Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

48 8.

Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen! hatte es einst in des Sohnes Brust der Mutter gegenüber gerufen.

Wieder riefen ihm dies Wort wilde Stimmen, aber es waren nur die Stimmen der Erinnerung noch. Schon trug seine Brust zu schwer an tausend, tausend Bürden des Lebens und des Urtheils, zu schwer, als daß ihm noch die alte rigorose Strenge verblieben wäre. Auf Paula vorhin sich niederwerfen, sie durch Küsse aus den Banden der dämonischen Mächte wach rufen – wenn er das gekonnt hätte! Alles hatte ihn gezogen, es zu wagen – Aber er war ein Priester! Nun, bei seiner Mutter, durfte er doch in die friedenbringenden Arme eines Weibes sinken.

Im Vorsaal stand einer der zur glänzenden Livree noch mit Emblemen der Trauer geschmückten Diener des Präsidenten bereit, ihn in das Zimmer zu geleiten, wo ihn seine Mutter erwartete.

Mit überströmender Rührung folgte er dem Diener, der ihn auf den Corridor weiter hinausführte. Die andern Begleiter, die heilige Weihe des Augenblicks erkennend, ließen ihn allein vorschreiten. Der Diener öffnete eine der Thüren, über welchen alte Wappen und Jagdtrophäen hingen.

Bewußtlos, von der Umgebung nichts, selbst nicht sogleich die Mutter wiedererkennend, lag Bonaventura an einem 49 Frauenherzen. Er, der Mann, weinte wie ein Kind. Die Stätte durfte er geweiht nennen, wo er die Thränen über all die Empfindungen niederlegte, die seit dem immer höher und höher sich steigernden Reichthum seiner Lebenserfahrungen sich in ihm ansammelten.

Fast war die Mutter ihrerseits befremdet von einer so weichen Stimmung ihres Sohnes. Sie hatte solche Begrüßung nicht erwartet nach den frühern Zeichen der Abneigung, nach dem strengen Urtheil, das ihr vom Sohn über ihre zweite Vermählung bekannt war. Wußte sie doch eben nicht, wie oft im Menschenleben ein angesammeltes Bedürfniß sowol der Liebe wie des Hasses zu Gute oder zu Schaden kommen kann demjenigen andern, das uns gerade dann zuerst begegnet, so begegnet, daß nur ein geringstes Wegnehmen von des Vorraths schwerer Last in unserer dafür zu eng gewordenen Seele das Nachstürzen auch alles übrigen bedingt.

Frau von Wittekind war eine Frau hoch und schlank wie ihr Sohn. Ihr Haar war noch dunkel. Ihr Auge besaß eine energische Schärfe. Beim Lächeln der Freude, das sich in ihre Rührung mischen durfte, zeigte ihr Mund die wohlerhaltenen Zähne. Das Schwarz ihres Kleides stand ihr, wie wenn sie es nicht minder auch zur Hebung ihrer reinen weißen Haut hätte gewählt haben können. Die Finger waren wohlgerundet. Die ganze Art hatte etwas Vornehmes und abgeschlossen Sicheres. Besaß sie etwas ursprünglich Kaltes, durch die ergreifende Situation wurde es jetzt nicht ersichtlich.

Sieben Jahre! . . . begann sie. Und du, mein Bona, ein Priester! Schon Domherr! – Und doch bist du immer, immer so kalt gewesen – deiner Mutter?!

Schon war Bonaventura gefaßter. Er setzte sich auf ein kleines Kanapee mit der Mutter. Es war ein rings mit alten 50 Landschaftsbildern geziertes, behaglich enges Zimmer. Umher blieb es still und ohne Störung.

In jungen Jahren haben wir immer heroischere Ideen als im Alter! sagte Bonaventura niederblickend.

Nennst du dich schon alt, mein Sohn! erwiderte die Mutter und streichelte die Wange des Erröthenden. Zugleich wich sie dem von ihr angeregten Thema der bisherigen »Kälte« wieder aus.

Vom Onkel Dechanten, von Frau von Gülpen, der alten Renate, von Bonaventura's Hausstand, von Benno war die Rede. Frau von Wittekind lebte in völlig neuen Verhältnissen. hoffte nun aber eine innigere Anknüpfung derselben wieder an das alte Vergangene.

Wird der Präsident auf seinen Posten zurückkehren? fragte Bonaventura.

Nein, mein Sohn! sagte die Mutter. Die von seinem Vater hinterlassenen Güter sind so umfangreich, die Bewirthschaftung ist in den letzten Jahren, wo die Wunderlichkeiten des Alten über alles Maß gingen, so vernachlässigt, daß es Wittekind's ganzer Kraft bedarf, um alles auf der gebührenden Höhe zu erhalten.

Dann gibt er eine glänzende Aussicht auf Staatswirksamkeit auf! sagte Bonaventura. Oft hatte man geglaubt, gerade seine Hand würde stark genug sein, die Regierung der aufgeregten westlichen Provinzen zu übernehmen.

Wir haben darüber ernste Berathung gepflogen, entgegnete die Mutter. Meinem Gemüth widersprach lange schon die falsche Stellung, in welche er seinem Glauben gegenüber gerieth! Mit dem Vorangegangenen wird er brechen müssen und sich dem Geist anschließen, der in diesen Gegenden herrscht. Für mein Herz liegt darin auch eine tiefe Beruhigung!

