Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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139 6.

Drei Männer schreiten, in Mäntel gehüllt, in die Winternacht hinaus. Nicht mondhell ist sie; nur sternenhell. Und weithin über das wellige Land liegt mitleuchtend die Decke des Schnees.

Grabesstill alles ringsum – Schlummernd jedes Erdenloos. Wer so in die Stille blickte, mußte fragen: Gibt es geheimnißvolle Kräfte, die schicksalsmächtig über Raum und Zeit und über den Pulsschlag in unserer Brust gebieten? Und wer hätte nicht antworten sollen: Ihr stilles Hüten und Walten glaubt man jetzt da zu hören – Winterlandschaftsstille ist Friedensmahnruf, Sehnsuchts-, Ahnungsweckruf.

Anfangs noch hallte zwischen Terschka, Benno und Thiebold der erlebte Tag und Abend nach. Man bewunderte die Kraft der Vision, die so sich in die Vorgänge des Leichenconducts hatte versetzen können. Benno mußte Thiebold zurückhalten, der eine natürliche Erklärung, die Terschka gab, nicht wollte gelten lassen. Terschka hatte gesagt: Wer die Gegend und die Verhältnisse kennt, würde sich die Scenen, die heute da vorfallen konnten, auch ohne ein Wunder haben ausmalen können –! Aber die Unterbrechung? entgegnete Thiebold. Benno antwortete statt Terschka's: Ich will der Natur nichts von ihren Tiefen nehmen. Aber ich glaube doch, daß wir uns durch die Gewohnheiten des täglichen 140 Daseins zu sehr, in geistigen Dingen wie in leiblichen, die Sinne abstumpfen. Ein bis in sein Alter mit den einfachsten Speisen Aufgezogener ist empfindlich für jede Veränderung seiner Nahrung. Ebenso gewöhnen wir uns durch den Misbrauch unserer seelischen Kräfte die Feinfühligkeit des geistigen Spürsinns überhaupt ab. Die junge Gräfin mußte etwas Unerwartetes voraussetzen, als in ihrer Phantasie der Leichenzug beim Düsternbrook angekommen war; sie dachte an die Eiche, sah sie und nahe lag dann das allen Bekannte.

Aber der »Jude«? warf Thiebold ein. Seine Begleiter konnten freilich dem triumphirenden Ton seiner Worte nichts entgegenstellen.

Von Armgart wurde nur bei Gelegenheit gesprochen – als sich die Spuren der Hasen an kleinen Eindrücken links und rechts im Schnee auf den Aeckern verfolgen ließen. In Thiebold und Benno dämmerte die Ahnung, daß es Terschka war, um dessentwillen sie beide von Armgart vernachlässigt wurden –.

Und in der That, wieder beim Waidwerkgespräch sah man Terschka's blendende Eigenschaften. Auch Benno und Thiebold verstanden sich auf Jägerei, aber nicht, wie jener, der die Jagd verfolgen konnte bis auf alle Vorzüge neuer Entdeckungen aus den Gewehrfabriken von Suhl und Lüttich. Von Terschka sah man täglich nur das Erstaunenerregende. Der schmächtige bleiche, immer bewegliche Fremdling war ein Reiter, der im Sturm dahinflog. Manches Roß, das den Koller hatte, bestieg er und bändigte es wie ein Beschwörer. Noch neulich, als ein dem Grafen Münnich gehörendes Thier sich unter ihm schmiegte, die mit seiner Linken mächtig geschwungene Reitgerte über den Kopf hinweg fühlte, sich krümmte bis zur Erde und fast den Kopf in den Schnee bohrte, dann wieder aufschnellte, sich mit beiden Hinterfüßen ebenso rasch auf die Kruppe setzte, dann 141 davonflog pfeilgeschwind und fast wie mit Scham, sich überwunden zu sehen – da war alles das ein Schauspiel – voll Vernichtung für Benno und Thiebold! Armgart stand dicht in der Nähe und sagte nur immer, als alles für den kühnen Reiter zitterte: Nein, nein, ich habe gar keine Furcht für Herrn von Terschka –!

Nach einer halben Stunde war der Finkenhof erreicht. Versteckt lag er unter Bäumen und Wallhecken. Eine Mühle, ein Tanzhaus, eine Kegelbahn, ringsum Nebengebäude; alles das gab einen stattlichen Eindruck. Schank und Mehlsack hatten den Finkenmüller reich gemacht inmitten mannichfachen Elends. Wohl wurde auf der Saline, bei den Kalköfen, in den Moorbrennereien baares Geld schnell verdient; ebenso schnell aber auch glitt es wieder weg und meist in den Finkenhof, wo Sonntags die bekannte falschgestimmte Trompete der Dorfmusik von vier Uhr Nachmittags bis zehn Uhr Abends zu Tanz und Jubel zu locken nicht müde wurde.

Anfangs schien es auf dem Finkenhof stiller, als man erwartete. Schon besorgte man, die gräfliche Jägerei nicht mehr anzutreffen. Man hätte sie aufs Schloß rufen können, aber gern verweilte Terschka unter den hiesigen Menschen; sie hatten ihn mit Haß empfangen und schon waren alle für ihn eingenommen. Wir kommen zu spät! sagte er und deutete auf manchen Heimkehrenden, der an ihnen vorüberging und grüßte. Dann fragte er. Es hieß: Die Jäger sind da, Herr Baron!

