Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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51 3.

Aus der unermeßlichen Wolkendecke, welche ab und zu sich ihrer Schneeansammlungen aufs neue entledigte, lugte auf Augenblicke freundlich die Sonne hervor. Da, wo sie verborgen stand, bekam der Himmel das Ansehen, als wär' er von geschliffenem Achat, durchsichtigem, gelbröthlich geflammtem. Um die St.-Liborikirche her standen die Bäume in ihrem weißen Krystallschmuck. Im Sommer konnte man sich hier, wenn rings die Ulmenäste wogten und ihre langen Schatten aufeinander warfen, an einen alten Opferhain erinnert fühlen. Jetzt war es ringsum licht. Schon unter den gefrornen Eiszapfen, die wie die Orgelpfeifen über dem Portal des Ausgangs der Kirche hingen, sah man weit in die schneeverhüllte Ebene hinaus, wo die Wintersaat schlummerte, die Hasen dahinschossen, auf rauchenden Dächern einsam die Krähen stolzirten.

In einer großen, etwas alterthümlichen, nicht aus Hoffart, sondern um des Schnees willen von vier Pferden gezogenen Kutsche saß Paula im Fond mit Tante Benigna, auf dem Rücksitz Armgart und der Doctor Laurenz Püttmeyer, der Philosoph von Eschede. langjähriger Verlobter der jetzt – in Paris bei den Fulds weilenden Angelika Müller. Die kleine freundliche Bettina Bernhard Fuld hatte der plötzlich gekündigten Lehrerin von Lindenwerth diese Stellung als Reisebegleiterin und 52 Gesellschafterin angeboten und Angelika hatte sie angenommen – die fromme Katholikin bei einer Jüdin –!

Ein so enger Raum . . . Und wie mächtig dehnt sich die Lebensbedeutung einer jeden dieser vier Personen in die Welt aus, weit, weit über diese winterliche Fläche und das Echo der aufs neue beginnenden Glocken hinweg! Das Leben ist so –! Auf der Bühne treten die Helden durch die weit aufgerissenen Flügelthüren ein und wie eine sich verbeugende Kette von Kammerherren und Lakaien steht die Spannung, um einen Fürsten oder – Bettler, wenn das Interesse gerade auf einem Bettler ruht, auf die Scene treten zu lassen. Aber im Leben ist z. B. so ein gefeierter Philosoph wie Püttmeyer plötzlich da, wie unsereins! Dieser große Mann, für welchen nun sogar am Ufer der Seine ein treuliebend Herz Propaganda macht und ihn Wechsel auf die Zukunft jetzt sogar in einem Bankierhause ziehen läßt, auf die Zukunft, diesen unerschöpflichen Reservefonds aller unverstandenen Geister der Gegenwart – er saß hier völlig unscheinbar, unerkennbar, tief verloren in einen Mantel, einen Damenmuff, einen Shawl und einen Fußsack –! Völlig wie von den Todten erstanden war Laurenz Püttmeyer . . . Eschede ist ein kleines Städtchen und Püttmeyer bewohnte zwei Zimmer daselbst im Erdgeschoß seines eigenen älterlichen Hauses. Ins grüne Freie, in einen Hausgarten, ging er nur, wenn ihm sein Hund, wenn ihm seine Katze die Nelkenbeete verwüsteten – die liebste Blume war ihm die Nelke: sie hat eine schöne Symmetrie, an ihrem Stengel erhebt sich die geschlossene Knospe in einer konischen Gestalt. Und hatte nicht auch sein eigenes ganzes Wesen das – eines großen alten Katers? Armgart wenigstens meinte heute gleich in der Frühe, als ihn eine gräfliche Kutsche von Eschede gebracht hatte, es fehlten ihm nur an dem glattrasirten Kinn, an der langen Oberlippe ein paar spitzabstehende Härchen – und Hinz 53 wäre fertig. So berichtete sie bereits neulich, als sie zum ersten mal des Doctors Bekanntschaft machte. Oft wurde Püttmeyer's Porträt den Mädchen in Lindenwerth als Medaillon in Aquarell gezeigt. Als man ihn gemalt, hatte er noch blonde Haare gehabt, eine scharfe, nicht gar zu spitze Nase, graue, entschlossene Augen, eine bläuliche Färbung des abrasirten Barts und eine ungeheure weiße Halsbinde, in welcher sich ein vornehm spitzes Kinn versteckte. Nun aber in Wirklichkeit spielte bei dem schon tief Vierzigjährigen alles grau in grau. Der Doctor war ein Sonderling, ein Stuben- und Sophahocker geworden. Man erzählte von ihm, daß er eine Wasserflasche, die dem Sonnenstrahl ausgesetzt war und bereits als Brennspiegel die gegenüberliegenden Gegenstände entzündete, nicht etwa aus dem Sonnenstrahl heraustrug, sondern mit einem Bogen seines als Makulatur verbrauchten Werkes: »Christus und Pythagoras«, umhüllte, blos weil er zu träge war aufzustehen und einige Schritte weit mit seinen schöngestickten Angelika-Pantoffeln zu schlorren und die Flasche in den Schatten zu stellen. Ins Freie ging Püttmeyer dann nur noch jeden Abend, wenn er das beste Hotel von Eschede, »Bei Schönian's«, und jeden Sonntag die Kirche besuchte. Seine Verehrerinnen mußten ihn in seiner Wohnung aufsuchen. Und diesen Mann mobil zu machen, das