Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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107 23.

Mit ihrem Bündelchen und mit dem erbrochenen Briefe schritt Armgart wie die verstoßene Hagar dahin. Sie betrat die Gegend Witoborns, wo sonst so mächtig das Wasser rauscht, die Räder brausen. Die Mittagszeit hatte alles still gemacht.

Die Witobach hat hier eine Biegung, die einen alten Gefängnißthurm, jetzt das Hauptwerk des ganzen Mühlenbetriebs, wie auf einer Insel liegen läßt. Hier und da wird der Weg durchkreuzt von alten durchbrochenen Mauern und großen Schuppen. Hier also wollte Armgart's Vater seinen künftigen Wirkungskreis eröffnen, hier eine »Erfindung des Satans« befördern helfen und Papier machen –! Daß doch auch die Gebetbücher und Breviere des Papiers benöthigt waren, diese Erwägung gab Armgart eine gewisse Erkräftigung gegen die strengen Vorwürfe der Frau von Sicking. Aber – welch ein räthselhaftes Wesen allerdings im Papiere liegt, das fühlte sie ja an dem Briefe, der ihr enthüllen konnte, was und wie Terschka ihrer Mutter zu schreiben wagte.

Schon in der ersten Häuserreihe der Straßen lag das freundliche Häuschen, wo Hedemann wohnte. Hier hatten Benno und Thiebold seit einigen Wochen gewohnt, sie, die sie aus ihrem Leben ausgelöscht zu haben glaubte und es doch so wenig gethan hatte, wie die heutige Erinnerung wieder zeigte. Es war die 108 Mittagszeit. Sie konnten, wenn sie beide noch nicht abgereist waren, eben beim bescheidenen Mahl ihres gastlichen Freundes sein. Wenn sie ihnen Rede stehen mußte! Wenn der Vater wirklich schon angekommen war! Sie schritt wie bewußtlos dahin.

Auf einem der schmalen Stege und geländerlosen Brücken, die hier zu überschreiten waren, begegneten ihr zwei Bekannte. Der bucklige Stammer und die Hebamme Frau Schmeling. Unwillkürlich erschauderte sie trotz des demüthigen Grußes, der ihr von beiden Seiten zu Theil wurde. Stammer war im Kirchenbann und auch die Schmeling sollte hineinkommen! Auch von Hedemann hörte man, daß sein wahrer Kern sich zu Ostern, beim allgemeinen Communiongang, enthüllen würde. Die Aeltern Hedemann's waren gleichfalls im Kirchenbann. Ja ihr eigener Vater galt für einen Freigeist, wie ihre Mutter –! Sie irrte wie am Scheidewege zwischen Himmel und Hölle.

Wie lag auch dann noch das Gespräch mit Lucinden auf ihrem Herzen –! Was hatte sie an Anschauungen und wilden Lebensmaximen aus diesem Munde vernommen! Diese fremde Welt war ihr gar nicht so abschreckend. Fühlte sie doch schon lange, daß eine seltsame Musik durch ihre eigene Seele zog, daß sie im Vergleich mit ihrer lichtreinen Paula längst in immer unheimlichere Schatten trat. Sie konnte von dem, was sie so bedrückte, nichts nennen und ihr erstes Gefühl war auch, sich zu sagen: Das ist die Sünde! Aber gerade darin lag ihre Angst, daß dann wieder tausend muthige Stimmen in ihr riefen: Was Sünde! Gib dich nur, wie du mußt! Dies Müssen war ihr wie ein Gezogenwerden schon von der Hand des Teufels.

Grinsend sprang der berüchtigte Musikant zur Seite. Auch die Hebamme schien ihrerseits betroffen, von dem allbekannten Stiftsfräulein mit Stammer zusammen gesehen zu werden. Sie knixte und erbot sich mit schneller Zunge zu jeder Auskunft. Armgart's 109 Zögern im Gehen verrieth, daß sie nicht wußte, wie sie aus diesem Labyrinth der kleinen Kanäle der Witobach herauskommen sollte. Ich wollte zu Hedemann! sagte sie.