Soweit ich unsern Volksstamm kenne, wird es einige Mühe 51 kosten, die gegen ihn herrschenden Vorurtheile zu widerlegen! sagte Bonaventura aufhorchend. Zumal, da Herr von Wittekind – »Vater« konnte Bonaventura nicht sagen – in dem Rufe steht, seine frühere Stellung mit voller Ueberzeugung ausgefüllt zu haben.

Wohl! sagte die Mutter. Wittekind ist eine praktische Natur, wie in gewissem Sinn es auch der Kronsyndikus, sein Vater war. Er liebt den Ruhm, vielleicht nur den Ruhm als gerechte Belohnung seiner Thätigkeit. Doch gibt er mir, soweit es geht, in vielem nach. Schon lange litt ich unter seinem Eifer für Administration und Beamtenthum. Jetzt hat er eine entsprechende Beschäftigung und wird, soweit ich ihn kenne, mit Behutsamkeit einlenken auf die neue Bahn, die auch seinem Gemüth eine größere Ruhe gewähren muß. Denn ebenso gut und weich kann er sein, wie er großmüthig und aufopfernd schon zu allen Zeiten war –

In den letzten Worten lag eine rechtfertigende Erinnerung an Bonaventura's Vater, dessen Flucht, dessen Tod.

Als Bonaventura schwieg, nahm die Mutter diese Erinnerung von selbst auf. Sie ergriff des Sohnes Hand und sprach mit einer Fassung, die, in dieser Art bereits nach der ersten Rührung des Wiedersehens kommend, überraschen konnte: Du bist reifer geworden, mein Bona! Du hast die Welt schon in anderm Lichte gesehen, als damals, wo dir der Eindruck meiner Wiederverheirathung so befremdlich war! O nenne mich keine Schuldige! Beurtheile mich nicht so hart, wie der gefangene Kirchenfürst, der damalige Generalvicar, der Wittekind haßte, weil er zu den Organen der Regierung gehörte! Als wir von der nahen Auflösung des Kronsyndikus hörten und damals schon hierher reisen wollten, besuchten wir den strengen Mann in seiner Festungshaft. Von einem Spaziergang auf den Wällen war er zurückgekehrt 52 und eben wollt' er die Tabackspfeife, die er unbekümmert um den Brand, den er angezündet hat der Christenheit, immer noch frohgemuth fortraucht, wieder füllen, als ihm der Vater – Wittekind und ich gemeldet wurden. Dieser Besuch mußte ihn nicht wenig überraschen. Ich hatte Sie in andern Beziehungen wiederzusehen erwartet, Herr Präsident! sagte er, als er staunend unserm Beileid zugehört. Dieser Schritt wird Sie in eine schiefe Stellung bringen, wenn anders Sie mich nicht als ein Bevollmächtigter der Regierung besuchen! . . . Wir benahmen ihm diese irrthümliche Voraussetzung und erklärten, daß wir gedachten Frieden zu schließen mit denen, mit welchen uns Geburt, Abstammung, gleiche Ueberzeugung in eine Reihe stellten . . . Er erwiderte: Es wird vielen so gehen, daß sie zur Erkenntniß kommen, und darum preis' ich mein Loos und will es gern ertragen. Ich bin zum Eckstein geworden! Die Bauleute wollten mich verwerfen; aber über mir wird ein neues Gebäude errichtet werden! Ein segensreiches, und vielleicht für ganz Deutschland. Er entließ uns gütig. Deiner gedachte er mit der mein ganzes Mutterherz überwallenden Prophezeiung, daß dich Gott zu großen Dingen erlesen hätte. Schon wär' es im Werke, dich als Gesandten der Curie nach Wien zum apostolischen Nuntius zu schicken. Du staunst darüber? . . . Das wußtest du noch nicht? . . . O. ich erkenne deine ganze Natur . . . in deiner Bescheidenheit! . . . ein Sohn! Mein, mein Sohn! . . . So sei auch versöhnt und nimm die Vergangenheit so licht und rein, wie dort drüben der schöne Sonnenstrahl glänzt über dem blendenden – Schnee!