war Armgart gelungen! Gleich nach ihrer Flucht aus Lindenwerth hatte sie ihn wie eine verschüttete pompejanische Ruine entdeckt. Sie hatte die unendliche Liebe und Dankbarkeit, die sie für ihre Lehrerin besaß, für diese Arme, die ihretwegen so hart bestraft worden, auf den Freund des Herzens derselben übertragen und mit jener dem jugendlichen Alter so schön stehenden Liebesübertreibung aller Welt in ihm den Propheten nachgewiesen, der in seinem Land verkannt würde, während die wissenschaftliche Welt, von Alexander von Humboldt in Berlin bis zum alten Windhack zu Kocher 54 am Fall, von seinem Ruhme erfüllt wäre. Ruhm verbreitet sich, hatte Angelika oft gesagt, in concentrischen Kreisen. Wie auf dem Wasserspiegel die erregte Wellenlinie in der Nähe des hineinfallenden Steines noch klein sei, dann wachsend und wachsend und in ihrer wahren Größe erst in ihren äußersten Nachschwingungen sichtbar werde, so auch die Anerkennung des Genius, zu dessen wahrer Würdigung dann ja – oft genug auch die Steine gehörten! Niemanden haßte Armgart so, wie einen gewissen Philosophen Namens Joseph Schelling, der so unersättlich nach Ruhm wäre, daß er auch noch den Lehrstuhl Hegel's, den bis dahin ein unbedeutender Schüler bekommen, einnehmen und dadurch gleichsam beweisen wollte, daß er von Hegel nicht überwunden worden wäre. Das war in Eschede ein Aufsehen, als eines Tages eine gräflich Dorste'sche Kutsche ins Thor fuhr und ein Livreebedienter nach dem Doctor Püttmeyer fragte! Und schon am Abend, wo Püttmeyer nicht »Bei Schönian's« erschien (regelmäßig fanden sich dort vier oder fünf Stammgäste ein), wußte es die ganze Stadt, daß Fräulein Armgart von Hülleshoven auf Stift Heiligenkreuz den Doctor aufgesucht, ihm eine Vision der Seherin von Westerhof erzählt und ihn veranlaßt hätte, diese zu zeichnen, auszutuschen und mathematisch in vierundzwanzig Theile zu zerlegen zum Muster eines Teppichs. Für den Doctor war dieser Auftrag gewesen, wie wenn man bei einem Drechsler in Witoborn ein Linienschiff für die englische Marine bestellt hätte. Er hatte seine katergrauen, etwas gelbgesprenkelten und schon ganz tageslichtscheu gewordenen Augen aufgezogen, als wäre der Cultusminister bei ihm vorgefahren gekommen in Begleitung des Oberpräsidenten und hätte ihn zum Mitglied der Akademie gemacht. Er konnte von Stund an nicht mehr regelmäßig denken, nicht schlafen; er verjüngte sich, als kämen seine alten Tage wieder, wo seine Ideen zum ersten male 55 über das vaterländische Heidekraut flügge ins Land aufstiegen wie Märzlerchen und alle Drechselbänke der adeligen Höfe ringsum seine mystischen Dreiecke, Kubusse und Konoiden darstellten. Püttmeyer zeichnete den Teppich, maß ihn, klebte ihn in natura zusammen, wie einen Drachen – voller Drachen. Das erschütterte dann sehr seine Gesundheit. Erst heute hatte man ihn aus Eschede abholen lassen können. Er war wie der selige Nikolaus von der Flüe, den die Eidgenossen aus den wilden Bergen holten, um ihre Streitigkeiten zu schlichten, und den man tragen mußte, weil er das Gehen verlernt hatte. Alles war ihm neu. In Witoborn behauptete er viel mehr Thürme zu sehen, als sonst, während doch einige abgetragen worden waren. Die Vögel, die am Wege im Schnee hüpften, betrachtete er, als wären es neue Species, die der Schöpfer inzwischen geschaffen. Und daß es sich so treffen mußte, an diesem Tage waren sämmtliche Männer der gewähltern Gesellschaft ins Gebirge nach Schloß Neuhof; nun konnte er sowol in Schloß Westerhof, wie in der Kirche und jetzt wieder auf der Rückfahrt, so recht genießen, als zweiter Frauenlob allein von weiblichen Händen und Herzen gehegt zu werden. O that das wohl! Gleich einem alten Papagaien hatte er gekrächzt und gegrammelt vor Behagen, als ihm die Frauen und Fräulein aus dem Chor vor und nach der Messe so viel Zuckerbrot, das heißt in süßen Worten, gaben, seine Güte, seinen Geist, seinen Geschmack lobten. Wie der große Pfau des Libori wedelte er! Noch stand ihm das einfache Familiendiner im Schloß bevor, für den Nachmittag die Rückfahrt nach Eschede und für einen der nächsten Tage noch eine größere Huldigung. Bei einer Jagd, welche gehalten werden sollte in dem von Terschka für Thiebold de Jonge zum Ankauf bestimmten Walde, einer Jagd, deren Honneurs der Trauer der Dorste's wegen ein nachbarlicher Graf Münnich übernommen, sollte Püttmeyer den 56 Damen, die auf Münnichhof die heimkehrenden Nimrods erwarteten, sein philosophisch-mathematisches System derartig erklären, wie er dies alle Jahre einmal in Eschede that, durch Pmbres chinoises, d. h. Transparentfiguren in einem dunkeln, weihraucherfüllten Zimmer.