Der ist eben im Thurm da oben, mein gnädiges Fräulein! Eben ging er die Treppe hinauf! Dort! Sehen Sie! Die Thür –! Und Stammer deutete zu diesen Worten der Schmeling noch einen kürzern Weg an, auf dem Armgart zu diesem Thurm gelangen konnte.

Armgart schien somit das Glück zu haben, Hedemann allein zu treffen. Alles ringsum blieb still. Sonst hätte man so viel Worte hier ohne die lebhafteste Erhebung der Stimme nicht wechseln können. Sie betrachtete den Thurm. Er mußte bewohnt sein. Eine alte Frau stieg von der Außentreppe nieder; in der Hand hielt sie einige Töpfe. Aus einem Verschlage, an welchem Armgart still stand, sah eine Ziege und bohrte mit den Hörnern an der Oeffnung. Sogar darüber wurde ihr ängstlich zu Muthe –! Vollends, als sie die aus dem Thurm gekommene Frau nach Hedemann fragte und an der Antwort sah, daß die Alte taub war. Nun stieg sie von selbst die Außentreppe hinan und trat in die offene Thür des alten Mauerwerks ein.

Von hier führte eine enge steinerne, abgetretene Treppe theils abwärts in eine Küche im Erdgeschoß, in die man hinunterblicken konnte und auf deren Herde verglimmende Kohlen lagen, theils führte sie nach oben hinauf. Sollte sie die aufwärts führenden Stufen besteigen? Sie sah sich nach einer Klingel um; die Alte folgte ihr schon dicht auf der Ferse und sprach nichts und betrachtete sie nur neugierig.

Da wurde Armgart von oben angerufen und begrüßt. Es war Hedemann's Stimme. Aber sie sah ihn noch nicht. Nur die Füße bemerkte sie. Sie mußte den Kopf erst durch eine Fallthür stecken, bis sie Hedemann von Angesicht sehen konnte.

110 Fräulein Armgart, Sie sind es –? rief er ihr entgegen und reichte ihr die Hand, sie emporzuziehen.

Hier sind Sie ja wie in einem Gefängniß! sagte sie.

Das war hier auch ehedem so etwas dergleichen! sagte Hedemann. Der Thurm gehörte zur Vogtei –! Hedemann schien hocherfreut von diesem Besuch und setzte hinzu: Aber darum ist es hier doch ganz angenehm! Kommen Sie nur näher –! Er öffnete ein Gemach, das in der That warm und behaglich war. Die Fenster waren zwar kaum größer, als Schießscharten, aber da es ihrer vier waren und sie hoch lagen, erhellten sie den Raum, der mit einem in einem Alkoven befindlichen Bett, einem alten Lehnstuhl, einem Tisch und einigen Stühlen besetzt war. Tassen, Gläser standen auf einer Kommode. Es war das Bild einer kleinbürgerlichen Wohnung. Um den Fußboden dieses Zimmers zu betreten, mußten beide dann innenwärts noch einige Stufen hinuntersteigen.

Armgart war glücklich, Hedemann hier oben allein sprechen zu können. Sie warf ihren Muff ab, band den Hut auf, lüftete den Mantel und rückte, um sich die Füße zu wärmen, dem behaglichen Ofen näher, der halb von Eisen, halb von Kacheln war. Hedemann begleitete alle diese Bewegungen mit den Worten: Nun, das ist gut! Das ist gut!

Was ist gut, Hedemann? fragte sie.

Daß Sie nicht in Westerhof bleiben, sondern zu uns kommen! Heute kommt Ihre Mutter!

Sie wissen –? Und der Vater –?

Das ist recht, Sie halten am Vater!

An Vater und Mutter! Wie Sie's ja immer selbst sagten!

