Friedrich Wilhelm Hackländer
Namenlose Geschichten - Zweiter Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Achtundzwanzigstes Kapitel. Aus dem Marstall.

Joseph zog in die Remise, spannte Tibull und Pluto ein, befestigte alles noch sorgfältiger als sonst, untersuchte die Zugstränge, die Aufhalter, die Schnallen am Kopfzeug, was er sonst auf die gleiche Art nie that, schwang sich endlich in den Bock, faßte die Zügel fest in die Hand und fuhr langsam durch das Portal des Schlosses. »Wenn die Alte da oben heute nicht ausfahren wollte,« brummte er in sich hinein, »so – ich weiß nicht warum, – aber so wäre mir ein großer Dienst geschehen.« Und darauf sprach er ermuthigend zu sich: »nun, die Augen auf, die Hand fest, es wird, so Gott will, wohl gut gehen wie immer.«

Jean stand schon am Thor, als der Wagen anfuhr, und eilte hinauf, um seine Meldung zu machen. Wenige Augenblicke danach stieg die Hofdame die breiten Treppen hinab, trug ein kleines Paket in der Hand und näherte sich dem Wagen. Jean riß den Schlag auf und ließ den Tritt herab.

»Wer fährt heute?« so hörte Joseph die Dame fragen, ehe sie einstieg, und der Hoflakai antwortete:

»Es ist der Winkler, gnädige Frau, der Sie ja fast immer fährt, der beste Kutscher des ganzen Stalles.«

»Er soll vorsichtig sein,« bemerkte die Dame und zog bei diesen Worten den Fuß zurück, den sie schon auf den Tritt gestellt hatte, während sie fortfuhr: »sehen Sie einmal nach, Jean, ich glaube, der Tritt ist nicht recht fest, er gab unter meinem Fuße nach.«

»Gnädige Frau wollen verzeihen,« entgegnete der Lakai, »aber es ist Alles an dem Wagen in Ordnung, der Wagenkasten schwankt nur ein wenig auf die Seite.«

»So, so!« sagte die Dame und stieg ein. Jean schlug den Tritt hinauf, drückte die Wagenthür zu und nannte dem Kutscher den Namen der Gräfin Clara, dann sprang er hinten auf, und Joseph fuhr aus dem Schloßhof auf die Straße.

Es mochte nun daher kommen, daß der Kutscher, aufgeregt wie er war, die Zügel etwas schärfer anzog, als sonst, oder daher, daß die beiden Pferde den Stall gestern und heute noch nicht verlassen – genug, Tibull und Pluto waren lustiger als sonst und galoppirten abwechselnd auf dem Pflaster dahin, statt in einem ruhigen Trabe zu laufen. Dunkel war es auf den Straßen, es brannten noch keine Gaslaternen, und jetzt bog der Wagen von der Hauptstraße ab auf einen einsam gelegenen Platz, der dicht mit Bäumen besetzt war und vollkommen finster dalag. Joseph blickte scharf vor sich hin und sah nichts, wie ein paar Leute, die ebenfalls desselben Weges zu gehen schienen und jetzt, wie der Wagen näher kam, rechts und links hinter die Bäume traten. – – – –

Auf einmal straucheln beide Pferde zugleich, Tibull stürzt hin und Pluto, der sich auf den Beinen hält, macht einen Satz rechts gegen die Bäume, wobei der Kutscher zu seinem größten Schrecken deutlich fühlte, daß die Deichsel brach. Jetzt schnellte auch Tibull in die Höhe, bog ebenfalls rechts ab und die starken Thiere rissen, trotz des Kutschers verzweifeltem Anhalten, den Wagen zwischen die dicht stehenden Bäume hinein. Jean, der durch den Stoß des Wagens von dem Tritt hinten herab geschleudert wurde und glücklicher Weise mit seinen Armen einen Baumstamm erhaschen konnte, sah, wie die Hofdame den Schlag öffnete, um aus dem Wagen zu springen. Umsonst rief er ihr zu, sie möge sitzen bleiben; die durchgehenden Pferde rasten mit dem Wagen dahin, bald mit diesem, bald mit jenem Rad krachend an die Bäume schlagend. Einen Augenblick hielt die Hofdame am Schlage fest, dann sprang sie rasch hinaus und wurde von der Gewalt des Falles so gegen einen Baumstamm geschleudert, daß sie besinnungslos liegen blieb. Noch immer hielt Joseph die Zügel in der Hand und suchte die Pferde mit übermenschlicher Kraft zu halten, aber umsonst! Schon sah er den Schloßplatz vor sich, wo er einen weiten Spielraum hatte, um die Thiere vielleicht bändigen zu können, ehe sie den Wagen zerschellten, da streckte sich ein Baumast gerade vor ihm aus, und auch hier in der drohenden Gefahr ließ er seine Zügel nicht fahren, doch fühlte er in der nächsten Sekunde diesen Baumast an seine Stirn schlagen, und bald darauf jagten die Pferde ohne Kutscher mit dem halb zertrümmerten Wagen über den freien Platz dahin nach den Ställen zurück, wo sie von der entsetzten Stallwache aufgefangen wurden.