Die zweite bemerkenswerthe Persönlichkeit im Innern der herrschaftlichen Kutsche war Tante Benigna. Die vielbesprochene Schwester Monika's –!

Ach! wie beurtheilt ihr doch die Menschen immer nur nach dem, was sie euch zu euerm eigenen zufälligen Nutzen oder Schaden sind! Die Mutter Monika's, die Großmutter Armgart's konnte Tante Benigna, Fräulein von Ubbelohde, allerdings sein; aber von einer Hexe, von einer Kindesräuberin hatte sie nichts. Wie lange lag auch bereits jener furor saxonicus hinter ihr! Ein schwarzer Trauer-Sammethut mit Kreppbändern zeigte das Antlitz einer funfzigjährigen Jungfrau, deren Augen etwas ermüdet waren, die Lippen weit mehr bedacht, eine kleine Zahnlücke, als heroische Entschlüsse zu verbergen. Onkel Levinus, ihr Schwager, war ihr Verlobter, mit welchem sie sich – zu verheirathen vergessen hatte. Sie setzten beide ihren Brautstand mit immer gleicher Courtoisie fort, ganz in dem Tone, der schon bei ihrem ersten Verspruch herrschte. Sie lebten unter Einem Dache, führten die gleichen Geschäfte, die Verwaltung der Güter des Grafen Joseph, zankten sich nicht selten, aber die wirkliche Ehe war in Vergessenheit gerathen. Ob das traurige Beispiel von Bruder und Schwester sie erschreckte? Ob sie Reue hatten über ihre wilde Einmischung in diese unglückliche Ehe? Ob sie in der Erziehung Armgart's sich sattsam verbunden fühlten? Möglich; aber Tante Benigna war keine Meg-Merilies. Ein Kind nimmt geistige Größe für physische und erinnert sich seines kleinen alten Lehrers immer in der Gestalt 57 eines Riesen. Monika war zwanzig Jahre, als sie Benigna zum letzten mal sah und ihre um so viele Jahre ältere Schwester stand ihr noch immer vor Augen in jener Leidenschaft, von welcher sie damals gegen sie erfüllt war. Wie war aber auch Benigna zusammengegangen! Es ist ein ganz mäßig gebautes, anspruchsloses Wesen. Sie kichert verlegen, wenn von Levinus von Hülleshoven als von ihrer ersten und einzigen Liebe die Rede ist, sie thut es, wie eine jede andere alte Jungfrau in gleicher Lage auch gethan haben würde. Längst war diese Beziehung unter die Dinge gerathen, deren Lösung der Mensch dem Jenseits überläßt. Tante und Onkel, beide hatten so viel mit ihren Aemtern und nächst diesen auch mit sich selbst zu thun, daß es zu keiner Wiederanknüpfung mehr an die alte Zeit kam; beide vertrockneten in sich selbst. Die Zeit, die Onkel Levinus im Verwaltungsamte erübrigte, gehörte der Gelehrsamkeit, den Alterthumsstudien, den Entdeckungsreisen ins Innere Afrikas und seinem chemischen Laboratorium. Die Zeit, die Benigna erübrigte, gehörte der »Erziehung« Paula's und Armgart's, die indessen umgekehrt beide mehr die Tante erzogen. Benigna ist allerdings reizbar, streitsüchtig, dann wol gutmüthig, aber erst nach Anfällen heftiger Strenge, überfromm und sittenrichterisch bis zum Unschönen. Sinkt sie aber, von alledem erschöpft, Abends in den Sessel, so schläft sie so gut wie andere; ja sie spricht sogar dann im Traume, nie jedoch etwas Geistreiches. Die beiden Pfleglinge haben sie ganz in der Gewalt; Armgart mit List, Paula mit Güte; und manchmal entwickelte sie gleichfalls etwas Neckerei. Trotzdem daß Tante Benigna heute aus ihrem Mantel ohne Pelz (»Man muß sich nicht verwöhnen!«) und ihrem Hute ohne Schleier (»Schade was für eine rothe Nase!«) gedankenvoll in die Gegend schaut und immerfort an den beschlagenen Fensterscheiben wischt, um zu sehen, welcher Gottesfriede und welche 58 nächstjährige Erntehoffnung auf der Wintersaat ruht und am wievielten Chausseestein man sich befand, hätte sie doch ganz gern auch ein bischen den Doctor geneckt. Denn sein Frack war denn doch auch gar zu altmodisch! Wie hatte man ihn in Eschede »eingemummelt«! Wie eine alte Meerkatze saß er da unter seinen Tüchern und Pelzen – Da jedoch Armgart die Ernsteste im Wagen blieb, mußte schon Tante Benigna ihre Necklust zügeln und stumm den Gedanken Audienz geben, die sie hinlänglich quälten – diese Entäußerung des alten Besitzes, die Zukunft Paula's, die Leiden und Visionen derselben, der Zustrom so vieler Menschen, welche die »Seherin« beunruhigten, und die Sorge, wieder um diese »gar nicht zu berechnende« Armgart, um die Nähe ihrer Schwester, um die Ansiedelung ihres Schwagers – Witoborn, sein »unstandesgemäßes« Fabrikproject mit Hedemann, endlich auch die unruhige Zeit, die Aufregung der Gemüther, die Zänkereien des neuen Pfarrers mit den Gemeindegliedern – dazu dann noch der Pferdestall, die Kühe, die Schafe, die Schweine, die Fruchtpreise, alles, was zwar schon in die Verwaltungssphäre des Onkel Levinus hinübergriff, von diesem jedoch oft gefährlich vernachlässigt wurde, wenn er hinter seinen Tiegeln und Retorten kauerte oder eine Entdeckung machte von fossilen Thieren in einem Kalksteinbruch oder ihm ein alter Römerhelm überbracht wurde, über dessen muthmaßlichen ehemaligen Besitzer er sämmtliche Bücher des Tacitus wieder noch einmal frisch durchlesen mußte und dann Abhandlungen schrieb und sich in gelehrte Streitigkeiten mit Provinzialblättern verwickelte.

Armgart, die Dritte, ging, wie gesagt, auf die Necklust der Tante nicht ein. »Herr! Cröne Mein Beginnen!« sprachen, wie tief innenwärts gewandt, ihre braunen Augen. Auch bei ihr war der Hut einer von durchbrochenem schwarzen Flor. Ihr 59 dunkelbraunes Haar sah man wenig; auch über das heute wachsweiße, nur am Näschen etwas von der Kälte geröthete Antlitz zog sie zuweilen rasch einen schwarzen Schleier, den sie trotz des »Schade was!« der Tante trug. In ihrer Brust gab es wilde Kämpfe; auf ihrem Antlitz fürchtete sie die Spuren davon zu verrathen. Gleich nach ihrer Ankunft von Lindenwerth hatte sie am Altar der Stiftskirche zu Heiligenkreuz der Gottesmutter gelobt: »Nicht Vater! Nicht Mutter! Nur beiden zugleich gehör' ich!« Das führte sie durch. Das nähte sie in ihren Drachen. Das stickte sie in ihre Cigarrentasche. Das häkelte sie in ihren Aschenbecher – Sie verlor diese Vielliebchen, weil sie nur dem Gedanken lebte, daß die Mutter oder der Vater in jeder Stunde kommen könnten. Auch sie wischte mit dem weißen Tuche, das sie, als könnte sie plötzlich weinen, immer in der Hand hielt, das beschlagene Fenster neben sich ab. Sie that es, um sich zu überzeugen, ob kein Gespenst ihrer Furcht oder Hoffnung hereinschaute. Wie anbetend blickte sie dabei zuweilen zu ihrer lächelnden Freundin Paula hinüber, zuweilen auch wieder in den geflammten Achat am Himmel. Daß es für gewisse Seelen und für gewisse Zustände Engel gab, ganz so wesentlich sichtbar wie die kleinen dicken Jungen, die in der alten Kirche zu St.-Libori den Baldachin über dem geschmacklosen Hochaltar hielten, das war in dieser Sphäre eine vollendete Thatsache.