Aergert dich aber dein Auge, so reiß es aus! Mit der Mutter können Sie nicht gehen, ohne den Vater zu kränken.

Ich weiß es! Und wann kommt der Vater?

111 Ich denke, jede Stunde. Sie sind ein gutes Kind! In Ihren Jahren gehören Sie schon dem Vater!

Ich will zu den Clarissinnen gehen, Hedemann, und dort so lange warten, bis beide mich abholen –

Da würden Sie den Schleier nehmen müssen! Denn daß diese beiden so zusammen kommen, wie Sie's, hör' ich, verlangen, das würde lange dauern!

Nun dann – dann thäte es ja auch so – vor Gott nichts –

Was –? sagte Hedemann aufwallend und schien von plötzlichen Gedanken ergriffen . . . Haben Sie schon gegessen? fragte er.

Essen und Trinken lehnte Armgart ab.

Kommen Sie hinüber in mein Häuschen –! Benno und Herr de Jonge speisen heute nicht bei Tangermanns, sondern bei uns! Sie gönnen mir die letzte Ehre! Vielleicht überrascht uns zum Nachtisch – noch der Oberst –

Nein, nein! Hedemann! Ich darf nicht!

Sie bleiben dann auch gleich drüben. Bei Ihrem Vater! Ja, dessen Schild und Ehrengarde müssen Sie nun werden –!

Sie wissen ja schon von Lindenwerth, wie ich über alles das denke –

Der Vater will keine Versöhnung!

Ich aber will sie!

Läßt sich ein Mann was vorschreiben?

Aber die Mutter –

Umstrickt Sie! Auf Westerhof ist gestern das große Loos gezogen worden! Die Urkunde hat sich gefunden. Haha! Da mag es hoch hergehen –! Bleiben Sie getrost bei Ihrem armen gekränkten Vater!

Hedemann –

Sie sind jetzt alt? Wie alt? Sechzehn Jahre – denk' ich – Warten Sie, ich kann es bis auf die Minute sagen! 112 Hedemann nahm ein großes Buch, das unter den Tassen und Gläsern lag und sich an seinem Einband schon als die Bibel zu erkennen gab. Hier stehen sie alle, die zu meiner Familie gehören – Auch Sie gehören dazu!

Guter Hedemann! Aber hier kann ich nicht länger bleiben –

Sie – bleiben hier!

Ich gehe nicht nach Westerhof zurück, das versprech' ich. Aber ich will ins Kloster –

Sie bleiben bei Ihrem Vater! Da steht Buch Sirach: »Bleibe treu dem Freunde in seiner Armuth –!«

In seiner – Armuth –?

Reich macht Liebe, Ehre, Anerkennung, Gerechtigkeit! Das Gegentheil davon macht arm! Armgart, Sie müssen jetzt zum Vater halten! Sie müssen die Netze der Mutter fliehen! Westerhof sogar, die Tante, den Onkel, alle, die den Obersten lästern! Die Rede Ihrer Mutter wird süß sein, gewiß! Erst aber müssen Sie dem Vater in die Arme fliegen – wie Jephtha's Tochter, da er die Feinde geschlagen! Sela! Sechzehn Jahre sechs Monate und sieben Tage sind Sie alt! Da steht's!

Das kann ich nicht, Hedemann! sprang Armgart jetzt auf. Sie erschrak vor des Mannes seltsamer Entschiedenheit. Wie könnt Ihr mir rathen, so meiner Mutter weh zu thun –?

»Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen!« spricht Paulus, »sondern« – doch wol umgekehrt.

Nein, nein! Hedemann, adieu! Schickt den Vater zu den Clarissinnen! Ich folge ihm nur, wenn er mit der Mutter kommt –!

»Der Rath des Herrn bleibt ewiglich!« Sela –! Mit diesen Worten machte Hedemann einen gewaltigen Schritt auf die vier oder fünf Stufen hinauf, die in das kleine Gemach von der Thür herunterführten.

