn sie in Frieden nach der Residenz zurückkehrte.

»Und was geschieht mit mir,« fragte Anna, »wenn ich mich nun weigere, mit jenem Menschen diesen Ort zu verlassen, wenn ich mich alles Ernstes weigere? wenn ich keinen Schritt zurückgehe, wenn ich mich nicht einmal mit Gewalt in einen Wagen bringen lasse? Und das werde ich alles thun! Denn Sie können mir glauben, Herr Schultheiß, daß ich eher das Fürchterlichste begehe, als daß ich mit jenem Menschen nach der Residenz zurückkehre.«

Der Beamte des Dorfes blickte fragend auf den Gevatter, welcher eine Geberde machte, die anzeigen sollte: er sei an dergleichen überspannte Geschichten von Seiten des Mädchens schon gewöhnt.

»Antworten Sie mir, Herr Schultheiß,« fuhr das Mädchen fort, »was kann also mit mir geschehen, wenn ich mich weigere, mit jenem Menschen zurückzukehren?«

»So können wir nichts thun,« entgegnete der alte Bauer, »wahrhaftig, wir können Angesichts dieses Befehles nichts thun, als Sie alsdann in sicheren Gewahrsam bringen.«

»Sie meinen in's Gefängniß?« sagte das Mädchen mit fester Stimme; »und dann?«

»Wird der Fall nach der Residenz zurück berichtet, und wenn man von dort verlangt, daß Sie eingebracht werden, so ist alsdann nichts Anderes zu machen, als Sie mit einem Gensd'armen zu transportiren.«

»Mit einem Gensd'armen?« rief das Mädchen aus, »wie eine Verbrecherin!?« und dabei schlug sie die Hände vor das Gesicht. Doch dauerte diese Erschütterung nur einen Augenblick, dann sagte sie ruhig, aber entschlossen zu dem Beamten: »diesem Menschen da folge ich unter keiner Bedingung; thun Sie aber, was Ihre Pflicht ist; werfen Sie mich in's Gefängnis, berichten Sie nach der Residenz, man soll mich mit Gensd'armen transportiren, lieber mit ehrlichen Gensd'armen, als mit einem schlechten Polizeispion!« – Abermals zuckte ihre Oberlippe in die Höhe und ließ eine ganze Reihe blendend weißer Zähne sehen.

Umsonst versuchte es der Schultheiß, das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen, sie beharrte fest auf ihrem Entschluß, worauf beide Männer das Zimmer verließen. Anna sank auf einen Stuhl am Fenster nieder, drückte ihr glühendes Gesicht an die kalten Scheiben, und aus der Tiefe ihres zerrissenen Herzens drangen die Worte heraus: »Karl! Karl! mein Karl! Entsetzlich, wenn du es erfahren solltest!« Der Gevatter hatte eine längere Unterredung mit dem Schultheißen, welcher sich zu Gewaltsmaßregeln gegen das Mädchen nicht verstehen wollte, sich überhaupt mit Wohlwollen für dieselbe zu interessiren schien, und hiezu trug des Postillons Zeugniß das Seinige bei. Er erzählte von dem fremden Herrn, den er gestern gefahren, von dem guten Trinkgeld, das er bekommen, zugleich mit dem Befehl, das Mädchen sorgfältig hieher zu bringen, und meinte, der Kerl aus der Residenz, der sie verfolge, scheine ihm viel eher in das Dorfgefängniß zu passen, als das schöne Mädchen.

So mußte denn der Gevatter wieder unverrichteter Sache abziehen und eilte zurück nach Metthausen, wo er den Steinmann noch zu finden hoffte, und neue Verhaltungsbefehle von ihm. Doch war der Stadtsoldat im Vertrauen ans die Gewandtheit seines Gehülfen schon nach der Residenz zurückgekehrt, und dorthin folgte ihm der Gevatter mit dem Omnibus und einem schweren Herzen.