So zart und doch wieder so klug und gewandt in ihrer Denk-, Rede- und Gefühlsweise stand für Bonaventura die Mutter gar nicht mehr in seinem Gedächtniß. Wie hatte sich bei ihr das Vergangene so ganz verwischt! Ihm kam bei dem Bilde 53 des Schnees, das sie brauchte, sofort die Erinnerung an den Tod seines Vaters. Mit Bezüglichkeit wiederholte er: Ueber dem blendenden Schnee! . . . Erst allmählich verstand die Mutter die Wiederholung und Betonung, seufzte dann tief auf und fuhr fort: Die gnadenreiche Mutter sei mein Zeuge, daß ich an einen Abgrund erst geführt wurde durch die Umstände, nicht durch meine eigene Schuld! Die Worte des heiligen Sakraments der Ehe sagen: »Und er soll dein Herr sein!« Dies Wort, mein lieber Sohn, ist nicht darum allein gesagt, daß ihrem Gebieter die Gattin gehorsame, es ist darum auch gesagt. daß der Gebieter ihr ein wirklicher Herr sei. Jede Frau hat das sehnsüchtige Bedürfen, in ihrem Manne wirklich den Führer, den berathenden Freund, ja in zweifelhaften und schwierigen Fällen den befehlenden Herrn zu besitzen. Mir war das dein Vater nie. Im Gegentheil: ich, ein älternloses Fräulein – Besitzthümer hatten die Wehrförders, mein Geschlecht, nicht und meine Erziehung war unvollständig – ich wurde für ihn der Gebieter. Nicht durch Laune oder Neigung zum Herrschen, nein, nur durch die Umstände, die ihn unfähig machten, selbst das Ruder zu führen. Diese Asselyn sind ein herrliches, edles Geschlecht; es ist schmerzlich, zu sehen. daß dieser alte Friesenstamm aussterben muß – Benno kann doch nur den Namen fortführen. Franz, der Dechant, ist die Herzensgüte selbst, aber wie leichtsinnig war er! In seiner Jugend war er fähig die Bahnen jener Geistlichen zu wandeln, die in Frankreich den Untergang der Religion verschuldet haben. Der zweite, Max von Asselyn, Benno's Adoptivvater, war ein tapferer, ritterlicher Held, ein Offizier von seltener Bravour, aber durchaus so abenteuerlich, wie dies nur in unserm träumerisch eigensinnigen Volksstamm liegt. Was er unternahm, erschien befremdend. Bracht' er wol aus dem Kampf, wie andere, gerechte und nach Sitte 54 erworbene Beute mit? Aus Spanien sah ich viele deutsche Offiziere, die dort unter Napoleon kämpfen mußten, sie kehrten mit mancherlei merkwürdigen Dingen heim. Ein Wehrförder, Vetter von mir, brachte, aufgerollt wie Landkarten, aus einem Kloster alte Bilder mit – er hat sie zu enormen Preisen verkauft. Max brachte entweder von einer Nonne oder einer – man sagt in seinen Armen gestorbenen – Geliebten einen Sohn mit – Benno, den er wenigstens sein nannte, wenn in das Dunkel, das deinen Vetter umgibt, nicht noch ein völlig anderer Lichtstrahl fällt und Max nicht einmal Benno's natürlicher Vater ist. Der dritte Asselyn, Friedrich, mein Gatte, glich den andern nicht an Leichtsinn, aber an leichtem Sinn. Die Verlockung der Welt that ihm nichts, aber die Zerstreuung alles. Nichts wurde bei ihm zum festen Vorsatz; eine Sorglosigkeit, die ihm an sich liebenswürdig stand, machte ihn zum harmlosesten Kostgänger der Schöpfung. Ja, mein Sohn, was Fritz sein nannte, gehörte sogleich auch allen. Jede Schuld, die ihn drückte, bezahlte er in dem Augenblick, wo er konnte, uneingedenk, daß ihn sein guter Wille in neue Verlegenheiten stürzte. Die drei Brüder thaten ihr geringes Erbe zusammen, damit es Max bewirthschaftete. Dieser verband sich dazu mit einem jungen Oekonomen, Hedemann, einem Bauernsohn. Die Nachwehen des Krieges waren verderblich; 1817 war ein Hungerjahr. Max starb. Die Verlassenschaft wurde von den beiden Brüdern verkauft und damit nur ein Käufer, der sich fand (es war der jetzt so heruntergekommene Rittmeister von Enckefuß), dazu erschien, borgten sie wieder selbst – für diesen bei andern! So geschah alles, um – hier nichts zu haben und dort nichts. Nun gehört alles Unsrige hier den Münnichs. Wie gesagt, gute Menschen diese Asselyns, aber –! Sieh, dein Vater wurde Regierungsrath. Sein Gehalt war gering. Er verschwendete nichts, doch die Unregelmäßigkeit seiner 55 Berechnungen stürzte ihn aus einer Verlegenheit in die andere. Der jetzige englische Oberst von Hülleshoven, ebenfalls ein Sonderling, jünger als dein Vater, schloß sich ihm damals an, theilte ihm Liebhabereien mit, wie sie hier noch jetzt dessen Bruder in den Thürmen dieses reichen Schlosses nach Wohlgefallen verfolgen kann; denn Dem bezahlen die reichen Dorstes seine Thorheiten. Dein Vater ging ebenso mit Begeisterung auf alles Neue ein; er würde sich und seine Familie zu Grunde gerichtet haben ohne einen endlich denn doch wohlthuender wirkenden Freund, als jene Hülleshovens waren. Ein solcher wurde ihm Friedrich von Wittekind. Bald wurde der der Zahlmeister des Hauses. Dein Vater verwies mich, um mit ihm zu rechnen, selbst an ihn! Wie sie beide Friedrich hießen, so wurden sie fast Eine Person für mich! Dein Vater war im Stande, die Thür zu öffnen und zu sagen: Ah, ihr seid es! Ihr rechnet! Ich störe euch? . . . Wir saßen allerdings und rechneten. Ehrgeizig war ich und mochte nicht, daß auf unserm Hause ein Makel haftete. Das, das, mein Sohn, ist ein höchst gefahrvoller Zustand für ein weibliches Herz! Ein Weib ist bedürftig der Liebe, gewiß! Aber ebenso sehr will sie auch die Werthschätzung der Menschen. Und noch mehr, sie will Hochachtung vor ihrem Mann empfinden. Die geregelte Ordnung ist für ihren Sinn etwas Unerläßliches. Ich gestehe, ich wurde wohlthuend berührt, wenn ich Wittekind nur eintreten sah, ihn, der damals nicht eben viel hatte, der mit seinem zu jener Zeit höchst geizigen Vater in stetem Kampf lebte und selbst kaum das Nöthigste erhielt, während, wie nur leider jetzt zu erwiesen ist, doch gleichzeitig die größten Summen fortgingen, um die Folgen des frühern Leichtsinns jenes Gewaltthätigen zu verdecken; die jetzt offen liegenden Papiere seines Nachlasses gewähren grauenhafte Einblicke in seine moralischen Verschuldungen – Kurz, mein Sohn, die Augenblicke, die ich 56 im Anfang meiner Ehe, dich unterm Herzen, dann dich auf meinen Armen tragend, auf dem kleinen Hof Borkenhagen zubrachte, wo du geboren und getauft wurdest – Gott, noch immer steht mir der damalige Pfarrer Leo Perl, ein getaufter Jude, vor Augen! – diese Augenblicke, sag' ich, waren die glücklichsten meiner Ehe! Als dann diese Besitzung in andere Hände kam, ich in der Stadt bleiben mußte, dein Vater aus Schulden, aus Wuchernoth nicht mehr herauskam, da wurd' ich moralisch – das Weib seines Freundes, der ihm helfend zur Seite stand –! Alles war Wittekind, alles entschied der. Der rechnete, der sorgte. Reisen, die dein Vater machen mußte – Dienstreisen; er hatte die damalige Regulirung der Klöster, die Einziehung herrenlos gewordener geistlicher Bibliotheken und Archive unter sich – wiesen mich auf Monate ganz an Wittekind. »Laß dir doch von Fritz geben!« hieß es in den Briefen . . . Guter Sohn, Asselyn erkannte diesen gefährlichen Zustand erst, als es zu spät war. Ich hatte mich an den Freund, der Freund hatte sich an mich gewöhnt. Nimm an, mein Sohn, du säßest im Beichtstuhl und hörtest das Bekenntniß einer beladenen Seele . . . Denn eine Last trag' ich allerdings, eine schwere Last, eine kummervolle, die mir die Ruhe meiner Nächte raubt! Ach, Asselyn entfernte sich ohne Zweifel nur deshalb – – um den Freund und die Gattin glücklich zu machen! Fast muß ich ja glauben, daß der Gute, um uns in unserm Bunde nicht zu hindern, sich selbst den Tod gegeben hat!