Nun bogen sie vom Fahrweg ab und sahen den Finkenhof hell und belebt. Jeden Morgen wurde der Bach, der die Mühle trieb, frisch aufgeeist; er schien zu dampfen. Die Kegelbahn hatte Licht. Durch die wie mit Fett bestrichenen Fensterscheiben hätte man Scenen aus dem vaterländischen Rekrutenleben an die gegenüberliegende Wand gemalt erblicken können, wie: »Fritze riecht zum 142 ersten male Pulver« oder: »Fritze macht die erste Bekanntschaft mit blauen Bohnen«, alles ausgeführt im Stil von Krähwinkel. Im Tanzsaal ist's still; aber im Wirthshaus sitzen Menschen genug und es gibt sogar Gesang. Benno sagte: Ihren Volkstanz stampfen sie! Den lustigen Pfaffen von Ystrup! Und schon hörte man:

He, he! Der ist zu arm,
    Daß Gott erbarm'!
He, he! Der ist zu dick,
    Hat kein Geschick!

Behalte die Besinnung, wer kann, der eintritt in diesen Dampf und Dunst von Hitze und Taback und von Bier und Branntewein! Unter einem Heiligenbild an der Seite des Flurs hängt eine Lampe, sogar eine ewige; daneben liegen Fidibus von dünnen Holzspänen: man kann sich an ihr Pfeifen und Cigarren anzünden. Die drei Gäste thun es, um – durch Rauchen ein Palliativ zu haben gegen die Dünste, die ihrer drinnen harren. Was aber stärkt das Ohr, diesen Gesang zu ertragen, der mit einer Festigkeit, wie wenn man in die Erde Holzblöcke rammt, den Eintretenden entgegenbraust?

Jetzt ertönt plötzlich das »He, he!« schwächer und die Pfeifen gleiten um einen Zoll aus dem Munde. Man erkennt die Eintretenden. Eine Magd, zu gleicher Zeit an zehn Fingern zehn Biergläser in der Schwebe haltend, blinzelt mit den Augen, um den Weg dahin zu weisen, wo die »hochgräfliche« Jägerei sitzt, hinter einem Ofen von einer so pagodenhaften Dimension, daß Onkel Levinus über die gelegentliche Aeußerung ernstlich nachgedacht haben würde, zwischen den Oefen der witoborner Heide und den alten Bauten der Indier zu Dschaggernaut fände ein urweltlicher Zusammenhang statt.

Und während nun hier mit dem Oberförster, mit dem Wild- 143 und Hegemeister, mit dem Jagdzeugmeister und einem Unterförster, alle Bedienstete der Jagd des letzten Grafen von Dorste-Camphausen, die Vorbereitungen verabredet werden, die zu einer großen Vertilgungsjagd in einem von Thiebold de Jonge um 80000 Thaler gekauften Walde – seufzend hatte er draußen am Mühlbach aufs neue die mangelnde Floßgelegenheit erwogen – gehörten, zu einer Jagd, die unter den scheinbaren Auspicien des nächsten Nachbars, Grafen Münnich auf Münnichhof gehalten werden sollte; während die Zahl der Treiber, der Hunde, die Vorräthe des Jagdgeräths besprochen und von Benno mit lebhafter Orientirung die Schauplätze seiner geheimnißvollen Jugend unterschieden werden, von der Birkenschonung der Zehnterwald, von der borkenhagener Saustiege die Knüppelheide – während dann auch noch der Finkenmüller, der Meyer, der Moorbauer ehrerbietigst in den Kreis eintreten, verfolgen wir einen Ankömmling, der, langsam daherhumpelnd, spät noch von Witoborn herüberkommt –

Es ist ein kleiner Mann, nicht unkräftig gebaut. Zwischen den Schultern trägt er die Last eines Buckels, unter den Armen, in ein Tuch gewickelt, einen länglichen Gegenstand, den man, nach einem hervorstehenden Fiedelbogen, für eine Geige halten darf. Der weiße beulenreiche Hut ist tief über den Kopf gestülpt, den ein Pflaster am Auge entstellt. Ein grauer Mantel, angezogen wie ein Militärmantel, schützt den Wanderer auf seinem kalten Wege, den er nur langsam fortsetzen kann, da er heute aus den Händen des Bruder Hubertus eine schlechtere Testamentszahlung vom Kronsyndikus bekommen hatte, als ihm dieser in dem beim Pfarrer Huber in Witoborn niedergelegten letzten Willen einst zugedacht. Es ist Stammer, der Geiger.