Was habt Ihr vor? rief Armgart entsetzt und sprang ihm 113 nach. Und wie Hedemann noch eine Stufe weiter zurückgegangen war, kam ihr die Ahnung, daß er gegen sie etwas im Schilde führte . . . Jesus Marie! rief sie. Ich werde – doch wol – wieder – gehen können –?

Das hat der Herr gefügt! sagte Hedemann und hielt schon die Thür in der Hand.

Armgart stand wie schreckgelähmt . . .

Nicht wie in Lindenwerth sind wir hier –! Nicht wieder wie damals in Nacht und Nebel vor Vater und Mutter wird hier geflohen!

Armgart, die diese Wendung ihres Vertrauens nicht für möglich gedacht hatte, schrie den Namen Hedemann's so laut, daß man sie auf hundert Schritte weit über die Insel hinaus hätte hören müssen. Aber auch im selben Augenblick griff Hedemann an eine links hängende Klingel – und wie dem Zusammensturz eines Hauses gleich, so brausend begannen sofort die Räder der Mühlen ihre kreisenden Bewegungen, die schrillen Töne der Sägen durchschnitten die Luft, das Wehr, das gestaut gewesen, entsandte seine Donnertöne. Seine eigenen Gedanken begriff man kaum, viel weniger hörte man sein eigenes Wort oder das eines andern.

Wie von einem Taumel überfallen, schwankte Armgart zurück und ehe sie sich noch in den schrecklichen Augenblick gefunden und sich mit beiden Händen wie zum Angriff auf Hedemann gerüstet hatte, war dieser verschwunden. Nun stürzte sie die Stufen hinauf und rüttelte an der Thür. Sie schlug mit beiden geballten Fäusten wider sie. Die Thür war eisenbeschlagen und eisenfest. Sie suchte einen Griff, einen Riegel, um zu rütteln – Selbst diese fehlten, die Thür war nur von innen durch einen Schlüssel zu öffnen und dieser war abgezogen. Mit der Behendigkeit eines flüchtigen Wildes sprang sie die Stufen wieder hinunter, riß einen 114 der Stühle an die hoch gelegenen kleinen, kaum einen Fuß breiten Fenster, griff hinauf, um eines, das nach außen vergittert war, zu öffnen – Vergebens, von den Fenstern war gerade dies nicht zu öffnen –! Sie sprang wieder hinab, rückte den Tisch an die Wand, kletterte hinauf, suchte ein anderes Fenster zu öffnen – Dies gelang. Sie schrie hinunter ins Freie: Hülfe! Hülfe! Der Ruf verhallte in dem Lärm des Mühlenwerks und des Wehrs so ohnmächtig wie das Summen eines Käfers. Kein Haus lag gegenüber, kein Weg führte daher. Sie konnte rufen und rufen und erschöpfte nur die Kraft ihrer Stimme und den letzten Rest des Muthes, welchen sie dem so rasch ausgeführten Entschluß Hedemann's entgegensetzen konnte.

Schon dachte sie: Es ist ein Scherz von ihm – Er wird wiederkommen! Aber wenn er mit dem Vater käme? Wenn ihr Gelübde – vereitelt war –! Als sie das Fenster der hereinströmenden Kälte wegen zugeworfen hatte, wieder niedergestiegen war, immer begleitet von dem betäubenden Geräusch, sank sie auf den Lehnstuhl nieder und ließ verzweifelnd die Hände zusammengefalten auf ihrem Schoose liegen. Blasser und matter neigte sich ihr Haupt. Der Hut entfiel ihr. Sie lag in Betäubung. Gefoltert ebenso vom dumpfsten Schmerz der Seele, wie vom grauenhaften, ihrer Stimme hohnsprechenden Getöse um sie her.