Der Hoflakai, der sich im ersten Augenblick vergeblich nach Hülfe umsah – es waren wenig Menschen auf der Straße, – bemerkte endlich ein paar Wagenlaternen durch die Nacht schimmern und sah bald darauf, daß es ein Hofwagen war, der sich dem Platze, wo das Unglück geschehen war, näherte. Auf seinen Ruf hielt die Equipage, der Bediente sprang herab und half seinem Collegen Jean die wie leblos daliegende Dame in den Wagen heben. Dann fuhren sie langsam in's Schloß zurück. An dem Portal kam ihnen schon die alte Kammerfrau händeringend entgegen, denn die Kunde von einem Unfall hatte sich wie ein Lauffeuer aus dem Stalle in das Schloß verbreitet. – Frau von C. wurde sorgfältig hinaufgetragen und in ihre Zimmer gebracht.

Unterdessen hatten sich mehrere der Stallleute mit großen Laternen auf den Weg gemacht, um nach Joseph zu suchen, den sie auch nach kurzer Zeit unter den Bäumen dahin gestreckt auffanden. Er stöhnte schwer, als man ihn aufhob; der Baumast, gegen den er gestoßen, hatte ihm die Stirn bedeutend verletzt; doch war er bei Besinnung und im Stande, auf einige Fragen über den Vorfall selbst Antwort zu geben; woher und wie es eigentlich gekommen sei und weßhalb die Pferde niedergestürzt und gescheut, war er nicht im Stande anzugeben. Doch meinte Joseph und ebenso Jean, der auch hinzueilte, nachdem Frau von C. im Schlosse war, die Sache sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, und mehrere Kutscher eilten an den Ort, wo die Pferde auf die Seite gesprungen, fanden aber auf dem Boden durchaus nichts Verdächtiges. Joseph wurde nun auf eine Tragbahre gelegt und von seinen Collegen in das Hospital gebracht.

Mittlerweile waren die Leibärzte in's Schloß geeilt, ebenso die Gräfin Clara, die man von dem Vorfalle augenblicklich in Kenntniß gesetzt. Im Vorzimmer befanden sich mehrere Lakaien der alten Herzogin, um über das Befinden der Kranken von Viertelstunde zu Viertelstunde Nachricht zu geben. Die Aerzte umstanden das Lager, sie hatten die Kranke, welche wieder zu sich gekommen war, sorgfältig untersucht, und der erste Leibmedicus, ein alter Herr mit grauen Haaren, sagte mit tiefbekümmertem Gesicht, daß man äußerlich durchaus keine Verletzung wahrnehme und daß er überzeugt sei, die Sache werde ohne große Folgen vorübergehen. Zu gleicher Zeit aber warf er einem jüngeren Collegen einen bedeutungsvollen Blick zu und fuhr leicht mit der Hand über den Rücken desselben, ihm so ein Zeichen gebend, worauf Jener traurig nickte und so beistimmte.

Nachdem die Herren Mehreres verordnet, zogen sie sich in das Nebenzimmer zu einer Consultation zurück, die aber gar nicht lange dauerte. Der alte Leibmedicus sagte am Schlusse desselben: »es ist furchtbar, aber da kann nur Gott allein helfen. Lassen wir den Doktor M. und den Chirurgus C. für alle möglichen Fälle heute Nacht da, und wenn die Kranke, was ich aber nicht glaube, nach mir verlangen sollte, so schicken Sie nur in meine Wohnung. Uebrigens werde ich auch ungerufen gegen vier Uhr morgen früh wieder kommen. – Guten Abend, meine Herren!«

Der Leibmedicus mit einem andern Collegen begab sich hinweg und der Doktor M. und der Chirurgus gingen in leisem, angelegentlichem Gespräche auf dem dicken Teppich des Vorzimmers unhörbar auf und ab. Neben dem Bette der Kranken saß die Gräfin Clara und hatte ihre Hand erfaßt, welche sie mit ihren Thränen benetzte. »Arme Adelaide!« sagte sie im Uebermaße eines wirklichen Schmerzes; »wie kann man so unglücklich sein!«