Der Schultheiß aber nahm das Mädchen mit sich in seine eigene Wohnung und schloß sie in eine Stube ein, die im Erdgeschoß lag und gegen den Garten hinaus ging. Er suchte das Mädchen zu trösten und aufzuheitern so gut wie möglich. »Ich hoffe nicht,« sagte er, »daß ich von der Residenz den Befehl bekomme, Sie dorthin transportiren zu lassen; das wäre dann allerdings sehr schlimm, und ich könnte nichts thun, als Sie bedauern.«

»Und bis wann könnte dieser Befehl eintreffen?« fragte Anna ängstlich, worauf der Schultheiß erwiderte:

»Wenn es ihnen da drinnen pressirt, schon in dieser Nacht.«

»Das wäre entsetzlich!« sagte das Mädchen, worauf der alte Bauer Pfiffig lächelnd meinte:

»Ich hoffe nicht, daß Sie mir einen Fluchtversuch machen werden, da ich Sie hier in meiner eigenen Wohnung bewahren muß. Das Ortsgefängniß wird reparirt, und ich habe heute nur diese einzige Stube zur Verfügung, welche allerdings nicht dazu eingerichtet ist, Gefangene aufzubewahren. Das Fenster nach dem Garten ist kaum zwei Schuh vom Boden, die Gartenthüre steht des Nachts gewöhnlich offen und geht auf einen Weg, der von der Chaussee ab in's Gebirge nach dem Städtchen B. führt. Von diesem Fenster aus können Sie die Berge sehen, dort hinter dem großen Tannenwalde liegt das Städtchen, es ist kaum drei Stunden von hier entfernt. Der Schultheiß in demselben ist mein Bruder, und ich heiße Gottlieb Baumberg der Aeltere.« – Dabei lachte der alte Mann laut auf, als er das Zimmer verließ und die Thüre hinter sich zuschloß.

Anna setzte sich an's Fenster, ihre Blicke schweiften nach den Bergen, die in schönen Formen nach dem gestrigen Regen so rosig und freundlich vor ihr lagen. Sie hatte den alten Mann wohl verstanden, es gebrach ihr nicht an Muth, der gelinden Haft zu entfliehen und allein in die Welt hinauszugehen; doch dachte sie lebhaft an den finsteren und doch so guten Mann, der sie gestern Abend errettet, und daß er ihr versprochen, er käme in einigen Tagen hier durch und wolle dann sehen, was weiter zu machen sei. »Aber erst in einigen Tagen!« sagte sie zu sich selber, »und morgen schon kann der Steinmann vielleicht selbst wieder hier sein!« Sie legte die Hände in den Schooß, ihr Kopf sank auf die Brust, und sie rief aus der Erinnerung all' die schlimmen und guten Tage, die sie erlebt, all' die schrecklichen und all' die lieben Gestalten, die ihr begegnet, vor ihr inneres Auge. Mit heißer Liebe und klopfendem Herzen gedachte sie des kleinen Hauses, dessen Fenster gerade so in den Garten hinausgingen, wie jetzt die ihres Gefängnisses. Sie dachte des Mannes, den sie unaussprechlich liebte, in dessen Andenken sie so erhaben und edel dastand. Sie hatte ihn betrogen, aber dieser Betrug war das Einzige, was sie glücklich machte, sowie er und ihre Liebe die einzigen Sonnenblicke waren, die hellstrahlend auf ihr trübes, düsteres Leben fielen. – – Beständig aber tauchte zwischen diesen Gedanken das Bild des Mannes auf, den sie gestern Abend kennen gelernt, und sie konnte den Blick nicht vergessen, mit dem er tief nachsinnend in das Heerdfeuer sah. Die Ereignisse des gestrigen Abends, die finsteren Straßen, die sie durchwandelt, der strömende Regen, der sie durchnäßt, die Wirthsstube mit dem Abschied von ihrer Mutter, die Erscheinung Steinmann's – alle diese finsteren Erinnerungen lagen ihr fern, als sie jetzt hinaus in die lachende Gegend blickte, fern, wie etwa ein Traum, den sie vor langen, langen Jahren gethan. Nur sein Bild, getragen von süßen Klängen, erfüllte ihr ganzes Herz. Ja, sie wollte fliehen, wollte in das Gebirge hinauf, und schon jetzt träumte sie lebhaft, wie es ihr zu Muth sein würde, wenn sie droben stände unter den Tannen und hinausschaute in die Freiheit, die vor ihr lag. – Aber wenn sie so nachsann und sich fern am Horizont einen Punkt dachte, eine freundliche Stadt, ein stilles Haus, wo sie vielleicht einstens mit ihm glücklich sein könnte, dann stieg die Vergangenheit gespenstig neben ihr auf und sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die ihr wie gestern Abend sagte: »kannst du dich besser machen, kannst du mit aller Arbeit, mit aller Buße anders werden – ungeschehen machen, was einmal geschehen ist?« – – –