Die vielleicht noch größere Strafe, der Mutter zu sagen: Und wenn mein Vater noch lebte? Wenn ihn soeben Gräfin Paula im Thal von Castellungo als Eremiten und den Freund glücklicher Hirten und Ackerbauer gesehen hätte –? Bonaventura besaß den Muth nicht, diese Strafe der Mutter aufzuerlegen, so sehr ihn die klare, schneidende, vernunftbewußte 57 Selbstrechtfertigung der noch immer anmuthigen Frau herausforderte, so sehr ihm der Vater entgegentrat gerade in der ganzen Liebenswürdigkeit seines träumerischen, von einer solchen Gattin nicht verstandenen und sicher so nicht, wie verdient, beglückten Sinnes. Doch auch die Schwäche besaß er nicht, der Mutter die Vorstellung etwa von einem Selbstmord des Vaters gänzlich auszureden. Und sie schien es sogar gern zu hören, daß sein Vater, wenn auch durch Selbstmord – wirklich todt war – Meinst du nicht? fragte sie halb zagend, halb zuversichtlich.

Ich glaube es! war seine Antwort.

Die Mutter stand auf. Ihre Haltung schien sagen zu wollen: So müssen wir uns denn Fassung geben, eine sichere Genugthuung durch die Religion.

Die umsichtige Frau bat den Sohn, einige Tage auf Schloß Neuhof zubringen zu wollen, sich inniger dem Präsidenten anzuschließen, ihre Aussöhnung mit dem Geist der Gegend zu unterstützen, die Opferspenden zu vermitteln, die auch sie bereit wären überall zu geben, wo dadurch ihr guter Wille in das rechte Licht träte. Endlich sagte sie noch: Wittekind wird mannichfachen Rath und Beistand in seinen verwickelten Angelegenheiten bedürfen. Er war zweifelhaft, ob er sich deshalb an Benno wenden sollte. Ich rieth ihm dazu. Doch zöge er dein Urtheil vor, sagt er. Wer ist hier dieser Herr von Terschka, von dem ich soviel reden höre?

Der Bevollmächtigte des Grafen Hugo von Salem-Camphausen, des Erben der Güter der im Mannsstamm ausgestorbenen Dorstes.