Und Paula, die wir nun doch auch eigentlich hätten wiedersehen sollen nur im Concert der Sphären, nur so, wie sie in Bonaventura's nächtlichen Träumen aus klingender Luft schwebte – da sitzt nun auch als Vierte in der Ecke eines altfränkischen Wagens – (die Staatskutschen waren beim Leichenbegängniß) die »Seherin«. Sie fährt hoch auf bei jedem Verlassen des gefrorenen Gleises und bekommt von der Seite dann einen Ruck der Tante und fast die Berührung der Nasenspitze des Doctors. 60 Es ist so, wie das Leben auch die Kaiser und die Könige auf die Erde eintreten läßt ohne Krone, auch die künftigen Heiligen ohne Heiligenschein. Aus ihrem weiten schweren schwarzen Sammetpelzmantel und aus dem schwarzen Sammethute heraus ist jetzt nur das längliche edle Antlitz Paula's ersichtlich. Es besitzt den schärfsten Ausdruck der Schönheitslinien. Die Nase ist geschwungen; die Augen sind dunkelblau, hochgewölbt, beschattet von vollen Brauen und Wimpern, die im Gegensatz zum goldgelben Haar des Hauptes schwarz wie mit Kohle gezeichnet sind. Die Stirn ist klar und frei, das Kinn ist oval, der Mund lächelnd und die Lippe, sonst rosig, heute nur von der Kälte der Kirche etwas erblaßt und bleich auch das Antlitz. In Paula's Art, das sehen wir jetzt aus den eigenthümlich langgesponnenen Fäden ihres Blickes, lag etwas von den Geisterjungfrauen, die zwischen Tag und Nacht im Nebel über die Erde schreiten. Sie würde nicht selbst gesucht haben eine Velleda zu sein und im heiligen Hain des Irminsul zu opfern, aber die Völker ringsum hätten sie an den Altar geführt und ihr Iphigeniens Opfermesser in die Hand gedrückt. Wenn sie ihr Auge mit den seltsam schwarzen langen Wimpern aufschlug, da zog es jede Weltlichkeit empor und wiederum blieb das Geistigste, das sie anregte, nicht ohne den Reiz für die Sinne. Kaum gibt es Bestrickenderes, als allein schon der Blick auf ein solches Naturspiel: goldblondes Haar und auf den Augenbrauen und Wimpern dunkles Schwarz –! Paula's Sinn war so mild, so gütig. Und immer nahe stand der Armen jener Traumgott mit dem Mohnblumenkranz, der nur einmal sanft und leise die Hand über ihre Augen zu streifen brauchte und sie entschlief mit räthselhaften Organen, mit denen wir andern nicht schlafen. Dann sprach sie in verworrenen Worten, sah Entferntes mit geschlossenem Auge, hörte selbst das Ticken einer Uhr in entlegensten Räumen. So 61 krank sie sich bei dieser zweifelhaften Gabe des Geschickes fühlte und so unendlich müde sie mit ihrem schlanken Wuchs dahinwallte über die Erde (gegen ein Hüftleiden hatte sie einst lange im Streckbett gelegen): dennoch war ihr Sinn selbst nicht zu übermäßig ernst oder feierlich. Jetzt am wenigsten, wo ihr Wonnetage aufgegangen waren. Erst die Ankunft Benno's von Asselyn, den sie nur noch wenig kannte, der aber ein Vorläufer Bonaventura's war. Dann dieser selbst! Kein Wunder, daß sie, trotz der Messe, trotz der Trauer um ihren Oheim, trotz der etwas lauernd grübelnden Miene der Tante Benigna, trotz Armgart's seit einiger Zeit ewig verstörter Abwesenheit, über den Anblick des Doctor Püttmeyer lächelte und höchst freundlich blickte. Schon den ganzen Vormittag war sie durch ihn heiter gestimmt.

Sie kannten ja den unglücklichen Sohn des Onkel Kronsyndikus, Herr Doctor, begann sie mit süßmelodischer, wenn auch leiser Stimme und sprach die Worte fast im Neckton.

Der Doctor erkundigte sich bei jeder Frage immer erst mit einem: Wie befehlen –? Taub war er nicht, es war ihm nur ermuthigender, jede Frage zweimal gehört zu haben und inzwischen sich die Antwort zu formuliren.

Als von Armgart, die gleichsam immer wie ein dienender Cherub zu den Füßen ihrer Heiligen saß, die Frage wiederholt war – die Tante mußte sich schon lange innerlich sagen: Passen Sie doch besser auf, mein bester Herr! – bestätigte Püttmeyer diese Bekanntschaft in einer eigenthümlichen Vortragsweise. Nicht gerade, daß er pruhstete, auch räusperte und schnurrte er nicht, aber sein Stimmchen war so fein und fortwährend gehindert, daß er nur erst durch mancherlei Manöver zu hinlänglich ausreichendem Athem kommen konnte. Seine Antwort eröffnete dann Rückblicke auf manches Düstere und Schauerliche, das in diesem Kreise lieber wäre vermieden worden. Der Mönch Sebastus wurde 62 erwähnt, der im Kloster Himmelpfort, wohin ihn die Regierung hatte zurückbringen lassen, krank lag. Das Pentagramm und die Tannenfahne (Tanfana), beides Symbole der göttinger Bierhäuser, kamen zur Sprache; bei Gelegenheit der Thaten des Kronsyndikus und seiner nunmehrigen ewigen Ruhe rühmte Püttmeyer wiederum Armgart's Symbolik des Fegfeuers und die Tante selbst war es, die mit ihrem schwarzen Handschuhfinger das niederwärtsfahrende geflügelte Kreuz am beschlagenen Fenster rücksichtslos hinmalte. Dann trat eine Pause ein. Armgart durchlebte sie im Geist auf dem Nachen von Lindenwerth. Benno stand ihr vor Augen mit dem Hut in der Hand, wie er sie grüßte, als sie abfuhr vom Hüneneck. Tief seufzte sie auf. An ihrem Aschenbecher zog sie mit den Schmelzperlen ebenso bereits schon manche Thräne auf. Kaum sah sie hin, als Püttmeyer ihre Symbolik so unausgesetzt lobte und ausführlicher noch als im Briefe an die gute Angela sprach: Ja, Ihr Herz Gottes, mein sehr geehrtes gnädigstes Fräulein, ist – hm! – ist eigentlich der bedeutungsvolle Kreis! Der Kreis ist – hm! – unser inhaltreichstes Symbol! Der Kreis drückt die Welt selbst aus, das All, wie schon die Alten die geringelte Schlange – hm! – noch tiefsinniger aber das Ei als den Urgrund alles Seins bezeichneten. (Die Tante replicirte im Geiste, daß die Hühnereier oval wären –) Die Kugel – das runde Ei der Schlange – (das war fast wie ein Treffer auf den errathenen Einwand der berühmten Wirthschafterin) ist das Vollkommenste oder richtiger die Vollkommenheit selbst. der Begriff, die Monade, das Atom. Es ist – hm! – die ganze Einheit, die an den Dingen ihr wahres Wesen ausdrückt! Denn ob nun ein Weltball oder eine Kegelkugel – hm! – eine Kegelkugel – (die Tante dachte an den Finkenhof und an die Reformen des eifernden Müllenhoff) es ist dieselbe Idee der harmonischen Beziehung eines Mittelpunktes – 63 hm! – zu millionenfacher gleichzeitiger Entfernung. Was Sie sehen, meine gnädigsten Herrschaften, der Schnee da – hm! – der Vogel, der bereifte Baum, der Rauch eines Hauses, alles – hm! – ist die Wirkung einer Ursache, die wiederum zu einer andern Ursache, als ihrem Mittelpunkt, zurücklenkt und so geht das ganze Dasein – hm! – centripetal auf ein Inneres, aber auch immer wieder – hm! – centrifugal auf ein Aeußeres, eine große Rundfläche aller Dinge. Die Allheit – die Allheit dieser Strebungen ist das Sein in Gott. Die Gottheit – ist die Kugel und alle Seelen sind – hm! – Sphäroiden. Das Suchen des Mittelpunktes der Welt gibt den Radius. Wohl dem, der den längsten gefunden hat! Den, der – der durch den Mittelpunkt der Welt geht! Dessen Denken ist – hm! – gleich Gott selbst –!