Die Hofdame drückte die Hand ihrer Freundin und blickte bedeutungsvoll aufwärts, als wollte sie sagen: »es ist ein höheres Geschick, das so plötzlich in unser Leben eingreift;« und dann bat sie mit leiser Stimme, die Gräfin möge ihr ein kleines Packet geben, welches der Hoflakai der Kammerfrau eingehändigt und diese auf den Tisch gelegt hatte. Mit zitternder Hand riß Frau von C. den Umschlag herunter, öffnete einen Brief in demselben, den sie der Gräfin zum Lesen offen darreichte. Nachdem diese das Schreiben durchflogen, gab sie es kopfnickend in die Hände der Hofdame zurück, worauf diese sagte: »liebe Clara, Sie versprechen mir, nie Jemanden den Inhalt dieses Schreibens mitzutheilen. Sie habe ich davon in Kenntniß gesetzt, um Sie zu überzeugen, daß erst ein großes Unglück über mich kommen mußte, um gegen das arme Mädchen mild und gerecht zu verfahren.« – Damit zerriß sie den Brief in viele Stücke und fuhr mühsam fort: »Theure Clara, erzeigen Sie mir die Liebe und schreiben Sie dort an meinem Schreibtische ein paar Zeilen, die ich Ihnen ansagen werde – wollen Sie so gut sein?«

Die Gräfin nickte schweigend, denn sie konnte nicht sprechen, erhob sich von ihrem Stuhle und setzte sich an den Schreibtisch. Die Kranke im Bette diktirte:

»Mein liebes gutes Mädchen!

»Es hat mich ein großes Unglück getroffen, und wenn du diese Zeilen erhältst, bin ich wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden.« – –

»Adelaide!« schrie die Gräfin entsetzt auf; »das kann ich nicht niederschreiben!«

»Schreiben Sie immerhin!« sagte die Kranke mit einem matten Lächeln. »Mit dem Gefühle, das ich im Herzen habe, spricht man keine Unwahrheit; mit ihm sind alle Täuschungen verschwunden.« –

»Bin ich nicht mehr unter den Lebenden,« – fuhr sie fort. »O, Pauline, mein liebes Kind, daß du in diesem Augenblicke nicht an meinem Lager stehst, ist die schrecklichste Empfindung, die ich habe. Daß ich dir so aus der Ferne ein ewiges Lebewohl zurufen muß, o, das quält und martert mich entsetzlich! Aber es hat ja so kommen sollen! Nimm, mein gutes Kind, diesen letzten Abschied hin! Vergiß die trüben Stunden, die ich dir gemacht; ich segne deine Verbindung; sei glücklich und denke zuweilen an mich.«

Als die Gräfin dieses Papier mit einer Feder in die Hand der Kranken gab, war es ganz feucht von ihren Thränen, und sie wandte sich ab, als ihre Freundin mit zitternder Hand »Adelaide« darunter schrieb. Dann eilte sie in's Vorzimmer, zog die beiden Aerzte durch mehrere Gemächer mit sich fort und forschte alsdann verzweiflungsvoll, ob ihre Freundin in einer wirklichen und dringenden Gefahr schwebe. Die beiden Herren zuckten mit den Achseln und sprachen von schweren, unheilbaren, innerlichen Verletzungen. Als die Gräfin darauf gefaßter in das Zimmer zurück ging, lag die Kranke in einem leichten Schlummer. Die alte Kammerfrau stand am Bette, hatte eine ihrer Hände erfaßt, und ihre Thränen rieselten unaufhörlich hinab.