Das hatte sie nicht für möglich gehalten! Sie war Hedemann's Gefangene –! Aus seinen Bitten, die ihr noch im Ohr klangen von den letzten Augenblicken an der Maximinuskapelle, waren Befehle geworden. Sie konnte erwarten, daß sie nur ihr Vater befreien würde. Jetzt hätte sie aus dem Fenster nach Benno und Thiebold rufen mögen. Was half es –! Nichts war von ihrem Ruf zu hören. Ihre Thränen brachen hervor. Sie, die sich selbst gefangen setzen konnte, tagelang, sie konnte es nicht von andern sein. Sie wollte aufspringen, wider 115 die Wände rennen. Ihre Muskeln hatten keine Kraft mehr, ihren Willen auszuführen. Und was sie auch that, nichts ging helfend an gegen die Gleichmäßigkeit des Rauschens und Rollens und Donnerns um sie her.

Dazu dann endlich noch der Brief, der geöffnete, der vor ihr auf dem Tische lag –! Sie sah ihn lange an, indem sie sich die Ermuthigung gab, wenigstens den zu lesen und durch diese natürliche Folge eines nun einmal nicht abzuändernden Frevels in eine vorherrschende, wenn auch schmerzlich zerstreuende Stimmung zu kommen. Jetzt aber gerade überfiel sie plötzlich ein Rettungsgedanke. – Sie sprang auf und lief an die Klingel, um diese zu ziehen und vielleicht auf einen Augenblick so die Räder zum Stehen zu bringen. Sie zog aber so gewaltsam – daß sie den Draht in der Hand behielt! Und die Räder gingen fort und die stürzenden Wellen des Wehrs rauschten nach wie vor.

Nun saß sie wie vernichtet und ausgelöscht aus dem Leben. Allmählich entquollen ihr Thränen. Sie sah sich gestraft für eine Menge Sünden, die in langen trauervollen Bildern an ihrem Innern vorüberzogen. Sie sah sich gestraft gleichsam unmittelbar von Gott selbst. Die Bibel lag vor ihr, ein Buch, das sie wenig kannte, und das ihre geliebte Kirche nicht empfiehlt. Hedemann hatte zwischen manche Seite Papierstreifen gelegt, manche Stelle unterstrichen. Epheser 6, 1: »Gehorsam seid, ihr Kinder, euern Aeltern!« Und wie, wenn sie eine Antwort gesucht hätte auf die Frage der Verzweiflung: Aber hab' ich denn nicht ein Gelübde gethan? so fand sie an einer andern Stelle, 1. Samuelis 15, 22, die Worte unterstrichen: »Gehorsam ist besser, denn Opfer!« . . . Aus ihren Träumen weckte sie nur das rauschende Rad und die Woge.

Ganz allein und vergessen war sie aber doch nicht. Sie bemerkte eine halbe Stunde später ein näher kommendes Geräusch. 116 Es kam aus dem Ofen, der von außen geheizt wurde. Legte man noch Holz an? Bald bemerkte sie einen vom Ofen her kommenden Speisegeruch. Sie ging hin und sah in der warmen »Röhre« ein starkes Bret mit einer Schüssel Suppe, mit Brot, Rindfleisch, Erdäpfeln und Braten. Das befand sich dort wie hingezaubert. Die Speisen kamen von außen. Sie übersah den Ofen, der nur zur Hälfte im Zimmer stand und von seiner andern Hälfte aus eine Klappe hatte, durch die man einen hier Eingeschlossenen verköstigen konnte, ohne daß man selbst eintrat. Sie sah von ihrem Alkoven aus noch einen kleinen Raum, wo sich sogar Geräthschaften um sich zu waschen befanden, selbst einen Verschlag, den sie wieder rasch schloß. Der Thurm war für einen längern Aufenthalt eines hier oben völlig Isolirten eingerichtet.

Gefangen –! seufzte sie wieder und stellte die einfachen Geschirre auf den Tisch und untersuchte die Klappe im Ofen, die von ihrer Seite aus sich nicht in Bewegung setzen ließ. Das wird dir wol vom Abschiedsmahl Benno's und Thiebold's noch geschickt! O wenn sie wüßten, für wen diese Reste bestimmt waren! Hedemann, mein Kerkermeister, wird ihnen kein Wort davon gesagt haben!