Die Tante fand das alles im Grunde sehr schön, sehr erhebend und namentlich so beim Fahren zwischen St.-Libori und Westerhof auch höchst merkwürdig; indessen meinte sie doch, um eine gewisse Opposition, die sich in ihr regte, nicht ganz zu unterdrücken: Sein Denken? Oder meinen Sie nicht eher sein Glauben, Herr Doctor –? Dann wandte sie sich, weil sie, namentlich für die häßlichen Schlangeneier, noch irgendeine schärfere Eruption ihrer andern Ansicht von alledem haben mußte, zu Armgart und sagte: Armgart, Armgart! Was träumst du nur ewig!

Da Armgart kaum zuhörte, sagte Paula, welche die dem Doctor ungünstig werdenden Gedanken der Tante errieth: Liebe Tante, das Kreuz ist nie so schön verklärt worden, wie vom Herrn Doctor Püttmeyer!

So? sagte die Tante. Die Kugel kann ich doch für nichts so Großes halten!

Püttmeyer streckte Nase und Kinn aus seinem Shawl hervor 64 und erwiderte: Ist nicht – hm! – meine Gnädigste – der Apfel des menschlichen Auges – Bitte, gnädigste Comtesse! wandte er sich, die Rücksichten der Etikette abwägend, sogleich wieder zu Paula, die zuerst gesprochen. Das Kreuz ist auch eben nur die Offenbarung der Kugel . . .

Nein, nein, nein! rief die Tante lebhaft. Gott ist keine Kugel –!

Armgart nahm noch immer keine Notiz. Sonst würde sie schon längst gesagt haben: Aber ich bitte dich, liebe Tante! Da sind ja gar keine Gegenstände für dich! . . . Paula blickte auf Armgart. Sollte sie denn nun heute Armgart's Rolle übernehmen und statt dieser polemisiren? Sie sagte ganz heiter: Ei, Tantchen, das sind ja doch nur Bilder –!

Das weiß ich sehr wohl –! Ich bin nicht so dumm –! fuhr die Tante auf –

Mein gnädiges Fräulein, beschwichtigte Püttmeyer, wenn ich beim Grafen Münnich die Ehre haben werde, mein System an Beispielen zu erläutern, so zweifle ich nicht an Ihrer – hm! – gewogentlichsten Zustimmung – Gott – hm! – ist die Idee des Kreises, die Radien und Diameter sind die Begriffe – hm! – des Lebens. Die Linie ist das Gegentheil des Kreises, das ewig – hm! – Continuirliche, die Ausdehnung, der Raum und die Zeit. Nun sind aber nur diejenigen Linien vollkommen, die einer Wesenheit angehören und die höchste Wesenheit kann nur sein – hm! – im Mittelpunkt eines Kreises zu stehen – d. h. wie man ja schon im Leben sagt, ins Schwarze zu treffen – (Die Tante dachte hier an die bevorstehende große Jagd mit allen ihren Sorgen und möglichen Unglücksfällen) Denken Sie sich Linien, die da oder dorthin gehen – hm! – an der Fläche der Kugel oder ein wenig in sie hinein, Tangenten, Secanten, alles ohne den Urgrund, der da ist: Dem Mittelpunkt 65 anzugehören! Alle Strebungen des bunten Lebens müssen sich im Mittelpunkt durchkreuzen und so ist das Kreuz – hm! – auch recht eigentlich der Ausdruck der geoffenbarten Gottheit und im Grunde wieder die Kugel, d. h. Gott selbst –

So aufmerksam Paula zuhörte, so interessirt sich jetzt endlich auch Armgart dem Gespräche zuwandte, so schüttelte doch die Tante den Kopf und fand diese fromme Wendung, die der arme Denker erst in einem Nachtrag seines Systems gegeben hatte, als er wegen »Christus und Pythagoras« beinahe excommunicirt worden war, keineswegs katholisch und überzeugend. Wir haben auf unserm Altären, sagte sie sogar mit Feinheit, das Kreuz mit zwei Balken, einem langen und einem kurzen, die doch eher dem Oval, als der Kugel entsprechen –

Aber Tante, die Griechen! Der heilige Andreas! warf jetzt Armgart ein und in fast ärgerlichem Tone –

Ach, das weiß ich selbst! – lehnte im selben Tone die Tante ab und verbat sich den Schein, als wenn sie nicht wüßte, daß das griechische Kreuz, wie auch das Kreuz beim Johanniterorden, zwei ganz gleiche Schenkel hätte –

Der Einwurf ist ganz richtig! begütigte Püttmeyer die gereizte Stimmung und vergaß keineswegs, daß ihn einst erst die Drohungen mit dem päpstlichen Index gezwungen hatten, seine Philosophie katholischer zu modeln. Das griechische Kreuz ist in der That unvollkommen! sagte er. Es drückt nur die Gottheit Christi allein aus! Wir Alle wissen aber und bekennen es nicht blos in der christkatholischen Lehre – hm! – daß Gott der Herr die Knechtsgestalt annahm. Demnach ist der längere Balken – hm! – die Gottnatur, der kleinere Querbalken aber die irrende, menschliche – hm! – mittelpunktlose, welche durch die Kugel nur ein gewöhnliches Segment macht. Gerade nur an einem solchen Segment konnte der Heiland rufen: Mich dürstet! Nur 66 an einem solchen Kreuze, das halb dem Weltall, halb dem kleinen Jerusalem und dem Jahre 33 nach – hm! – Christi Geburt angehörte, halb dem Gott, halb dem Menschen, konnte Jesus für uns leiden! Jener Doppelquerbalken der großen Würdenträger und des Papstes, ein Symbol, das gleichsam der dreifachen Krone entspricht und das wir auch auf das Haupt – hm! – des Pfauen im Teppich gesetzt haben (Püttmeyer malte aus Fenster ein Doppelkreuz), ist die Einigung beider Auffassungen, der griechischen und der römischen, des Christus des Dogmas und der Concilien und des Christus der Osterwoche, des leidenden. Uralt ist schon die Ahnung unsers christkatholischen Kreuzes bei allen alten Völkern. Der Hirtenstab in den Händen des Osiris, der Stab des Hermes, welcher die Seelen in die Unterwelt geleitet, der Hirtenstab des Pan, der seinerseits sogar schon das All bedeutete – das All, meine gnädigsten Herrschaften – hm! – und dazu der Stab des guten »Hirten«! Wie nahe kam schon da die gerade Linie der Ahnung, daß nur noch die große Veranstaltung zum Kreuze fehlte! Moses – hm! – schlug schon mit einem Stab aus Felsen Wasser! Aesculap, der Gott der Heilkunde, trägt einen schlangenumwundenen Stab! Ja im frühgebrauchten Zeichen der Venus, des Sterns der Liebe, sind der Kreis und schon das Kreuz verbunden – ♀. Das ist dann – hm! – der freundliche Morgen- und Abendstern, der Stern des Morgenlandes, welcher die Wahrheit halb schon ahnte, die dann an der Krippe Jesu erst ganz vernommen wurde, diese Wahrheit, die, wenn man sie ganz bezeichnen wollte, einem Rade gleichkäme, ich meine, dieser Figur: Kreuz im Kreis. Die drückt eigentlich die ganze Schöpfung aus –!