Ein geschäftskundiger, kluger Mann hör' ich –

Ein vielseitiger, gewandter wenigstens –

Ein Jude, der Gütermakler Seligmann, rühmte ihn uns. Ich 58 höre, Benno macht den letzten Versuch, die Rechte des Grafen Hugo anzuzweifeln . . .

Das wäre nur möglich, wenn eine Urkunde entdeckt würde, die erst dem Dorste'schen Familienstatut Kraft geben soll, wenn die Erben unsere Religion bekennen. Sie fehlt und wahrscheinlich fehlt sie nur deshalb, weil sie nie ausgestellt wurde –

Es sind, sagte die Mutter, viel Urkunden in jener Zeit verschleppt worden, als, nach Uebergang dieser Lande in westfälische und dann in unsere Herrschaft, die geistlichen Stifter und so viele Klöster eingingen! War zufällig ein Pergament besonders schön geschrieben, so schickte es dein Vater in das Museum der Hauptstadt, in die Bibliothek des Königs. Dort fand ich schon manchen herrlichen Schatz wieder, den uns Asselyn vor Jahren gezeigt hatte, wenn er heimkehrte aus Witoborn oder sonst einer geistlichen Gegend.

Bonaventura's Gedanken mußten wol auf Bickert, den Leichenräuber, gerichtet sein –! Zwei drückende Vorstellungen: Die gefälschte, hier vielleicht auf diesem Schlosse bei einem Mordbrand einzuschleppende Urkunde und Lucindens Eroberung aus dem Sarge in St.-Wolfgang –! Beichtgeständnisse, die er nicht verrathen durfte! Sie machten ihn zum Mitleidenden – zum Mitschuldigen.

Die Mutter sah seine Abwesenheit. Sie bemerkte mit gedämpfter Stimme: Besonders ist Wittekind in eine Sache verwickelt, die nur innerhalb der geistlichen Sphäre bleiben soll! Ich kenne sie selbst nicht vollständig. Sie hängt mit einer großen Verirrung des Kronsyndikus zusammen und reicht sogar in ihren Folgen bis nach Rom. Auch der Onkel Dechant zu Kocher am Fall soll eine Schuld dabei zu tragen haben. Oft schon hab' ich gedacht: Hinge damit wol Benno's Herkunft zusammen? Aber wie er als Kind schon nicht dem Onkel Max ähnelte, so noch weniger dem Onkel Franz – Wittekind schüttelt darüber vollends den Kopf. Nun, ich werde ja auch Benno wiedersehen und mit 59 ihm plaudern können! . . . Wir müssen jetzt zur Gesellschaft, Bona! Ich erbebe, die junge Gräfin zu sehen, die so seltsame Zustände hat! Eben jetzt lag sie, wie ich höre, im Hochschlaf? Ich zittere vor Beklemmung! Was sah sie denn nur?

Ein Bild der Phantasie! sprach Bonaventura mit stockendem Athem zur Mutter, die schon ganz wieder in das gewohnte Geleis ihres Lebens zurückkehrte. In Gedanken verloren, hatte er der letzten Rede seiner Mutter schon nur noch halbe Aufmerksamkeit geschenkt und nur zur Andeutung, daß Benno des Dechanten Sohn sein könnte, gelächelt. Mutter, hätte er fast gesagt, wie wenig würde dieser Edelste Anstand genommen haben, Benno die frischen Wangen zu klopfen, ihm seinen schwarzen Bart, sein lockiges Haar zu zupfen und zu sagen: Junge! »Nichten« haben wir genug in der Dechanei gehabt, aber noch nie einen so echten »Neffen«, wie du! Das ist eine falsche Fährte! Nun aber gingen beide aus dem Zimmer und wandten sich nach vorn. Die Mutter hängte sich in den Arm ihres Sohnes. Man sah, daß sie sich beide äußerlich angehörten. Den Wuchs und die hohe Gestalt hatte Bonaventura von dieser klugen und vorsichtigen Frau; das Herz vom Vater. Sie sagte: Mein Heiliger! zu ihm, lächelte und trat mit ihm in den Vorsaal.

Eine Weile währten die Vorstellungen und Begrüßungen und dann zerstreute sich alles. Bonaventura blieb bis zum Mittag. Paula erschien, als wäre nichts gewesen.

Onkel Levinus und Tante Benigna wurden inzwischen von einer andern Gedankenreihe in Anspruch genommen und thaten geheimnißvoll. Frau von Sicking hatte ihnen geschrieben. Viel hatten sie geflüstert und gerade am meisten, wenn Armgart nicht im Zimmer war. Diese merkte bald, daß etwas nur auf sie Bezügliches im Werke war. Als sie den Namen der Stiftsdame Tüngel-Appelhülsen flüstern hörte, die sich oft der 60 Bekanntschaft mit ihrer Mutter gerühmt hatte – sie war die zweite Partie, die Jérôme von Wittekind hatte machen sollen und war damals nur durch den »Calfactor« Türk und den Zorn ihrer Mutter über ein verdorbenes Kleid darum gekommen –, sagte sie geradezu: Meine Mutter ist da!