Flehend wandte das Mädchen ihr Gesicht gegen den Himmel empor und murmelte leise: »soll es denn keine Barmherzigkeit geben da oben? wird mir nicht ein Schutzengel seine rettende Hand reichen, mich vor jedem Rückfall bewahren und emporhalten? wird mir Gott nicht helfen, Gott, der in mein Herz sieht und meine tiefe Reue kennt und meinen innigen Wunsch weiß, durch Buße, Mühseligkeit, Plage und Arbeit aller Art geläutert zu werden, um einstens ihm wieder begegnen zu können mit reinem Herzen, mit reiner Hand?« – – –

»Wenn es aber keine solche Barmherzigkeit gibt, wenn ich nicht ungeschehen machen kann, was geschehen ist? und ich fürchte, ich fürchte, meine Mutter hat Recht! O, dann wäre es besser, ich suchte mir einen stillen, tiefen See, um allem Leid auf einmal ein Ende zu machen!« – – – – – – – – – –

Nachdem der Jäger den Grafen Alfons verlassen, sowie einige kleine Aufträge besorgt hatte, kehrte er träumend nach dem Hause seines Herrn zurück. Er konnte das Mädchen und die vergangene Nacht nicht vergessen, und ehe er genau wußte, wie er dahingekommen war, stand er wieder vor dem kleinen, finsteren Bilde mit dem stillen Bergsee und versank in tiefes Nachdenken. Er wußte nicht, woher es kam, aber jener Abend, wo er in einen festen Schlaf fiel, aus dem er nicht mehr erwacht, stand so lebendig vor ihm, als sei das alles erst gestern vorgefallen. Der strömende Regen, das fremde, schuldbeladene Mädchen – er legte die brennende Stirne in die Hand, und so viel er sich auch bemühte, diese beiden Gestalten aus einander zu bringen, so schwamm sie doch immer in Eine zusammen, und vor sich hatte er den tiefen, stillen See.

Endlich riß er sich mit Gewalt von dem Bilde los und faßte den Entschluß, augenblicklich wieder hinauszufahren, das arme Mädchen aufzusuchen und sie vor ihren Verfolgern in Sicherheit zu bringen. Er machte sich Vorwürfe, gestern Abend nicht gleich besser für sie gesorgt zu haben, und er fühlte es deutlich, daß er sie der Gefahr nicht entrissen. Hatte er nicht ein paar Tage Zeit, die er hier müßig zubringen mußte? war nicht auf alle Fälle der Dubel da, dem man die nöthigen Instruktionen geben konnte?

Gesagt – gethan! Lukas wies Dubel an, wenn er in zwei Tagen nicht zurückgekehrt sei und nur für diesen Fall, der aber beinahe unmöglich war, bei dem Grafen Alfons die Antworten zu holen; er bekam eine Summe Geldes, sowie die Adresse des Barons und wurde beauftragt, ihm, wenn Lukas in vier Tagen nicht zurück sei, die Schreiben selbst zu überbringen. Dubel, der die verschlossene Weise des Jägers und Vertrauten seines Gönners kannte, erlaubte sich keine Fragen. Lukas ließ eine leichte Reisekalesche aus der Remise hervorziehen und Postpferde kommen, und als er bei sinkender Nacht zum Thore hinausrollte, athmete er tief auf und wunderte sich selbst über die Instruktionen, die er dem Tänzer gegeben.