Alle schwiegen. Theils vor Bewunderung, theils vor Nichtverständniß, theils aber auch – vor Schauer bei dem Bilde des Rades, das Püttmeyer an die Fensterscheiben malte. Armgart 67 und Paula kannten die Sage von dem Rade – auf dem Schlosse des Kronsyndikus. Püttmeyer begriff das eintretende Schweigen nicht. War er doch gewohnt, solche tiefkatholische Philosophie lebhafter applaudirt zu hören. Dennoch hob ihn bald wieder die Aussicht auf den vornehmen Comfort des Schlosses und auf das Mittagsmahl.

Noch war das Schloß nicht ganz erreicht. Doch konnte es schon gesehen werden. Schloß Westerhof lag auf einer kleinen Insel. Ohne Zweifel war die Brücke, die jetzt von einem Heiligen gehütet wurde, in alten Zeiten eine Zugbrücke und hatte zu einer Burg geführt, von welcher jetzt noch vielleicht die vier starken Eckthürme des Schlosses herrührten. Der Herrensitz der großen Gütermassen der Dorste-Camphausen stammte aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und war jedenfalls nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges neu auf alten Trümmern erbaut. Von allen Seiten mit hohen Pappeln geziert, bot das Schloß nicht etwa einen Prachtbau dar; Glanzliebe würde dem Charakter dieser Gegend nicht entsprochen haben. Vier bewohnbare Thürme erhoben sich an den vier Ecken eines Quadratgebäudes, oben sich zuspitzend zu einem schieferbedeckten Runddach mit kupfernem Knauf. Zwischen diesen vier Thürmen gingen vier gleichmäßige Seiten von zwei Stockwerken und zwölf Fenstern der Länge nach, im zweiten Stock an jeder Seite ein Balcon von altem künstlich gewundenen Schmiedeeisen. Ein dritter Stock verengte sich in einen Giebel, der gleichfalls spitz zulief und in einem Knopfe endete, sodaß das ziemlich regelmäßige Gebäude acht Spitzen hatte und recht gut auch dem Eindruck eines Klosters entsprach. Die Wirthschaftsgebäude lagen weiter ab und außerhalb der Insel, die ihrerseits groß genug war, auch noch an der Hinterfronte des Schlosses einen parkartigen Garten zuzulassen, der sich jenseit einer zweiten Brücke verlängerte und schon jetzt 68 manche Anlage aus dem Schnee heraus unterscheiden ließ, zumal wenn sie aus Tannen bestand.

Endlich fuhr der Wagen über den hartfrierenden, knirschenden Schnee und über die steinerne Hauptbrücke; die Rosse standen dampfend still vor dem Portal, einem kleinen, dem Geschmack des Ganzen entsprechenden Schnörkeldache, das von zwei kurzen Säulchen getragen wurde. Zwei mächtige Hunde sprangen den Rossen entgegen. Nun galt es, sich aus den Pelzen herauszuwickeln.

Da aber hatte Tante Benigna schon bemerkt, daß der Schnee plötzlich auf Paula eine eigenthümliche Wirkung zu äußern anfing. Schon lange ermüdeten ihre Augen. Und so theilnehmend Paula auch noch lächelte und mit der ganzen Lieblichkeit ihres Antlitzes den Worten des Doctors lauschte (dachte sie doch immer, was zu all diesen Philosophemen wol Bonaventura sagen würde!) – allmählich wurde ihr Blick trüber und immer abwesender. Erst schien sie nur der Schnee zu blenden, die schwarzen Wimpern sanken nieder und hoben sich nur leise; als man aber am Schloß angekommen war, hatte auch schon Armgart die Entdeckung gemacht, daß Paula in dem ihr eigenen halb wachen, halb schlafenden Zustande war. Sie verrichtete alle Functionen wie mit vollem Bewußtsein, gab Antworten auf jede an sie gerichtete Frage, nahm Armgart's Hand, die sie führte, streichelte auch die Hunde, die in allen möglichen Stellungen sie umkreisten, springend, kratzend, als gält' es, unter den Strohmatten auf der Treppe, die schon beschritten wurde, oder an den Ritzen der dunkelbraun gestrichenen hohen Thüren, die auf die Corridore hinausgingen, Mäuse zu jagen. Alles, was stören konnte, dämpfte die Tante. Erst als Püttmeyer auf der Treppe eine Anzahl von Kranken sah, Mütter mit Kindern, Blinde, Lahme mit Krücken, Bittende mit Briefen in der Hand, da verstand er, 69 daß ihm heute auch noch ein anderes hohes Glück zu Theil werden sollte, Zeuge der vielbesprochenen ekstatischen Zustände der jungen Gräfin zu sein!

Vor dem geheimnißvollen Isisschleier zu stehen ist wahrlich nichts Kleines. Püttmeyer's Athem, ohnehin nur kurz, stockte jetzt vollends. Mechanisch ließ er sich vom Diener seiner Umhüllungen entkleiden. Fast hätte er auch sein großes weißes Halstuch abbinden lassen, das allerdings einer schützenden Ueberbinde ähnlich sah. Die rasche Hülfe eines jungen, in eleganter Toilette herzuspringenden Mannes schützte ihn vor dem Misverständniß und dem Verlust eines schönen Knotens, den ihm Frau Steuerinspector Emminghaus mit eigener Hand heute früh geschlungen hatte.

Der junge hülfreiche Mann war Thiebold de Jonge. Mit seinem nur »scheinbaren Adel« hatte er sich nicht an dem Leichenbegängniß betheiligen wollen. Tante Benigna ersah mit sichtlichem Wohlgefallen, wie dieser gerade vorzugsweise von ihr so gern gesehene und »ein für allemal geladene« Gast sich schon wieder so nützlich zu machen verstand.

Paula wurde von Armgart geführt. Hoch und schlank schritt sie dahin. Den schweren Sammetmantel hatte man ihr schon abgenommen. Sie war unter ihm in schwarze Seide gekleidet. Alle Thüren wurden aufgerissen. Die Diener kannten bereits, wie sie sich in solcher Lage zu benehmen hatten. Paula schwebte. Die Frauen führten sie in ihre Zimmer. Püttmeyer, voll Staunen und die Hände faltend, blieb mit Thiebold allein. Thiebold hatte nie so viel Zustimmung gefunden für eine seiner gewohnten geistreichen Aeußerungen, die in diesem Augenblick lautete: »Nicht wahr? Merkwürdig?«

Im großen Vorsaal, der etwas düster war durch einen im zweiten Stockwerk angebrachten Balcon, befand sich an der Thür 70 das Weihwasser. Tante Benigna und Armgart hatten sich beim Eintreten trotz der Aufregung durch Paula's Zustand benetzt; Paula war vorübergegangen. Vom Vorsaal schritt man zur Rechten in ein geräumiges, wenn auch nicht zu großes Wohnzimmer. Hier war alles mit Teppichen belegt. Die Vorhänge waren von grüner Seide. Ein Flügel stand aufgeschlagen, auf welchem ohne Zweifel Thiebold eben einige Fingerübungen gemacht hatte, denn hier Effect zu machen mit so wenig Virtuosität, als er sie besaß, das hätte er sich nicht für möglich gedacht. Sopha, Stühle, alles war mit grüner Seide überzogen. Die Etagèren und kleinen Schränke waren von dunkelbraunem Holze und in gothischen Formen. Die Bilder stellten Scenen aus dem Leben der Apostel und Heiligen vor. An frommen Büchern und Provinzialzeitungen war kein Mangel.