So schritt die Nacht langsam dahin und lagerte finster und gespenstig mit ihrem dunklen Gefolge in den hohen Zimmern des Schlosses und auf den langen Korridors und Treppen. Die Uhren in der Stadt schlugen oftmals, eine nach der andern; die Schildwachen marschirten mit gleichförmigem Tritt auf und ab, und als gegen vier Uhr der Wagen des Leibmedicus in den Hof rollte, brach auch der junge Tag im Osten herauf; aber die Sonne, welche die Kranke gestern Abend noch so schön untergehen sah, kam noch lange, lange nicht. Die Hofdame war von ihrem Schlummer erwacht, und als der Arzt an ihr Bett trat, schien sie ihn zu erkennen; sie bewegte leise die Lippen und flüsterte den Namen der alten Herzogin. Der Leibmedicus ging in das Vorzimmer, gab dem dort wartenden Lakaien einen Befehl, und dieser eilte alsbald die Treppen hinab zu den Appartements der Fürstin. In kurzer Zeit kehrte er wieder zurück, meldete dem Arzte etwas, und dieser sagte darauf der Kranken, die Frau Herzogin werde sogleich heraufkommen, worauf ein freundliches Lächeln über ihre Züge flog. Sonst aber schien sie theilnahmlos gegen Alles, was sie umgab, und der Leibmedicus zog sich mit der Gräfin in's Vorzimmer zurück; nur die alte Kammerfrau blieb bei der Kranken, welche derselben ein Zeichen machte, ihren Anzug einigermaßen in Ordnung zu bringen. Als dies geschehen war, sagte sie mit kaum verständlicher Stimme: »wenn die Frau Herzogin da ist, so unterstütze meinen Kopf, daß ich eine kleine Verbeugung machen kann,« worauf die Kammerfrau gehorsam ihre Hand unter das Kopfkissen legte.

Jetzt hörte man Tritte auf der Treppe, man vernahm, wie die Flügelthüren in mehreren nach einander folgenden Zimmern geöffnet und wieder geschlossen wurden; jetzt rauschte ein seidenes Kleid vor dem Eingange des Schlafzimmers, der Leibmedicus öffnete die Thüre und die Herzogin trat ein.

Die Kerzen auf den silbernen Armleuchtern waren tief herabgebrannt und durch die dichten Fenstervorhänge merkte man das Grauen des Tages. Die alte Fürstin trat tief erschüttert an das Bett ihrer Hofdame und stützte die gefalteten Hände auf das Fußende desselben.

Die Hand der Kammerfrau ließ die Kranke eine tiefe Neigung mit dem Kopfe machen. –

»Wie geht es Ihnen, theure Adelaide?« sagte die Herzogin; »man hat mir von Stunde zu Stunde während dieser unglückseligen Nacht den Stand Ihres Befindens mitgetheilt, und ich glaube, die Aerzte sind nicht unzufrieden damit.«

Ein kaum bemerkbares Lächeln spielte um den Mund der Hofdame, während ihr Kopf eine tiefe Verbeugung machte; doch gab sie keine Antwort.

»Sie befinden sich etwas besser?« fragte die Herzogin ängstlich und blickte ihr forschend in das bleiche Gesicht. – – – –

Dieses Mal zuckte nicht mehr der Mund der Kranken, ihr Auge war fest verschlossen und nur die Kammerfrau ließ das Haupt ihrer Gebieterin eine abermalige Verbeugung machen.

Die alte Herzogin zog sich langsam zurück nach dem Vorzimmer, wo sich der Leibmedicus befand, und schaute entsetzt nach dem bleichen Gesicht, das sich tief verneigte.

»Doctor!« rief die Fürstin und hielt sich erschrocken an der Thüre; »Doctor, um Gotteswillen, kommen Sie herein!«

Der Leibmedicus öffnete schnell die Thüre in dem Augenblicke, als sich der Kopf der Hofdame zur letzten Verbeugung schwer erhob. Er eilte an das Bett, warf einen Blick in das Gesicht der Daliegenden und sagte erschüttert zu der Kammerfrau, die der verschwindenden Herzogin diese letzte Verbeugung machte: »laßt die Todten ruhen!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Treten wir für einen Augenblick an ein anderes Bett, das sich in einem Zimmer eines weitläufigen Hauses befindet. Dieses Zimmer hat ein einziges großes Fenster, der grüne Vorhang vor demselben ist halb herabgelassen und freundliche Sonnenstrahlen haben sich hineingeschlichen und glänzen auf dem weißen Fußboden.

Im Bette liegt Joseph, der Kutscher, mit einer Wunde am Kopfe und ist in einen erquickenden Schlummer gefallen; vor ihm auf einem Stuhle sitzt ein junges, blühendes, bildschönes Mädchen und hält die Hand des Kranken in der ihren. Die Frau Winkler steht an der Thüre und befragt ängstlich den Chirurgus des Spitals, der im Begriffe ist, sich zu entfernen. Das junge Mädchen hat den Kopf herumgewandt, um zu hören, was er spricht.

»Seien Sie ganz ruhig,« sagt der Chirurgus lächelnd, »unser Freund Winkler hat einen harten Kopf, es ist von einer ernstlichen Verletzung gar nicht die Rede; in sechs bis acht Tagen kann er gesund hinausspazieren.«

»Gelobt sei Gott!« sprechen die Weiber, das Mädchen küßt innig die Hand des Kranken und dieser lächelt im Schlafe.


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