Beim Umblick in dem kleinen Raum bemerkte sie immer mehr Dinge, die sowol zu einem längern Aufenthalt wie zur Befriedigung mancher nächsten Bedürfnisse dienen konnten. Auch Wasser stand da, trinkbares. Das Zimmer gehörte ohne Zweifel einem der ersten Beistände Hedemann's bei seinem Geschäft; derselbe war vielleicht verreist oder sollte erst zuziehen. Jetzt fanden sich nirgends Spuren eines gegenwärtig darauf angewiesenen Bewohners.

Sie aß nun einige Löffel Suppe und stellte den Rest der Speisen zurück. Später nahm sie doch auch diesen noch – die Natur machte ihre Rechte geltend. Sie hätte sich schon zu fügen 117 angefangen, wäre sie nicht so gefoltert worden vom Rauschen der Räder. Das war, als rollte auch ihr eigenes Leben so um! Nun, dachte sie, geht Terschka aufs Schloß, die Mutter ist vielleicht schon da, die Geheimnisse dieses Briefes enthüllen sich, dein Liebesopfer verwirft das Schicksal, der Traum der Legenden ist – im Leben unmöglich!

Wieder weinte sie – und bald wieder vor Zorn. Sie schwur, das Aeußerste daranzusetzen, ins Freie zu kommen. Sie untersuchte wieder Thür, Wände, Fenster, den Ofen. Die verbindende Platte war von Eisen. Dann hoffte sie auf den Abend, auf den Stillstand der Räder, die Kraft ihrer jugendlichen Stimme. Nein, die Nacht läßt er dich nicht hier! sagte sie. In ihrem wild erregten Innern jagte sich Bild auf Bild. Bei allem verweilte sie, bei Lucinde, Bonaventura, Paula. Zum Bilde Paula's vor ihrer Seele erhob sie die Hände in die Höhe und betete: Freundin, schließt sich dein Auge, so frage deine Engel, wo ich weile! Man wird mich vermissen, man wird mich doch suchen; du, du wirst sagen, wo sie mich gefangen halten –! Nun weinte sie um die Verzweiflung derer, die nicht wissen würden, wo sie geblieben.

Wieder blätterte sie in der Bibel. Sie bedurfte auch deshalb dieser Zerstreuung, um des Briefes nicht zu gedenken, der sie magisch und unwiderstehlich anzog. Sie hatte ihn in ihren Hut und mit diesem auf das Bett gelegt. Noch konnte sie sich nicht entschließen, sich für ihre Sachen der Riegelhaken zu bedienen, die sich rings an den Wänden befanden.

In der Bibel fand sie alle die Geschichten am Urquell wieder, die aus ihrem Jugendunterricht ihr so lieb waren, die Erzählungen des Alten und Neuen Bundes. Und sie forschte nach Aehnlichkeiten ihrer Lage. Sie verweilte bei Joseph's Liebe zu seinem Vater, bei Absalon's wildem Trotz, bei den Söhnen Eli's und deren, ihren Uebermuth strafendem Ende.

118 Glocken hörte sie vor dem Lärm nicht schlagen. Schon kam der Abend. Wenn ihr Vater nun hereintrat, was würde sie ihm sagen! Die Kraft, ihn zu begrüßen mit dem Wort: Du Grausamer, du hast mich um die Wonne des Heiligsten gebracht! hatte sie nicht mehr und stiller und stiller wurde es in ihr bei dem Gedanken: Hättest du wol das Aeußerste gewagt und Terschka's Arm ergriffen und dich vor den Augen der Mutter – für ihn bekannt? Schaudernd hatte sie sich ausgemalt, das im entscheidenden Augenblick thun zu wollen, die Angehörigen zu Zeugen seiner Werbung zu machen und die Aeltern so zu überraschen – die Mutter, wenn sie Terschka liebte, den Vater, falls dieser davon eine Ahnung hätte.