Was ihn eigentlich so schnell vorwärts zog, dem unbekannten Mädchen nach, das wußte er nicht; aber daß ihn etwas beunruhigte und gewaltsam hinaus trieb, konnte er sich nicht verhehlen. Oft erwachte er wie aus tiefem Traume und konnte dann verwundert um sich schauen und nicht begreifen, was er hier im Wagen auf dem Wege nach Metthausen thue; oft wieder überfiel ihn eine unerklärliche Unruhe und es war ihm, als solle er den Wagen stehen lassen und querfeldein rennen, den Bergen zu, die im schwimmenden Lichte des Mondes langgestreckt neben seinem Wege lagen. Dann aber ermahnte er den Postillon, zu eilen, und der leichte Wagen flog dahin mit der größten Geschwindigkeit, und in der Frühe bei Anbruch des Tages erreichte er Metthausen und gegen acht Uhr den kleinen Ort, wo sich das Mädchen befinden mußte. Jener Postillon, der sie hieher gebracht, lehnte am Hofthor und lachte freundlich, als er den Herrn von vorgestern Abend aussteigen sah. Er erzählte ihm in aller Kürze, was bisher vorgefallen, von der Verfolgung des Polizeiagenten, daß aber der Schulze festgeblieben und daß sich das fremde schöne Mädchen jetzt in dessen Hause befinde. Dabei kniff er listig ein Auge zu, als wollte er sagen: das finde ich begreiflich, daß man einen solchen Schatz aufsucht.

Der Jäger eilte indessen zum Hause des Schulzen und der alte Mann öffnete ihm selbst die Thüre, führte ihn in's Zimmer und bat ihn, sich niederzusetzen. Der Dorfbeamte schien einigermaßen in Verlegenheit zu sein, als der Jäger nach dem fremden Mädchen forschte. Er nahm sein Lederkäppchen von dem weißen Haar und drehte es unruhig zwischen den Fingern. Lukas saß da in unbeschreiblicher Spannung und ihm ahnte wohl, was geschehen, und noch viel Schrecklicheres obendrein.

»Sehen Sie, mein lieber Herr,« sagte der Schultheiß, »mit der Wahrheit kommt man überall am besten durch; wissen Sie, wenn ich mich nicht selbst für jenes arme Kind lebhaft interessirt hätte, so würde ich sie in's Ortsgefängniß gesperrt haben und würde Ihnen jetzt einfach sagen: was geht Sie meine Gefangene an? Ich habe keinem Fremden darüber Rechenschaft zu geben. Aber so, mein Herr, ist der Fall anders. Ich behielt sie in meinem Hause, hier gleich nebenan – Sie können das Zimmer sehen – die Fenster gehen nur zwei Schuh hoch in den Garten und da hinaus hat sie sich heute Nacht geflüchtet.«

Daß er das Mädchen nicht mehr hier finden würde, hatte dem Jäger geträumt, er hatte jedoch seinem Traume nicht geglaubt; deßhalb aber war er nicht weniger bewegt und schmerzlich berührt, sagte aber blos: »so, so! entflohen ist sie in der vergangenen Nacht; und wann kann das gewesen sein?«

»Ich schätze so zwischen Zehn und Elf,« versetzte der Schultheiß, »um diese Zeit hat der Hofhund gelärmt. – Sie müssen wissen, Herr,« sagte er pfiffig lächelnd, »daß ich den Hund gestern Abend an seiner Kette ließ, und ebenso machten es die Nachbarn: wissen Sie, es hätte dem armen Geschöpf Unglück passiren können.«

»Also habt Ihr gedacht,« entgegnete der Jäger, »daß sich das Mädchen flüchten würde?«