Alle wissen sein heute erlebtes Unglück und jeder, der ihm begegnet, lacht seines Hinkens und seines Pflasters. 144 Besonders gram ist ihm aber niemand; Müllenhoff hatte Recht: Dies Volk hat zu lange die Milde des Krummstabs gefühlt und liebt Zechen und wildes Aufschlagen auf den Tisch und alle Sünden, die so zahlreiche Wächter des Himmels, wie Witoborn einst zählte, leichter auch wieder vergeben konnten. Sie fehlen wol bei keiner Procession, sie werfen sich vor jedem Altar nieder, lassen sich jeden Besuch im witoborner Münster und jeden Kuß auf einen Reliquienschrein vom Küster schriftlich bescheinigen, um einst vor Gottes Thron oder bei irgendeinem Anliegen, z. B. um freies Brennholz aus einem geistlichen Walde, desto sicherer auftreten zu können; aber nirgends wird auch soviel wildes Naturrecht noch geübt, nirgends soviel Holz schon von selbst gestohlen, nirgends soviel Wild im Mondlicht von selbst geholt – erst in die Büsche geworfen, mit Zweigen überdeckt und bei guter Gelegenheit von einem vorüberfahrenden Heuwagen abgeholt, nirgends wird dem damals nur langsamen Vorschreiten des Zollvereins und der nahen »Grenze« soviel Vortheil abgeschmuggelt für Kattun, Zucker, Kaffee, nirgends ein Hader mit dem Gutsherrn so listig durchgeführt. Stammer siedelte ihnen in alles das seine lustigen Weisen hinein oder sprach sogar über die alte und die neue Zeit in offner Rede und setzte einen Refrain drauf, eine Strophe gesprochen und eine gespielt, bis zuweilen der Gensdarm kam oder, wenn es zu arg wurde, der Meyer oder der Finkenmüller und die Schwänke des Alten verbot, dessen lästernden Mund einst schon ein halbes Kind, Lucinde damals aus ihrem Pavillon verbannt hatte, nach dem Tode des Deichgrafen.

Mancher redet den Geiger an. Er knirscht mit den Zähnen vor Wuth. Mitleid wird ihm nicht; Alle wissen's, boshaft ist er, und Bruder Hubertus, »der Abtödter«, ist der Liebling der Gegend. Die Kinder werden darum dem frommen Bruder doch wieder mit der dampfenden Schüssel entgegengehen, 145 wenn er sich mit seinem Topfe naht; er wird die Pferde und die Kühe und die Menschen wieder heilen – und sieht er auch wie der leibhafte Tod aus und ist sein Lachen ein Grinsen wie aus einem Knochengesicht, ihn fürchten die Mädchen nicht, wenn er ihnen einsam im Kornfeld begegnet; sie wissen, daß er ihnen darum doch Briefe schreibt nach der Garnison, wo ihre Liebsten weilen, ihnen heimlich Botengänge ausrichtet zu allen Husaren, die in und um Witoborn stehen.

Ehe der Finkenhof noch erreicht ist, sieht an einem Kreuzweg der racheschnaubende Stammer einen Mann, der des Wegs nicht kundig scheint und nicht weiß, ob er geradeaus gehen oder sich lieber links wenden soll.

Landsmann! ruft er den Geiger an. Wo ist die Route nach Libori – Pfarrhaus –?

Stammer zeigte nach rechts: Gerade da, wo Ihr herkommt! Oder dort drüben herum, wenn Ihr erst noch auf dem Finkenhof einheizen wollt! Es macht kalt!

Der Verirrte war ein stämmiger Mann mit Pelzkappe und Düffelrock und rothem Comfortable um den Hals. Er hatte die Hände in den Seitentaschen. Er kannte den Namen des Finkenhofes und fragte: Gehet Ihr denn dahin –?

Auf zwei Beinen. Sind Sie fremd in der Gegend?

Aus Strasburg bin ich –

»O du schöne Stadt!« sang der Geiger mit verbissener Lustigkeit. Ich bin ein Musikus, und Sie –?

Ein Perrükenmacher von Metier!

Da möcht' ich Ihnen meine gelben Haare verkaufen! Eine Hand voll schlug ich heute umsonst los! Daß dich! Und jetzt –?

Dionysius Schneid sah inzwischen das Pflaster über seines Auskunftgebers Nase, bedauerte ihn wegen eines Unfalls, der ihn wahrscheinlich betroffen, plauderte allerlei Schnickschnack und 146 klimperte, zur Antwort auf die Verkaufsofferte, in der Tasche mit den Worten, Geld hätt' er, um bis nach Polen zu kommen; einstweilen wär' er hier auf Schloß Westerhof in gräfliche Dienste getreten, wenn auch noch ohne Livree; heute Abend wollt' er sich den Rest seiner »Bagage« aus dem Pfarrhause holen, wo ihn auf einige Tage der alte Tübbicke »logirt« hätte.

Sind Sie doch nicht gar der große Prophet, den Herr Tübbicke junior aus Paris erwartet? Der die Welt wie ein Stück Tuch zerschneiden soll und jedem einen Fetzen gibt – ja so! mir (sagte Stammer innehaltend und nach einer wunden Stelle seines Leibes greifend, die ihn schmerzte) mir gab man schon meinen – Fetzen – von einem adeligen – Jagdrock –

Dionysius Schneid verstand sie nicht, diese in den Bart gemurmelte Anspielung auf die Veranlassung der Schmerzen, die dem Geiger vielleicht durch zu schnelles Gehen gemehrt wurden; wohl aber begriff er die Anspielung auf die Communauté, die ihn einst mit dem jungen Tübbicke in Paris bekannt gemacht hatte. Ha, ha, ha! fiel er mit grobem Gelächter ein. Diese Propheten stecken jetzt alle in Prison! Einer kriegt soviel Wasser und Brot wie der andere! Das ist die Theilung der Propriété!