Auf der Kommode stand ein Feuerzeug, doch nur Ein Licht. Es konnte nicht zu lange brennen und sie rechnete darauf, nicht zu schlafen und die Nacht an ihre Befreiung zu gehen und, wenn die Mühlen endlich innehalten würden, ihren Hülferuf zu erneuern. So verging die Zeit. Das Licht, das sie hatte sparen wollen, zündete sie endlich an. Es wurde ihr zu gespenstisch einsam und schauerlich ringsum. Sie hörte und sah im Geist, wie man auf Westerhof sie suchte, wie man nach dem Stift schickte und wie sich die Mutter in gleicher Lage befinden würde, wie damals, als man sie ebenso in Lindenwerth nicht fand. Sie gedachte der Geistertheorie des Onkels. Sie hätte auf irgendeine Weise, um an sich zu erinnern, auf Westerhof spuken mögen, durch Anklingen an eine Tasse oder durch ein Aufklinken der Thüre. Sie wußte, »man brauchte nur ganz fest und bestimmt an jemand zu denken und da erschiene man ihm –«! Sie dachte sich, Paula versinkt in Schlummer, Bonaventura's Berührung bringt sie in den Hochschlaf und sie sagt: Armgart sitzt hinter Schloß und Riegel im witoborner Mühlenthurm –!

In solchen Zuständen läuft es in der Menschenseele hin – wie 119 uns eine Maus plötzlich erschrecken kann im wohnlichsten Zimmer – eine Katze, wenn sie uns begegnet im lachendsten Blumenfelde. Sachen fielen ihr ein, lächerliche, als sollte sie wahnsinnig werden – zwei Groschen Schulden, die sie noch an eine Mitpensionärin in Lindenwerth zu bezahlen vergessen; eine wundervolle purpurrothe Schleife, die sie an einem Morgenhäubchen der Frau Fuld auf der Veranda in Drusenheim bewundert hatte; ein Bändchen, das dem Pfarrer Müllenhoff neulich während der Messe am Halse hervorguckte; hundert kleine verworrene Thatsachen blitzten auf, als wären sie wie todt bisher in ihr aufgespeichert gewesen und rafften sich nun zum Leben auf, da ihr ganzes Sein durchaus zum Leben drängte. Sie machte Lucindens Theorie wahr, derzufolge im Menschen der Stoff zu tausend Propheten stäke, wenn nur eine Hand da wäre, die ohne seinen Willen die Thore des in ihm versenkten Wissens aufschlösse. Und als sie Benno's und Thiebold's gedachte und des Abschieds, den sie von beiden genommen, stieß sie dumpf die Worte aus: Gott! Gott! Laß mir die gesunden Sinne –! . . . Dann sprach sie ihr Gelübde noch einmal und bat die Gottesmutter, ihr zur Erfüllung desselben beizustehen. Sie wandte sich an die vierzehn Nothhelfer, jedem derselben nach seiner besondern Kraft ihre Bitte um Beistand vortragend, und die Angerufenen standen auch vor ihr, jeder mit dem Marterwerkzeuge, das ihm die Ehre der Heiligkeit gegeben. So gewohnt war sie der Litanei: »O du gnadenreiche Mutter, du heiliger Joseph, du heiliger Michael und ihr andern lieben Engelein und Erzengelein!« daß ihr die Bibel, nach der sie griff, ein fremdartiges Buch erschien. Diese gab ihr gleichsam nur das einfache Brot, ihr gewohntes Brevier aber eine viel süßere Kost. Dann weckte sie aus den Betrachtungen wieder ein Gepolter des immer gleich warm bleibenden Ofens. Jetzt sprang sie rascher hinzu. Aber schon war die Bescherung da – ein Nachtessen, reicher, 120 als die Tante Abends der Gesundheit für zuträglich hielt. Die Klappe war unerbittlich schon wieder zugezogen.