Püttmeyer kämpfte nicht wenig mit sich, wie er es anstellen sollte, nicht über Dinge, die hier so leicht genommen wurden, sein ganzes Erstaunen auszudrücken. Er kannte Erfahrungen dieser Art nur aus den Büchern. Er hatte Abends »Bei Schönians«, wo er jeden Abend seine zwei Gläser – »Gerstenschleim« trank, oder gegen seine ihn besuchenden Verehrerinnen sich, wenn er um Erklärung angegangen wurde, dahin geäußert, daß das klare und intellectuelle Leben des Menschen die Centripetalität, d. h. das Streben zum Mittelpunkt wäre, aber das Gefühls- und nervöse Leben die Centrifugalität. Er hatte oft geäußert, daß man einer solchen Verrückung und Umkehrung dieser Thätigkeit, wenn sie auch Krankheit wäre, getrost nachgeben und durch sie der großen Weltseele näher zu kommen suchen sollte. Da die Visionen der Gräfin keineswegs recht in die christlichen Anschauungen passen wollten, sie vielmehr, wie Armgart's Mutter noch vor kurzem bei Piter Kattendyk etwas zu vorschnell geglaubt hatte, keineswegs immer mit Christus und mit der Gottesmutter 71 »im Jenseits« verbunden zu sein behauptete, so hatten die Priester ringsum noch keine besonders entschiedene Meinung über sie aussprechen mögen. Doch hinderte ein Einschreiten dagegen die hohe Stellung der Gräfin. Auch war, als noch Michahelles allmächtig waltete, von der Residenz des Kirchenfürsten die Weisung gekommen, nichts an den visionären Vorfällen zu stören, sie gehen zu lassen, wie sie gingen, und erst die Ankunft des Domherrn und Archipresbyters von Asselyn abzuwarten, der einen Bericht erstatten sollte. Um so mehr konnte Püttmeyer die Ansicht von bösen Dämonen und von einem unheiligen Zustande bekämpfen. Er that es vollends da, als er hörte, daß Paula vorzugsweise von großen unermeßlichen bunten Ringen sprach, durch welche allemal erst ihr geistiges Auge hindurchdringen müsse, wie durch ein großes, riesig aufgezogenes Perspectiv. Als Armgart ihn zum ersten mal besucht hatte und die Rede von Paula's Visionen war, hatte sie ihm gesagt: Des Magnetiseurs bedarf sie nicht. Der Onkel macht sie durch einfache Berührung hellsehend. Vor Jahren durfte der ehemalige Porteépée-Fähnrich von Asselyn, der jetzige Domherr, nur in ihrer Nähe sein, so fühlte sie den magnetischen Strom armdick, bis er ihr durch die Fingerspitzen wie in glühenden Tropfen abfiel, und was man sie fragte, sah und hörte und las sie. Anfangs sind es immer große bunte Ringe, die sie sieht; dann sind es grüne Wiesen, darüber leuchtet Violett- und Rosaschein und nun begegnet ihr alles, was diesseit und jenseit der Erde lebt; sie sieht die großen Jagdhunde des Onkels, wie die Heiligen Gottes, sieht Tantens verlegte Ueberschuhe, wie König David mit seiner Harfe –!

Thiebold stellte sich dem Doctor selbst vor. Er äußerte im Mäcenatenton seine Freude, einen so »berühmten Dichter« persönlich kennen zu lernen. Benno hatte ihm einige Erläuterungen über den Doctor gegeben und gern hätte er zu ihm à la Piter 72 Kattendyk oder Bernhard Fuld gesagt. Speisen Sie bei mir – Ich habe bereits so vieles Schmeichelhafte von Ihnen gehört und »gelesen«! fuhr er fort. Und besonders von Fräulein Angelika Müller! Haben Sie lang keine Nachricht von dieser Vortrefflichsten? Ich habe immer gerechnet, Ihre Verbindung bald annoncirt zu hören. Herr Doctor, Herr Doctor! Ich sollte meinen, es wäre Zeit –!

Püttmeyer konnte einem so raschen Redestrom nicht folgen, – wodurch Thiebold veranlaßt wurde aufs neue auf Angelika zurückzukommen und den Geist, das Gemüth, vorzugsweise die himmlische Geduld dieser Einzigen zu rühmen – Püttmeyer bestätigte alles das, seufzte tief auf und sagte nur wiederholentlich: Laissez passer! Laissez passer!

Wie so? entgegnete Thiebold mit elegischem Blick und fuhr sich mit den bei Ankunft des vierspännigen Wagens wieder von ihm angezogenen weißen Handschuhen in sein, in Witoborn, wo er mit Benno bei Hedemann wohnte, schön frisirtes Blondhaar und verschluckte eine sentimentale Wendung, die etwa sagen wollte: Auch du mußt dich ja an verklungene Hoffnungen gewöhnen! Denn Armgart war sonderbarerweise auch ihm das nicht mehr, was »sie ihm einst gewesen –«! Ein Räthsel umspann die Freundin, ein Räthsel »glücklicherweise«, konnte er in seiner »Bosheit« sagen, auch für Benno –

Ein Diener trug eben eine sonderbare Last an ihnen vorüber. Es war ein Kissen voll kleiner Gegenstände, wie Nadeln, Ringe, Brochen, Gebetbücher, Rosenkränze, Crucifixe. Der Diener ging damit auf den Zehen in die noch offen stehende Thür, durch welche man Paula in die innern Gemächer geführt hatte.