Dionysius Schneid, der sich dem seinen Witz wohlgefällig begrinsenden Geiger zu befreunden anfing, schien auf dem Schloß für die ganze Nacht Urlaub genommen zu haben und ging in den Finkenhof mit. Das Lachen der Vorübergehenden über den Buckligen reizte seine Neugier nur noch mehr und am Finkenhof angekommen sah er, welchem verwogenen alten Knaben er folgte. Stammer zog, obschon ein tiefer Aerger an seinem Humor nagte, seine Geige aus dem alten Tuch, nahm seinen Fiedelbogen und hielt feierlichen Einzug mit schlenkernd geworfenen Beinen, frech und übermüthig einen Geschwindmarsch streichend, 147 den er schon auf der Schwelle begann. Ein schallendes Lachen empfing beide Ankömmlinge.

Auch Dionysius Schneid ließ die brennenden Augen vergnügt im Kreise rollen. Das Lachen und Glückwünschen belustigte ihn. Die jungen Bursche sprangen hinzu und tanzten schon hinter dem Geiger her. Die Alten streckten ruhig fortrauchend die Beine vor, um ihn zum Fall zu bringen. Stammer wich aus, warf seine gelbweißen langen Haare mit kecker Geberde hinterrücks und marschirte gerade auf den Tanzsaal zu. Der war ungeheizt, doch einige Bursche sprangen darum doch an, ergriffen die Mägde, die aufwarteten, und würden wenigstens einmal mit Begleitung blos einer Geige den Pfaffen von Ystrup gestampft haben, wenn nicht der Meyer, der Moorbauer und der Finkenmüller dazwischengekommen wären und eingedenk der Gelöbnisse, die sie dem Pfarrer heute gegeben, und trotz der vielbelachten, allgemein verbreiteten und alle guten Vorsätze entkräftigenden Nachricht, nächstens würde bei Herrn Müllenhoff getauft werden, Ruhe geboten hätten.

Stammer vermittelte die neue Bekanntschaft mit solchen, die sich, wenn ein anderer Geld zeigte und »anfahren« ließ, auch ihrerseits nicht »kohlen« ließen. Die Hauptsache war Kartenspiel. Guthmanns und Herren von Binnenthals gibt es im Bauernstande genug; auf »Schafskopf« kann man verhältnißmäßig ebenso geprellt werden, wie Piter in Pyrmont auf »Einundzwanzig«. Stammer berechnete schon seinen Antheil, als er Herrn Dionysius Schneid mit ein paar Salzsiedern bekannt gemacht hatte, die im glücklichen Kartenspiel Meister waren.

Inzwischen hätte schon das Geschäft der »Herren vom Schlosse« hinter dem urweltlichen Kachelofen vorüber sein können. Indessen »ein Wort gibt das andere« und wo sich vollends dann Thiebold's Zunge festgehakt hat, kann sie sobald nicht wieder los. Aus löblicher Popularitätsbestrebung hatte man sogar dem 148 Finkenmüller nicht abgeschlagen, von ihm, natürlich gegen Zahlung, drei »steife Grogs« entgegenzunehmen, die er ihnen als die vorzüglichste Leistung seiner Großmagd offerirte. Die Aussicht, daß Herr de Jonge da den Wald kaufte, in welchem nächstens zum letzten mal gepirscht werden sollte, eröffnete dem Jagd- und Waldhutpersonal glänzende Hoffnungen auf Schlag- und Holzvermessungstrinkgelder. Bedauern, daß die Hirsche im Zehnterforst zum letzten mal die jungen Tannenkeime knuspern sollten, war eine hier unbekannte Sentimentalität. Nur der Meyer äußerte über die künftige Bestimmung dieses Forstes zu Eisenbahnschwellen einige fromme Seufzer, die an Müllenhoff's Predigten erinnerten, der die Locomotive darzustellen pflegte wie die vom Teufel entführte Braut der Hölle, voran Satan, eine Peitsche schwingend aus lichterlohem Kometenfeuer, hintenauf hockend Drachen und Ungethüme der Unterwelt und in den Waggons dann Juden und Judengenossen, Gottesleugner, Consistorialräthe, Offiziere und Gensdarmen, alles was zum Leben des neunzehnten Jahrhunderts gehöre. Ja auch Benno seufzte: Der Zehnterwald! Kein Holz hatt' ich so lieb, wie das! Stellen gab's da, die für's Edelwild ein Paradies waren! Büsche an kleinen Wassern, gemacht für die Brunst, einsam wie Mutterschoos!

Brauchte da ein Jäger wol aufs Blatten zu schießen? ließ denn doch als leisen Wehmuthsaccord der Hegemeister einfallen.

Nein, sagte der Oberförster und wischte sich keine Thräne, nur das »neu angefahrene« etwas klebrige Bier aus dem greisen Barte, der ganze Forst gab schon einen Ton von sich, auf den die Rehe von allen Weltgegenden kamen!

Den Ton des Schweigens! sagte für sich Benno und horchte auf die Terschka'sche lebhaftere Seitendebatte, wo man vom Düsternbrook sprach, als von einem Gehölz, wo seit Menschengedenken kein Hund »ein Wild stellte«.