Wer mag der Rabe sein, der mich nährt? sagte sie, an den Propheten Elias denkend. Die taube Alte? Indessen – sie aß und nicht ohne Appetit und nicht ohne Besorgniß vor dem Geschirr, das in der Küche jetzt fehlen würde, da sie das vom Mittag noch zurückbehalten hatte, und nicht ohne guten Willen, es selbst zu waschen und in den Ofen zu stellen und dabei zu rufen: Nehmt's lieber mit, ehe ich's zum Fenster hinauswerfe –!

Nach zu reichlichem Nachtessen pflegte sie einzuschlummern und schon manche der schauerlichen Geschichten des gern abendlich erzählenden Onkels waren ihr dann auf Schloß Westerhof verloren gegangen. Nur weil die Mühlen noch immer rauschten, dachte sie: Es ist noch früh! Es ist noch nicht einmal Feierabend –! . . . Aber ihr Licht! Eine Talgkerze, gegen deren Duft sie an sich nichts hatte, da sie wenigstens in Lindenwerth keine andern Kerzen brannte und auch der Onkel oft genug Lichter goß, die aus allerhand Surrogaten neuentdeckt waren und noch viel schlimmeren Geruch verbreiteten, als »gutes, reines Talg«, wie die Tante sagte. Ihr Licht war schon zum letzten Drittel niedergebrannt und sie hatte doch noch die lange, lange Nacht vor sich und ihren Plan mit dem lautesten Hülferuf –! Und schlafen sollte sie? Schlafen in diesem – Bett? . . . Das wollte ihr nicht einkommen.

Doch deckte sie das Bett auf. Dabei mußte sie den Hut wegnehmen, die Kleider – Der Brief fiel auf die Erde und die Einlage glitt aus dem Couvert. Wie sie diese aufhob, war sie ihr wie eine glühende Kohle. Sie sah das Wort: »Freundin –« Das war ihr schon ein Stich ins Auge. Und doch wagte sie noch immer nicht, den Inhalt zu lesen.

Sie ordnete die Schüsseln und Teller und stellte sie in den 121 Ofen, der, wie es schien, ihre einzige Verbindung mit der Welt blieb. Das Bett war sauber und weiß, mindestens so gut, wie ihr Lager in Heiligenkreuz. Sie versuchte es, sich zu legen. Bald aber stand sie wieder auf. Das Zimmer war noch zu heiß. Jetzt gedachte sie den Tisch an einen der Fensterspalte zu rücken. Aber schon ermüdete sie und ahnte, daß sie nur zu vergeblichen Versuchen zurückkehrte. Schon ergab sie sich. Die Mühlenräder gingen und gingen! Keine Hand stellte sie. Wen konnte sie rufen? Oft sogar dachte sie, Hedemann käme – in Kettenstrafe, wenn man seine ruchlose That erführe, und da wollte sie denn lieber dulden, schweigen und weinen –!

»Freundin –!«

Dies Wort verließ sie nicht mehr. Sich alle Beziehungen desselben ausmalend, versank sie, unentkleidet auf ihrem Bett ausgestreckt, in Träume und entschlummerte allmählich. Schon hatte sie sich an das Rauschen des Wehrs und der Mühle, an das Sägen, das hirnzerschneidende, gewöhnt. Ihr Einschlummern kam ihr wie ein Ertrinken, aber nicht mehr schmerzhaft vor. Sie träumte von einem großen dunkelblauen Bande, das sie umringelte. War es ein Thier? Eine Schlange? Immer enger und enger wurde das Band – Endlich sah sie nichts mehr, als aus blauer Verstrickung hervor einen rosigen jugendlichen Kopf mit lachenden Mienen, mit langen, feuchten, schwarzen Haaren –! Das war dann Lucinde, die ihr, wieder freundlich geworden, zunickte wie die »Wasserfee«.


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