»Na, unglaublich erschien es mir nicht,« lachte der Beamte; »mag das Mädchen nun gewesen sein, wer sie will, und gethan haben, was sie will, ich glaube, mit dem Gensdarmen wäre sie nicht nach der Residenz zurückgekehrt, eher hätte sie sich ein Leid angethan.«

»Ja, ja!« sagte der Jäger Lukas ruhig und wie zu sich selber sprechend; »ich glaube fast, sie hat sich ein Leid angethan.«

»Das wäre ja entsetzlich!« sprach eifrig der Schultheiß und stülpte sein Käppchen hastig auf das Haar; »o, ich kann es nicht glauben, ein so junges und schönes Mädchen!«

»Ja, Freund,« versetzte der Jäger, »es gibt Verhältnisse, wo einem jungen, schönen Mädchen der tiefe Grund eines See's lieber ist, als die klare Himmelsluft; ich habe das schon erlebt! – Aber laßt mich das Zimmer sehen, wo sie gewesen.«

Bereitwillig führte der Beamte seinen rätselhaften Gast in die Kammer nebenan, und darin befand sich noch alles so, wie Anna es gestern Abend verlassen. Das Fenster nach dem Garten war geöffnet, der Stuhl, auf welchem sie gesessen, stand daneben und vor dem Fenster bemerkte man in der weichen Erde des Gartenbeetes den leichten Abdruck eines kleinen Fußes, und im Kieswege, aber kaum sichtbar, eine zweite ähnliche Spur. Weiter sah man nichts.

Der Jäger setzte sich auf den Stuhl am Fenster, und während er sinnend nach den Bergen hinauf sah, fühlte er und sah er deutlich, welchen Weg sie hinauf geeilt; er sah sie dahin schweben, leicht wie ein gescheuchtes Reh, und konnte den Weg, den sie gemacht, verfolgen bis zu dem dunklen Tannenwalde. »Dort hinauf ist sie!« sagte er und zeigte mit dem Finger nach den Bergen.

»Das glaube ich auch,« sprach lächelnd der Schultheiß, »ich habe ihr gestern den Weg da hinaus erklärt.«

»Und habt Ihr dem Mädchen auch gesagt,« fragte der Jäger wie in tiefem Traume, »daß da droben der Bergsee liegt, umgeben von dichtem Gebüsch, welches nur auf die Mitte des Wassers den blauen Himmel sich abspiegeln läßt?«

»Nein, das habe ich ihr nicht gesagt!« entgegnete der Schultheiß überrascht, »aber waren Sie schon in der Gegend, Herr? Haben Sie den wilden See schon gesehen?«

»Ich habe davon geträumt,« erwiderte der Jäger finster, worauf der alte Bauer den Kopf schüttelte und seinen Gast mit einem sonderbaren Blicke ansah.

»Was sollte ich dem Mädchen von dem See sprechen?« fuhr er fort; »auch liegt er nicht an dem Wege, den sie gegangen ist.«

»Ich fürchte, er liegt hart an ihrem Wege!« sagte Lukas finster.

»Ach, Possen!« meinte der Schultheiß; »keine so finsteren Gedanken! Ich will Ihnen einen guten Rath geben: gehen Sie die Berge hinauf, dort den Weg, den Sie sehen, er führt nach dem Städtchen B., und da fragen Sie nach Johann Baumberg dem Jüngern, das ist der Schultheiß des Orts, vielleicht werden Sie da etwas Näheres erfahren.«

»Und an dem Wege liegt der See, von dem wir vorhin sprachen?« fragte nachdenkend der Jäger.