149 Das denn führte auf das von Allen heute Erlebte. Man legte sich freilich dabei die Rücksichten auf, die der An- und Abstand geboten. Man lächelte nur, munkelte, stopfte sich »mit Verlaub« eine neue Pfeife und wartete auf den, der die meiste Courage hätte, mit der Rede durchzubrechen. Des Küfers Stephan Lengenich entsannen sich alle von vor Jahren. Auch Löb Seligmann war bekannt. Er war es, der den Küfer zurückgehalten hatte, als dieser so feierlich seine »Entlastung« vollzog. Dann war, auf den Schrei der Lisabeth und die Störung durch den Geiger und den Mönch, Löb wahrscheinlich auf Schloß Neuhof zurück verschwunden, wo ihn bereits der Präsident von Wittekind, in Rücksicht auf die Ordnung seiner Finanzen, zu schätzen begann –

Das nun war der Augenblick, wo man plötzlich die Geige Stammer's vernahm und vor dem grellen Lachen, mit dem sein Eintreten empfangen wurde, sein eigen Wort nicht mehr verstand. Nach dem, was Onkel Levinus über die alten Dinge von Schloß Neuhof erzählt hatte, mußten die drei Herren vom Schloß angenehm überrascht und begierig sein, sich diesen Geiger näher anzuschauen. Schon wurde seine Charakteristik gegeben: »Er – im Kirchenbann –!« »Ein alter Kerl von fast sechzig Jahren schon –!« »Putzig ist's, wenn er allein spielt! Immer erzählt er dazwischen eine Lüge, wie Eulenspiegel –!« »Oder auch manchmal eine Wahrheit!« sagte der Oberförster und betrachtete wie mit einer Aufforderung, den Geiger näher zu rufen, Herrn von Terschka.

Terschka gab den Ausschlag, daß man sich allerdings eine solche Erscheinung nicht entgehen lassen sollte. Benno erneuerte gern eine Bekanntschaft aus frühester Jugend. Und so war Thiebold denn schon darauf aus, ihn zu holen.

Umringt von denen, die sich nicht zu Dionysius Schneid und zum Spiele hielten, erschien Stammer, der heute so übel 150 zugerichtete langhaarige Bucklige. Trüb beschienen ihn die wenigen Oellampen, deren Lichtstrahlen vollends ermatteten durch den Qualm der Pfeifen und Cigarren. Der Dunst des Ofens zwang die drei vom Schloß gekommenen Herren, mit ihren Schemeln von ihm abzurücken. Der Finkenwirth bediente allseitig und entfernte von den Honoratioren die Nachdrängenden. Er that es wie mit Kammerherrenanstand.

Stammer schlenderte näher und grüßte trotzig. Seine kohlschwarzen Augen lachten verschmitzt die vornehmen Frager an. Seine dünnen Beine verneigten sich wie mit einem frauenzimmerlichen Knix. Dann legte er beide lange Arme, indem sie die Geige mit dem Fiedelbogen hielten, auf den Rücken, als wollt' er sagen: Nun, was soll's?

Terschka, der hier das Wort führte, sagte nicht ohne Würde, aber in seinem fremdartigen Dialekt: Schauen's! Schauen's! Sie haben, hör' ich, halt das Unglück, dem Herrn Pfarrer nicht zu gefallen!

Ich gefalle mir selbst nicht! Sehen Sie nur! Der liebe Gott hat mich nicht richtig wachsen lassen! Das war mit einem Herumdrehen des Rückens des Buckligen Antwort.

Sie haben, fuhr Terschka nach dem Lachen fort, das allgemein unter den Umstehenden durch diese Entgegnung hervorgerufen wurde, hör' ich, sehr ein großes Talent! Auf der Geige könnte halt noch Paganini von Ihnen lernen, sagt man! Ich würde an Ihrer Statt mein Publikum nicht groß genug haben können; selbst der Herr Pfarrer dürfte mir nicht fehlen, wenn ich einmal eine gute Sonat' spielte –

Man murmelte und lächelte auch ihm. Stammer's Gedanken weilten jetzt zwar mehr bei dem Kloster Himmelpfort, als bei St.-Libori, doch er stellte sich demüthig.

Schließen Sie Frieden mit Herrn Müllenhoff, fuhr Terschka, 151 seiner Stellung eingedenk, fort. Er meint es gewiß gut mit euch allen! Auf Ordnung und gute Sitte muß auch die neue Herrschaft hier sehen! Ein Jünglings- und Jungfrauenbund ist gar so übel nicht und schließt die Freude keineswegs aus. Daß die Musik an sich Gott wohlgefällig ist, zeigt euch ja Sonntags jede Messe! Ihr aber, Stammer, sollt zur Geige halt allerlei Schnurren vortragen können! Nun wohlan, wenn Ihr in Eure Lügen ein paar Körner Wahrheit einmischen wollt, soll's uns noch lieber sein! Trinkt eins und fangt dann mit einem G'spaß an!

Benno und Thiebold mußten dieser Weise, sich hier unter den Leuten vornehm und zugleich populär. streng und doch tolerant zu geben, »leider« ihren ganzen Beifall schenken.

Knick! Knack! drehte inzwischen Stammer die Wirbel seiner Geige, probirte die Saiten mit dem Fiedelbogen und begann mit einigen Läufen seine hier landbekannten Improvisationen. In einem singenden Tone sprach er: Ein kleines Kind bin ich im Wald geboren – An einem schönen, schönen, wunderschönen Sommertag – . . . Mit rascher und gesprächsweiser Stimme setzte er hinzu: Im Juli war's – wo freilich die Tage anfangen kürzer zu werden . . . ich glaube, darum bin ich auch zu kurz in die Welt gekommen!