Die Tante fuhr sie darüber heftig an. Armgart schwieg. Aber jetzt bekam auch Terschka durch einen Expressen aus Witoborn einen Brief und empfahl sich so rasch, daß er nicht einmal bis zum Ende des Mahls blieb. Armgart saß darauf besinnungslos. Noch ehe die Tante sich zu ihrem gewohnten »Nicker« eingerichtet hatte, war sie bereits verschwunden. Lange nach ihr zu suchen war man nicht gewohnt. Fehlten ihr vielleicht noch zu ihrem »Vielliebchen« Nähseide oder Perlen, so ging sie, das wußte man wol, zu Fuß nach dem Stift und scheute die einsame Wanderung von fast zwei Stunden nicht. Onkel und Tante fuhren nach dem Kaffee in der That mit eigenthümlichem Geheimthun zu Frau von Sicking und ließen Bonaventura mit Paula allein.

Allein, allein – zwei Seelen, die sich lieben!
Allein, allein –! Wenn auch der Liebe Ja,
Der Liebe Frageblick nur stumm geblieben –
Allein, allein – doch ist der Himmel da!

Bei allen andern würde es nach Jahren geheißen haben: Weißt du noch, damals an jenem Nachmittag – im grünen Zimmer? – Wir sprachen vom Wetter, besahen Kupferstiche – Da rief ich plötzlich: Himmel. wie voll blühen die Hyacinthen! . . . Ich zählte ihre Glocken, weil ich Angst hatte, wir würden uns beim Besehen der Bilder zu nahe anstreifen. Und ich glaube gar, dennoch stellte ich mich kurzsichtig, nur um dein goldenes Haar mit der Stirn zu berühren! O, wie Feuerglut war es in meinem ganzen Sein –! Du, du wußtest, jetzt ist all der Stoff erschöpft, jetzt ist die Unbefangenheit im Gespräch 61 vorüber – im Gespräch über was nicht alles – ich glaube über die alten Krater feuerspeiender Berge bei Kocher am Fall, über die byzantinische Baukunst, über die Philosophie Püttmeyer's! Gleich hattest du etwas anderes; auf die Musik die Bücher, auf die Bücher die Natur, auf die Natur die eben hereingebrachten Zeitungen! Und du erschrakst nicht einmal. als vom Diener an die Thür geklopft wurde . . . So tändelten wir den Tag bis zum Abend, bis zur süßesten Dämmerstunde, wo endlich mein Auge kein anderes Licht begehrte, als dasjenige, das in deinen Augen strahlte, endlich ich auch ganz so tollkühn das sagte, ganz so ein Wort vom »Licht in deinen Augen« – Da erbebtest du, du brachst zusammen und all deiner List und Fassung zum Trotz lagst du doch in meinen Armen –!

Armer Priester . . . . Diese Stunde schenkte dir der Himmel. Er gab sie in ganzer, in seligster Fülle! Noch mehr. Er rief an diesem Nachmittage Paula nicht in die Sterne zurück, ließ sie nicht wachend träumen, nicht mit geschlossenen Augen sehen. Sie blieb auf der Erde, in deiner Nähe, im lebendigsten, wärmsten Anhauch deines Athems – Und du erstauntest sogar, daß Paula nicht entschlummerte, obgleich an ihrem seidenen Kleide deine Hand hinfuhr. oft auch – zufällig? – wirklich sie selbst berührte – Du durftest dir sagen: Dir, dir ist sie beschieden. Du würdest sie durch die Liebe erlösen können von all den magischen Banden, die sie gefesselt halten! . . . Gott wollte die Ehe und wollte gerade die Deine mit ihr! . . . Alles, alles traf ganz so zu – Auch bis zur Abenddämmerung, bis in die erste Stunde nächtlichen Dunkels hinein hattet ihr das volle selige Glück des Alleinseins –! Und dennoch, armer Levit, was durftest du wagen? Was hoffen zu gewinnen? Gingst du am Flügel vorüber und lehntest die Epheuranken zurück, die den goldgerahmten Spiegel beschatteten, so sahst du – deinen langen 62 Priesterrock! Sahst du in die geöffnete Kupferstichmappe und prüftest das Zeichen des alten Meisters, das unter dieser Radirung, unter jenem Holzschnitt versteckt und unleserlich stand, so mußte dir erinnerlich werden, daß an deinem vorgebeugten Haupte Paula bemerkte, wie dir die Schere die Mitte deines schönen Haares geraubt! Dem Schicksal konntest du sprechen: Des reinen Herzens Natur ist es, nicht alles zu wollen und viel entbehren zu können; aber auch allzu grausam nimmst du uns beim Wort, Verhängniß, und gewährst uns – wirklich nichts! Paula's Wesen mußte Bonaventura ohnehin zu entweihen glauben durch eine zu stürmische Werbung. So unterblieb denn alles. Situation und Wille. Charakter und – die Liebe selbst schmiegte sich unter die Tyrannei des Gelübdes.