»Keine zweihundert Schritte rechts von der Straße; »wir nennen ihn nur den »wilden See«, obgleich er eben und klar ist, wie ein Spiegel, man kann fast auf seinen Grund sehen.«

»So, man kann auf seinen Grund sehen?«

»Nun, wissen Sie, Herr, das ist hier so eine Redensart; eigentlich ist er sehr tief, der See und ...«

»Wer hinein fiele, käme so leicht nicht mehr heraus!« ergänzte nachsinnend der Jäger. »Nun, ich will mich einmal auf den Weg machen,« fuhr er fort: »also hier durch Euren Garten geht es, dann über die Wiesen, – richtig! Ich will's schon finden! Adieu, Herr Schultheiß! – Auf Wiedersehen!« –

Der alte Bauer begleitete seinen Gast bis an das Gartenthor, welches auf die Wiese hinaus führte, dann nahm er Abschied von ihm und ging kopfschüttelnd in's Haus zurück.

Es war ein klarer, schöner Frühlingsmorgen, der Regen der letzten Tage hatte Flur und Wiese getränkt, und Alles rings herum dampfte mit innigem Wohlbehagen unter den warmen Strahlen der Sonne. Auf der Wiese blühten Tausende von Blumen, die Lerchen schwangen sich trillernd in die Höhe und dem Jäger war es unbeschreiblich wohl zu Muthe. Er dachte an seine Jugend, an sein stilles Dorf und an jenen Morgen, wo er nach der Stadt ging, um Abends in einen tiefen, langen Schlaf zu fallen. Die Zeit zwischen damals und jetzt schwand ihm zusammen und er ging jetzt, wie damals, nachzusehen, wo das arme Mädchen geblieben sei. Die Geschichte mit dem blauen Regenschirme hatte ihm vielleicht nur geträumt, denn der Himmel war ja so klar über ihm, nirgends eine finstere Wolke, die ein böses Wetter anzeigte; ja, es war gewiß: wenn er in den Wald hinauf kam, fand er dort das Mädchen sitzen im grünen Moos, vielleicht einen Kranz windend, vielleicht auch eingeschlafen von der Ermüdung der vergangenen Nacht.

Unter diesen Gedanken schritt er rüstig aufwärts und bald hatte er den schattigen Wald erreicht. Der Weg wand sich in die Höhe zwischen weißstämmigen Birken und hohen Eichen hindurch und bald erreichte er eine Brücke, unter welcher ein geschwätziger Waldbach rauschte, der ihm von der Höhe des Gebirges entgegen kam. Das Wasser murmelte und rauschte über die glatten Kiesel fort, und als sich Lukas über das Geländer der Brücke lehnte und dem herabstürzenden Wasser entgegen sah, und nachdem er lange nachsinnend zugelauscht, verfinsterten sich seine Züge und er glaubte das Gemurmel des Felsbaches, der direkt aus dem Bergsee kam, zu verstehen. Ja, sie war sehr schön! – sehr schön! schien es zu murmeln; so schön haben wir nie etwas gesehen, niemals! Nie! – Nie! Und das lange Haar so blond! So schön und blond! So blond und schön! – Ach! – Ach! Das blonde Haar und das schöne Mädchen! Hin! – Hin! – Hinab! Hinab! Hinab! So flüsterte das Wasser, und Lukas, nachdem er längere Zeit zugelauscht, stieg ruhig weiter, fort in die Höhe. Als er nach einiger Zeit rückwärts sah, lag zu seinen Füßen das kleine Dorf, von dem er eben herkam; auch sah er die Chaussee nach Metthausen, die sie und er in der Nacht gefahren; damals aber rauschte der Regen nieder, heute war Alles klar, und wo ein Wagen denselben Weg rollte, da wirbelte eine leichte Staubwolke empor.

Jetzt hatte er die Höhe des Gebirges erreicht, der Weg bog sich sanft links; es ging tiefsinnend rechts durch das Gestrüpp und über Felsen, es zog ihn zu dem stillen See, er wußte selbst nicht wie. – Jetzt lag er vor ihm, gerade so, wie es ihm geträumt und gerade so, wie er ihn auf dem Bilde gesehen. Ringsum war er mit dichtem Gebüsch umgeben, welches sich auf allen Seiten dunkelgrün in dem Wasser widerspiegelte; nur in der Mitte, wo der Himmel auf das Wasser sah, glänzte es klar und blau. Um ihn her lag eine tiefe, feierliche Stille, und hoch in den Lüften kreiste ein Raubvogel.