Die Leute lachten. Stammer ließ den Fiedelbogen langsam über die Saiten gleiten und sprach dabei: Ach! Was ist nicht alles jetzt länger geworden! Die Tage sind's am allerersten; auf die Art, weil man so desto länger arbeiten muß! Sonst aber waren nur die Dreigroschenbrote länger und die Elle war's und dick wurde jedermann – nicht blos die Wirthe –!

In ein Lachen über den Finkenmüller wirbelte der Improvisator einige Läufer hinein, zog dann wieder, als es stiller wurde, einen einzigen, langsamen und klagenden Ton und sagte: O du 152 schöne Zeit! Du liebe Zeit! Ja, hatte man sonst im Winter, wie jetzt, kein Brennholz, so ging man zu einem heiligen Domherrn! Ach, auch das war in der schönen Zeit nicht 'mal nöthig! Man brauchte blos seine Frau zu schicken oder seine Tochter und alles war dann noch besser in der Ordnung –!

In das gesteigerte Lachen, dem sich selbst die »Herren vom Schloß« anschließen mußten, fiel ein wildes Dideldei der Geige als Refrain ein.

Da liegt nun das Jägerkindlein in der Wiegen! fuhr der Geiger, als sich alles beruhigt, mit elegischem Tone und halb singend fort. Ich war meiner Mutter ganze Lust! Milch – gab sie mir von unserer Ziegen – Im leichten Tone setzte er und mit raschem Sprechen den Lachenden hinzu: Kein Wunder, daß sich früh der Bock in mir regte –!

Neues Lachen. Der alte Possenreißer machte einen zweideutigen Bockssprung. Elegischer aber fuhr er fort und fixirte die Jäger, die sich ihm gleichgültiger zeigten: Es war noch nicht die Zeit, als wir zum ersten mal hier zu Lande hörten: Straf mir Jott! Wat soll nun so en Junge werden? Er kann nicht Kammmacher, nicht Stellmacher, Siebmacher, Korbmacher, Raschmacher, Schuldenmacher – kein Jäger nicht werden –

Die Jäger ließen sich den Scherz gefallen –

Lassen wir ihn das Schönste auf der Erden, einen Musikus beim fürstbischöflich witobornschen Stadttrompeter werden –!

Eine wilde musikalische Figur folgte.

Der Stadttrompeter, setzte er dann wieder parlando zum singend Gezogenen hinzu, hatte damals die Wassersucht, was sonst keine Leibkrankheit der Musikanten ist. Dennoch lernt' ich von ihm noch zu guter letzt Flöte, Clarinette, Waldhorn, Trompete, Violine und Guitarre, welche letztere ich sogar schon wieder einem Fräulein auf Schloß Neuhof beibringen konnte – 153 die Stunde ein Maß Bier und ein übers andere mal sechs Pfennige –

Niemand von den »Herren vom Schloß« erwartete, daß diese sentimentale Guitarrenspielerin – die raffinirte Mörderin der Schwester des Geigers war, die später wirklich selbst ermordete – Fräulein von Gülpen hieß die Dame! sagte Stammer. In stillen Abendstunden, wenn der Kronsyndikus in Kassel war, lockten wir die Fledermäuse ans Fenster und spielten und sangen: »Guter Mond. du gehst so stille!« bis eines Tages unterm Fenster ein Jäger anbiß. Schön war er nicht. Eine große Kaffeetrommel, in die man ihn in Java einsperrte, hatte ihn braun gebrannt –!

Alle wußten, daß hiermit Bruder Hubertus gemeint war, und sahen voraus, der Bucklige würde sich nun vor den Herrschaften an ihm rächen über die Mishandlung, die ihm heute in ihrer Gegenwart angethan war. Terschka, Thiebold und Benno fühlten die Schauer der Erinnerung an die Erzählungen des Onkel Levinus.

Einige kühne musikalische Figuren, die des Geigers jetzt ausbrechenden Zorn verriethen. wurden gestrichen als Zeichen, daß er an seine Pointe kam. Er fuhr singend fort: So ging es her zu jener Zeit – heidi! . . . Auf Schloß Neuhof – heidi! heidi! heidi! . . . Viel Herren und Damen – ei, ei, ei! . . . Musik und Tanz und Gasterei! . . . Und »Parlez-vous français, Musje?« . . . Italienerinnen – »Nix versteh!« . . . Blos unser Geld verstanden sie – setzte er wieder parlando hinzu, und das kräftige alte deutsche Wort: »Tar Teifel!« Eine war oben beim Alten so gut wie die zweite Baronin und sagte nur immer: »Tar Teifel!« Ihre Reitpeitsche hieb – hui! – über alles weg, was ihr in den Weg kam. Eine Sängerin war's aus Rom –! »Nix versteh«, als »Tar Teifel!« und nur »viel 154 Geld«, »gute Geld«, »schwere Geld« und »Brillante« – aber »von die echte« –! »Tar Teifel!« fluchte sie zu Wagen und zu Pferde! Aber schön war sie –! Und lachen konnte sie –! Auch über mich und sogar über den schönen Mann aus der Kaffeetrommel –! . . . Wilde Variationen fielen wieder ein. Unfehlbar war eine Rache an Hubertus das letzte Ziel des musikalischen Spuks.

Alle betrachteten Terschka, um gerade an ihm, der Hauptperson des Abends, die Wirkung dieser Possen zu beobachten. Er hörte gespannt zu.