Aber er war allein, allein – mit ihr! Wie bestrickend schon, wenn Paula sich selbst über das beurtheilte, was an ihr die Welt so voll Andacht bewunderte! Sie hätte eine Heuchlerin sein können, ohne daß man es merkte; sie war es nicht. Sie hätte eine Despotin sein können, ohne daß man es merkte; und sie war es nicht. Sie war willenlos, eine durch sich selbst und durch andere Gefangene. Und so galt Bonaventura ihre Liebe auch nur, wie sich ein Priester lieben lassen darf – in Andacht, in geistiger Schwärmerei. Sie hatte – wie eben diese Erziehung ist, die von Schiller und Goethe nichts weiß – nicht viel gelesen, nicht viel gesehen. Sie konnte über ihren Kreis hinaus an schwierigen geistigen Dingen nicht lange theilnehmen; sie stand bescheiden zurück, allem Höheren nur im Zustand jungfräulicher Ueberraschung. Aber diese Weise stand ihr hoheitsvoll. Zu ihren Füßen sproßten Lilien, ihr Haupt trug eine Himmelskrone, ihre Schultern bedeckte ein himmelblauer Mantel mit goldenen Sternen. Nur daß sie das alles nicht von sich selbst wußte. Sie konnte lachen und weinen mit Armgart, furchtsam 63 sein mit Tante Benigna. mit dem Onkel Levinus an die Möglichkeit, Gold zu machen, glauben. So hatte sie gelebt . . . Nun aber wuchs ihre Kraft mit Bonaventura's Nähe. Sie fing an, sich über sich selbst Rede zu stehen. Sie trat seit seiner Ankunft in allem und jedem mit festerm Willen auf. Das zu wissen beglückt ein zagendes Herz ohnehin und gibt ihm Muth, sich über das Geheimste wahr zu sein. Wie Liebe so stark macht –! Paula fühlte es mächtig. Sie hätte heute vielleicht zu ihrer Absicht, ins Kloster zu gehen, gedankenlos nein! vielleicht – ja! sagen können. Sie konnte alles, konnte selbst ein Gelübde ablegen und vielleicht es – betrügen, wenn Bonaventura sie an sich gezogen und ihr mit einem Kuß den Muth – seines Lebens gegeben hätte.

In diesem stillen Zimmer, durch dessen Scheiben eben das Abendgold floß, unter diesen Epheuranken, deren grüne und welke Blätter den Priester an einen andern Abschied, den von Lucinden, erinnern mußten, über die Saiten eines geöffneten Flügels hin, dessen Resonanz von der Berührung jedes noch durch die Zimmerwärme am Leben erhaltenen Insekts leise erbebte – standen sich zwei Menschen gegenüber, von der Natur zum gegenseitigen Besitz bestimmt. Aber Gregor VII. streckte den Arm dazwischen. Seitdem Hildebrand regierte, durften die Priester nicht heirathen. Wo ist da die Verklärung der Weiblichkeit, die doch die Marienbilder in der aufgeschlagenen Kupferstichmappe verherrlichen wollen, diese Bilder, die einst Bonaventura, Lucinden gegenüber, selbst so begeistert gedeutet hatte! Vom Weibe verunreinigt wird der Priester? Sein Opferdienst am Altar in den gestickten Kleidern vergangener Jahrhunderte muß ihn geschlechtlos machen? »Wir sind die Eunuchen des himmlischen Hofstaats!« sagte ihm schon oft der Onkel Dechant. »Trügen wir eine reine Liebe zu einem Weibe im Herzen, unsere Hand würde ja unrein, den Kelch zu 64 berühren! Unrein, um die Oblate zu segnen! Die Nähe des Weibes zerstört die Kraft des Opfers. Und wenn wir auch gestern beichteten, daß wir die thierische Natur mit aller Entfesselung der Leidenschaften zu gemeinster Berührung ausgetobt haben: diese Sünde ist uns heute vergeben, hat keinen Einfluß auf die Reinheit unsers Opfers! Nur keine reine, nur keine dauernde, offene Liebe zu einem Weibe im Herzen und so an den Altar getreten. Gatte, Vater – wie kann eine gebundene Hand noch die Geheimnisse der Wandlung vollziehen. Frauenwürde, so denkt Rom über dich!«

Eines der Marienbilder nach dem andern vergegenwärtigte Bonaventura den Abschied von Lucinden. Schon öfters hatte Paula nach ihrer frühern Gesellschafterin gefragt, Bonaventura einsilbige Antwort gegeben. Benno, Thiebold und Terschka rühmten Lucinden. Jetzt glich ihr sogar eine der von den Künstlern meist so willkürlich erdachten Madonnen und Paula sagte dies. Bonaventura blieb die Antwort schuldig. Paula fuhr fort: Denken Sie sich, wie ich damals nach Westerhof zurückkehrte und von Lucinden sprach, kannte sie hier jedermann! Ja ich hatte sie selbst schon, als Kind, gesehen, wie sie auf Neuhof wohnte und eines Tages dort auf einem goldenen Kahne ruderte! Als die Leute lachten, flüchtete sie in einen Taubenschlag! Sie wußte es damals, daß ich aus dieser Gegend war, und nie verrieth sie ihre Bekanntschaft mit dem Kronsyndikus oder mit dessen Sohn oder mit dem Landrath oder mit dem Mönche Sebastus, dem jungen Doctor Klingsohr, der, wie man sagt, um ihretwillen die Religion wechselte und ins Kloster ging. Sie ist jetzt in Ihrer Stadt und – Sie sehen sie oft?