Auf Püttmeyer's Erstaunen über diese sonderbare, doch wol nicht zum Mittagessen gehörende Schüssel gab ihm Thiebold eine Erklärung. Der Zudrang zu Paula's Wunderkraft nehme 73 immer mehr zu. Zwar verböte Onkel Levinus die Abgabe der hundert Dinge, welche Gräfin Paula nur einmal zu berühren brauchte, um sie heilkräftig zu machen, auch Tante Benigna nähme Rücksichten auf Paula's Gesundheit und Ruhe und dennoch besäße man die Freundlichkeit und »stellenweise« die Schwäche, der Aufregung der ganzen Provinz und den Zeitwirren »Rechnung zu tragen«. Oft hätte in der That ein Schreiber in der Rechenei der gräflichen Güter unausgesetzt nur zu thun mit dem Zurücksenden solcher, förmlich in Foliobüchern notirten Dinge und obgleich der exacte Sinn des Onkels jedem schreiben lasse, er bedauerte diese Gegenstände so zurückschicken zu müssen, wie sie gekommen wären, ließe sich doch der Volksglaube nicht nehmen, daß diese Gegenstände wirklich von der wunderthätigen jungen Gräfin, der Seherin von Westerhof, berührt worden wären. Man empfange ablehnende Antworten und doch wären den Leuten schon die Briefe geweiht und wirkten sogar. Im ganzen Lande stünde fest, daß eine von Gräfin Paula berührte Wachskerze nur angezündet zu werden brauchte am Bette eines Leidenden und alsbald würde sein Uebel verschwinden.

Vor dieser mittheilsamen Suada thaute Püttmeyer auf und er berichtete auch seinerseits Resultate des Armgart'schen Besuchs. Fräulein Armgart von Hülleshoven erzählte mir, sagte er, daß die Comtesse vor allem an sich selbst glaube. Sie sagte mir: Wie sollte sich denn meine Freundin diese eigenthümliche Kraft deuten, die ihr ganzes Sein immer wie aufwärts zieht? Es ginge ja durch ihr Inneres, und das ganz körperlich, manchmal ein Strom quer über den Rücken hinweg, als müßte sie sich beugen und, wenn sie wollte und dabei an Gott dächte, so theilte sich auch dieser Strom und liefe in die Arme und Fingerspitzen aus! Schon als Kind hätte ihre süße Freundin diesen Strom gehabt und oft zu Fräulein Benigna, ihrer Erzieherin, gesagt: Tante, 74 ich könnte mich rückwärts biegen wie ein Ring und so mit dem Kopf auf die Erde kommen! Und einmal – doch ich bitte Sie – Herr Baron –

Bitte recht sehr! versicherte Thiebold und erröthete über seinen »scheinbaren Adel«.

Püttmeyer wollte sich vorzugsweise nur entschuldigen, daß er so viel allein sprach – Einmal, Herr Baron, war Fräulein Benigna, welche die Wirthschaft des Grafen Joseph führt, voll Verzweiflung zu diesem in sein Studirzimmer gestürzt und hatte ihn gerufen, zu Hülfe zu kommen. Da sahen sie Comtesse, so schlank und lang sie bereits war, mit aufgelöstem Haar auf der grünseidenen Decke ihres Bettes stehen, im langen spitzenbesetzten Hemde und hochaufgerichtet sich wider die Wand, dicht zwischen dem Weihwasserkessel, dem Crucifix und dem Bilde ihrer Mutter, anstemmend und gegen die Wand so furchtbar drängend, als wollte sie die Mauer eindrücken –

Thiebold strich sich die Frisur, als fühlte er, wie auch sie sich »vor Horreur« sträubte.

Ja, Herr Baron! fuhr Püttmeyer erregt fort. Fast unglaublich, aber Fräulein Armgart versicherte es. Der Mond stand gerade gegenüber und schien Comtessen ins Antlitz. Comtesse war bei völliger Besinnung und sagte nur immer: Das muß ich so! Damals sprachen die Aerzte, wie ich wol verstanden habe, von der Entwickelung des weiblichen Lebens und konnten nur Vorbaumaßregeln anempfehlen, wenn die Anfälle sich wiederholten. Aber sie kamen wieder mit allen Schrecken von Bewegungen, die oft aller uns geläufigen Gesetze von der Schwere und Centripetalkraft der Dinge spotteten. Das kranke Mädchen konnte sich gegen die Wand abstemmen und in der Schwebe mit ganzer Körperschwere erhalten. Somnambulismus fehlte damals noch. Vielmehr stellte ich in ihrem fünfzehnten Jahr eine 75 starke Reaction des Körpers in seinen Muskeln und so zu sagen irdischern Theilen ein. Der Gang wurde träge, hängend; Comtesse fingen zu hinken an. Nun kamen sie auf die berühmten Streckbetten einer süddeutschen Stadt. Das zweijährige Liegen in einer fast ununterbrochen gleichen Lage schloß ihr die Pforten des Phantasielebens auf und bald trat immer deutlicher – Clairvoyance hinzu. Sie kannte ihren Zustand. Sie hielt ihn so werth, daß sie, wie Fräulein Armgart versicherte, in der Beichte sich der Eitelkeit anklagte. Da ihr Befinden, einige vorübergehende Störungen ausgenommen, kein eigentlich krankes zu nennen war, falls sie sich nur in ihrer gewohnten Weise erhielt, so blieben die Zumuthungen künstlich magnetischer Einwirkungen noch von ihr fern. Sie hatte ihre bestimmten Zeiten des Schlafes, bestimmte Bedingungen, wie den langen Anblick des Wassers, des Metalls, des Schnees, die ihr ein waches Träumen verursachten. Dann durfte nur der Herr Baron von Hülleshoven leise einmal mit der Hand über sie hinwegstreifen und sie antwortete auf jede Frage, die er an sie richtete. Sonst wirkt, hör' ich, alles auf sie, was sie lieb hat, selbst das Anstreifen – ihrer großen Doggen! Sie ist im Bann des Wohlbefindens bei gewissen Menschen ebenso, wie im Bann des Schmerzes bei andern. Hört sie von Hoffnungen, die auf sie gerichtet werden, so nimmt sie ihr Brevier, liest die entsprechende Tagzeit und glaubt, ihr Gebet müßte geholfen haben; wenigstens zöge es sie, sagte Fräulein Armgart, mit ganzer Seele zu den Leidenden hin. Seit einiger Zeit vollends soll die Heilkraft und die Sehergabe außerordentlich geworden sein –

Hier wurde Püttmeyer's förmlich zu Strom gebrachte Rede unterbrochen von demselben Diener, der eilends und erschreckt wieder zurückkehrte, das Kissen mit den Gegenständen von vorhin wieder auf der Hand –

76 Was ist? fragte Thiebold.

Se spreekt! sagte der Diener auf plattdeutsch und eilte bestürzt vorüber.

Sie spricht –? wiederholten beide.

Thiebold, mit jenem Vorwitz, »den auch nur er haben konnte«, zog den Doctor, der sich sträubte, näher, beschritt die offene Thür, kam durch ein Zwischenzimmer, fand wieder eine Thür offen, dann einen schwersammetnen blauen Vorhang, lüftete diesen und ließ ihn plötzlich fallen.

Es war ein kleines Durchgangscabinet, noch vor Paula's Schlafzimmer. Hier lag die Schlafende auf einem Ruhebett und sprach in vernehmbaren Worten.


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