Da – ist – denn aber gekommen – fuhr Stammer mit pathetischem Nasenton fort – der großmächtige – Winter Anno zwölf – und – (so ein einziges »und« zog er wie eine lange, lange Note) und – da sind die Füchse – die Wölfe – die Franzosen – sind gekommen – und – daß Gott erbarm'! – man hätte seinem Feind nicht abgeschlagen ein Stück Pumpernickel, was ihm sonst nur eine Brotsorte von Stein gewesen war. Sakkernungdediö! Da zog auch Herr von Bosbeck einmal einen Tuchrock an –

Buschbeck! verbesserten einige Stimmen.

Terschka horchte immer gespannter auf.

Die Hitz' bei zwanzig Grad unter Null war ihm denn doch zu arg, ob er gleich 'ne Haut hat wie Leder, gegerbtes Rindsleder, der Herr von Bosbeck!

Buschbeck! verbesserten schon ihrer mehr.

Die hat er, eine Haut von Büffelleder! Ich hab' sie oft genug selbst gesehen! Eines Tages sah ich sogar an Bosbeck's Arm –

Buschbeck! schrieen die Zuhörer.

Bosbeck –? wiederholte Terschka für sich.

Bosbeck ist sein Name! rief jetzt kreischend der Geiger vor 155 Tücke kirschbraun und auf der Höhe seiner Rache angekommen. Ein Vetter ist's ja von dem Bosbeck selig, der dazumal in Gröningen am Galgen hing –!

Terschka schauderte ersichtlich.

Die Umstehenden schwiegen. Daß es mit des »Todtenkopfs« früherm Leben nicht geheuer war, wußten alle.

Sah' ich denn nicht, krächzte der tückische Geiger, sah ich denn nicht – auf seinem Leder hier am Arm, wo andere Menschen, sogar die Buckligen, höchstens ein ehrliches Muttermal haben – ein – Galgenrad eingebrannt? Ganz wie damals beim Liborius Pollmann, bei Dominicus Klapproth, Jean Picard und wie sie hießen, die dazumal das Geld flüssig zu machen wußten – Rund ist ein Rad und rund ist die Welt –! Mönche gibt's hier, die schon einmal am Galgen hingen –!

Nun fiedelte und sang der Geiger eine wilde Melodie in die starr und entsetzt ihn umstehende Menge hinein.

Da aber, als er fortfahren wollte, den Mönch Hubertus nach dessen früherm Leben zu schildern, unterbrach ihn ein Lärm, der sich aus einem hintern Winkel erhob. Schlagt den Hund todt! rief man dort aus kreischenden Kehlen durcheinander. Alles, noch starrend und murmelnd und flüsternd über die unglaubliche Mär, daß Bruder Hubertus auf seinem Arm ein Verbrecherzeichen könnte eingebrannt haben, wandte sich ungern. Der Finkenmüller sah eine Rauferei und rannte fast den Geiger nieder und warf sich dazwischen.

Die Spieler hatten den von Stammer mitgebrachten Fremdling zu Boden geworfen. Sie, die gehofft hatten, einen reich mit Geld Ausgestatteten prellen zu können, waren von ihm geprellt worden. Geschuppt hat er! hieß es, und zwei bekannte liederliche Bursche rangen mit dem Voltenschläger, der sich wehrte, hielten ihn auf den Boden nieder, während andere den Finkenmüller zurückhielten und durcheinander schrieen: Wie er abhob, 156 sahen wir's! – Schon da, als er mischte! – Daumen hat er wie ein Dieb –!

Ruhe! rief der Meyer und machte den Herrschaften Bahn.

Terschka's aufgeregtes Herantreten, Thiebold's Zurückhalten der beiden Salzsieder, Benno's energisches Bedeuten um Ruhe unterbrach die Fortsetzung der Künste des Geigers und den Kampf, welcher letztere sich sogar plötzlich durch einen zufälligen Umstand in Heiterkeit auflöste. Herrn Dionysius Schneid entglitt unter den Fäusten seiner überlegenen Angreifer ein Schmuck seines Hauptes, eine pechschwarze Tour, die über einen plötzlich sichtbar werdenden kurzgeschnittenen rothhaarigen Schädel geklebt war. Das zu gleicher Zeit dann noch hineingeworfene Wort des hinzutretenden Geigers: Es ist ja ein Perrükenmacher! machte selbst Thiebold und Benno lachen, und so erhob sich der Strasburger und benutzte den Moment, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und heimlich zu entfernen. Der Wächter draußen rief die zehnte Stunde . . . Alles beruhigte sich jetzt, gedachte der Heimkehr und ließ zunächst die »Herrschaften« durch, die sich jetzt empfahlen. Die Jäger gaben ihnen noch eine Weile das Geleit. Der Meyer, der Moorbauer blieben zur Kritik des Abends zurück.

Da sie bestätigten, daß Herr von Terschka plötzlich in ein auffallendes Schweigen verfallen war, wurden dem Geiger vom Finkenwirth für seinen frechen und lügnerischen Ausfall auf den Liebling der Gegend und einen Mann Gottes die bittersten Vorwürfe gemacht. Als Stammer entgegnen wollte, warf ihn der Wirth ohne weiteres zum Hause hinaus. Draußen zerstreute sich dann alles an den sich kreuzenden Wegen.

Benno sagte zu Thiebold: Den rothen Kerl ohne Perrüke muß ich schon irgendwo gesehen haben.