Der See war nicht groß und der Jäger hatte ihn rasch und ängstlich umschritten. Sorgfältig untersuchte er die Gebüsche am Ufer, ob dieselben irgendwo niedergetreten seien; aber er sah nichts dergleichen – die schlanken Zweige wiegten sich im Morgenwinde auf und ab und schienen wohlgefällig ihr Bild im Wasser zu betrachten. Es war schwer, an das Ufer des Sees zu gelangen und nur an Einer Stelle ging es leichter: da war nämlich ein umgehauener Baum auf das Gesträuch gefallen und die Krone desselben ruhte auf dem Wasser. Hier drang Lukas durch, setzte sich auf den Baumstamm, stützte die Arme auf die Zweige und starrte hinab in das Wasser. Oftmals glaubte er auf dem Grunde etwas zu bemerken, das mit einem menschlichen Körper Aehnlichkeit habe; dann sah er aber wieder, daß er sich getäuscht und daß es Schilfrohr war oder vielleicht ein Baumstamm. – – – – – –

An jenem Morgen, wo er in tiefem Schlaf in seinem Bette lag, hatten wohl die Bursche des Dorfes ebenso an dem See gestanden und emsig auf den Grund gespäht. Wenn er nur damals dabei gewesen wäre, er hätte den Körper des Mädchens gewiß entdeckt, und dann wäre er nicht in jenen ewigen Traum verfallen, der so finster und quälend auf seinem Geiste lag und aus dem zu erwachen er sich vergeblich abgemüht!– Der Gedanke, nicht wie die anderen Menschen zu leben, ein wirkliches Dasein zu genießen, hatte ihn finster, verschlossen und lebenssatt gemacht. Es zog ihn nieder auf den ruhigen Spiegel des Sees, und er beugte sein glühendes Gesicht auf die kalte Fluth, und die Kühlung that seinem brennenden Gehirn so wohl! – – Wieder floßen die Bilder der beiden Mädchen in einander und wenn er an eines dachte, dachte er an das andere. »O, wenn ich damals,« seufzte er, »ihr nachgefolgt wäre bis an den See, ich hätte sie gewiß herausgeholt! – oder wäre auch drunten geblieben und hätte nicht den ewigen quälenden Traum gehabt! – Aber träume ich jetzt nicht auch?« fuhr er rascher fort und beugte sich tiefer gegen das Wasser; »träume ich nicht von jener Nacht, von jenem unglücklichen Mädchen? von diesem Wasser? Wie, wenn ich auf dem Grunde desselben ein angenehmes und fröhliches Erwachen fände?« – – –

Und es geschah, wie er es in der Nacht im Wagen ahnungsvoll gesehen! – Seine Zeit war aus, er glitt durch die Zweige des Baumes in den See, und als er langsam untersank, zitterten tausend glänzende Strahlen um seinen Kopf. Nebel drangen von dem Grund herauf, diese Nebel wurden zu weißen Gewändern und die glänzenden goldenen Strahlen, die ihn immer enger umspannen, waren wie langes und blondes Haar, und er fühlte sich wie mit weichen Armen umschlungen, die ihn langsam niederzogen, und nachdem er eine Stimme vernommen, hell und klar wie Glockentöne, die ihm zurief: »willkommen hier unten!« hörte er weiter nichts mehr. – – –

Noch einige Augenblicke später bewegte sich das Wasser des Sees unruhig und warf weite Kreise an die Ufer, und die Bilder der Gesträuche, die rings umher standen, zitterten heftig vor Schrecken und Entsetzen, und es dauerte eine Zeit lang, ehe sie wieder ruhig und klar wurden. Der Raubvogel, der hoch in den Lüften geschwebt, stieß kreischend hernieder auf den See, und dann schwang er sich empor und verschwand hoch in der Luft an dem unermeßlichen, ewig klaren Himmelsgewölbe.


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