Tar Teifel! sagte Thiebold, noch lachend; nicht unmöglich!

157 Und auch Terschka hörte Benno's Aeußerung, glaubte, aber die Rede wäre vom Brandmal des Hubertus. Darf er denn so lange außerhalb seines Klosters leben? fragte er, nahm, als sein Irrthum berichtigt, seine Frage bestätigt wurde, Abschied von Benno und Thiebold und ging mit dem Oberförster und dem Wildmeister dem Schlosse zu.

Die Schläge der zehnten Stunde erklangen von allen Seiten her durch die stille Nacht. Die nächst hörbare Uhr war noch die von Schloß Westerhof. Aber selbst vom schneebedeckten Jesuitenthurm in Witoborn hörte man in der nächtlichen Stille schon das bekannte hastige Jesuitenläuten.

Und öde wie die Winternacht war die Stimmung der Freunde. Was sie jetzt hätten aussprechen können, war in diesen Tagen schon so oft gegenseitig ausgeschüttet worden. O wie war doch Armgart so seltsam geworden! Wie lag es winterlich auf dem Herzen der Freunde! Erstorben alle Blüten, verklungen alle Freuden, begraben die schönste Maienzeit des Lebens! Der Scherz mit dem »Vielliebchen« war nur noch die letzte Erinnerung an den Ton vergangener Stunden –!

Thiebold's Art und sein schlechtes Gewissen litten es freilich nicht, daß er so ganz zu allem Herzleid schwieg. Seine Zunge wurde nicht müde, bald die Geister des Jenseits, bald die Vicinalwege des Diesseits zu besprechen, bald den Doctor Püttmeyer, bald die Jagd, bald das unheimliche, vielleicht gar nicht existirende Brandmal auf dem Arme des Mönches Hubertus, bald den Räuber Bosbeck – eine bekannte Jugenderinnerung – bald die Guitarrenstunden der ermordeten Frau Hauptmännin. Alles, was er nur damit konnte sagen wollen, lautete im Grunde seines Herzens: Was hebt uns ach! mit so luftigen Schwingen in die kalte leere Luft und läßt uns wie Fieberkranke schweben, die des gefürchteten jähen Niedersturzes zittern! Was geht in 158 diesem Chaos des Erdenlebens, im dunkeln Rath der Götter vor, im Rath der Mächte, welche die Menschenloose zu ihrer Freude mischen, selbst vielleicht unsere traurigen! Ja, wohin wandeln wir! Was geschieht! Wie nur so angstvoll klopfen unsere Herzen, wie so bang nur mahnt unsere Ahnung! Geister halten, führen uns – wohin ihr Weg, wo das glückliche Ziel –?

Nach einer Wanderung von einer halben Stunde hörten sie das Rauschen der berühmten Mühlen von Witoborn. In ihren Donnerton versank alles, was Thiebold nur sprach, um eigentlich, wenn auch sehr prosaisch, zu sagen: Ist es denn möglich, daß man uns, uns – – diesen Terschka, einen Mann von vierzig Jahren vorziehen kann!

Benno lebte hier, auf dem Schauplatz der ersten Erinnerungen seines dunkeln Lebens, schon seit Wochen wie im Traum. Seine Rückkehr zur Schreibstube Nück's stand nahe bevor. Er schloß denn auch mit diesem Tage ab, wie schon seit lange mit seinem ganzen Leben. Seine Entsagung war eine um so schmerzlichere, als er sich lange schon die kalte, zweiflerische Philosophie gebildet hatte: Was du dir überhaupt unsers Daseins für würdig hältst, mußt du dir hienieden zu erringen suchen! Jenseits? Da erwartet uns das hohle Nichts! . . . Die erfahrungslose Jugend baut sich schneller als das geprüfte Alter Systeme. Gehen diese Systeme hervor aus »Enttäuschungen« und »gescheiterten Hoffnungen«, dann zerfallen sie wol leicht wieder in Trümmer; aber zäher ist ihre Dauer, gefahrvoller wird sie für das Herz, wenn sie aus jener Jugendstimmung entstehen, die, wenig erwartend vom Jenseits, auch vom Diesseits nur mit bitterer Verachtung spricht, von ihm am wenigsten noch etwas hofft, zu seinen Gunsten am wenigsten noch etwas unternimmt –

Eine volle, freie, erhebende Stunde auch mit Bonaventura hatte Benno noch nicht finden können. Er hielt sich für 159 unglücklich und er war es. Wer weiß, ob er sich noch dafür gehalten hätte, wäre ihm möglich gewesen, den Eindruck zu beobachten, den der Abend auf dem Finkenhof in seinem Nebenbuhler Terschka zurückließ –!

Terschka hatte, als er auf Schloß Westerhof zurückkam, hinter sich seine Zimmer zugeschlossen, die Lampen, die er angezündet fand, ausgelöscht bis auf eine, hatte, als könnten die Pappeln draußen verrätherisch hereinlugen, die Vorhänge niedergelassen, seine Kleider abgezogen, sich vor den Spiegel gestellt, das Hemd zurückgeschlagen, den linken Aermel aufgestreift und – auf den Arm in dem Moment sein Auge gerichtet, wo es klopfte –

Erbebend stellte er die Lampe nieder, ließ den Aermel herabgleiten und rief: Wer da?

Ein Diener brachte ihm den Brief, den Armgart hatte unterschlagen wollen.


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