Ich lebe nur für dich, Paula – . . . In Bonaventuras Herzen riefen das tausend Stimmen. Die Lippen sagten nur –: Zuweilen seh' ich sie –!

65 Arglos fuhr Paula fort: Auch sie war damals erst katholisch geworden! Alles das wußte niemand! Aber hatt' ich Furcht und Angst vor ihr! Wissen Sie noch, sie konnte bereits Latein, als ich Italienisch mit ihr lernte!

Du aber sprichst in Zungen der Engel! riefen wieder die Stimmen in Bonaventura; doch er nickte nur still bejahend.

In der Mappe sahen beide einen Holzschnitt der altdeutschen Schule, wo in Hause des Lazarus Jesus verweilt und Maria Magdalena ihm die Füße wäscht. Dies kleine Bild, voll Wahrheit und Lieblichkeit, ließ beide eine Weile verstummen. Beim Umschlagen der Blätter ruhte Paula's Hand dicht, dicht an der seinen. Er fühlte die elektrischen Tropfen, von denen Paula im Schlafe behauptete, sie glitten ihr aus den Fingern und verlöschten auf dem Boden. Ihm verlöschten sie im Blut seines Herzens. Warum ergriff er nicht die sanfte, weiche Hand? Warum stieg er nicht auch mit ihr in den goldenen Nachen des Ideals, den sie würdiger lenkte, als einst Lucinde jenen goldenen Nachen, in welchem sie sich, auf dem Teich des neuhofer Parks, in ein »Taubenhaus« flüchtete!

Paula sagte: Wissen Sie wol, daß ich oft Sehnsucht habe, Lucinden wiederzusehen? Ihr Geist war hart und grausam, aber stark. Sie konnte Muth einflößen, wie ein Mann. Auch unterbrach sie mein Leiden und ließ mich sein wie andere sind . . .

Aber mit den größten Schmerzen! schaltete Bonaventura ein.

Ich litt dabei, das ist wahr! sagte Paula. Die Aerzte meinten: Sie hob die Nervenströmung auf. Ich hatte tödtliche Schmerzen in ihrer Nähe! Alles that mir wehe – jedes Wort, jede Bewegung von ihr! Aber ich sehne mich dennoch – ach! – ich sehne mich heraus aus diesem – Doppelleben!

In das Eine, Eine Doppelleben der Liebe! . . . Auch das riefen wieder die Stimmen in Bonaventura und die Arme thaten 66 sich auf, um Paula zu umfangen, sie an sich zu ziehen. Aber doch sprach er nur schüchtern: Was bekümmert Sie jetzt so daran?

Sonst schon war es Paula's Klage: Der Hochmuth! Die Selbstüberschätzung! Auch jetzt wiederholte sie diese »Furcht vor sich selbst« . . .

Bonaventura sprach: Stolz sein auf das, was uns die Vorstellung einer größern Vollkommenheit unserer selbst gibt, das ist keine Sünde. Jesus nannte sich – den Sohn Gottes! Aber – auch Trübsale werden Sie haben! Wissen Sie, daß Ihre heutige Vision Anstoß erregte? Als ich mit meiner Mutter zur Gesellschaft zurückkehrte, war man befremdet, daß Sie mit Theilnahme bei einem Bilde verweilten, wo Sie einen Gottesdienst sahen, bei welchem der Kelch – von Allen getrunken wird!

Was sah ich denn? fragte Paula träumerisch und erhob geisterhaft ihr Haupt.

Herr von Terschka behauptete, einen Eremiten, der in der Nähe des piemontesischen Schlosses Castellungo die Landbewohner zu einem Gottesdienst versammelt, zu einem Cultus, der wahrscheinlich dort unter dem Schutz der Gutsherrin, der Gräfin Erdmuthe, steht!

Ich verweile oft bei jenem Schlosse! sagte Paula. Man hat mich schon gefragt, ob ich nicht in Salem, nicht in Castellungo eine Urkunde entdecken könnte, die so emsig von den Feinden der Salem-Camphausen gesucht wird. Benno erzählte von dieser Urkunde; auch Terschka, obgleich dieser nur mit leicht erklärlicher Zurückhaltung und Abgeneigtheit. Noch immer wird diese Urkunde gesucht. An Benno hat Procurator Nück geschrieben, er möchte noch einmal, in Gegenwart Terschka's und des Onkel Levinus, die Archive von Witoborn und Westerhof durchsuchen lassen. Beide sind dazu auch bereit . . . Und so verläßt mich, seh' ich, die Angst der Seele selbst in meiner Traumwelt nicht. 67 Sie zeigt mir wider Willen die Gegenden, wo – mein Schicksal entschieden wird –!

Ihr Schicksal –? Paula –! Welche Zukunft fürchten – Fürchten? Nein, welche – hoffen Sie denn?

Diese Worte sprach Bonaventura wirklich. Sein Innerstes wogte im Brand der Liebe und – der Eifersucht. Nichts, nichts mehr hielt er jetzt zurück von der Saat seiner Thränen, die seit Jahren in den einsamen Stunden der Nacht und der Verzweiflung aufgegangen war. Seine Augen leuchteten. Seine Arme erhoben sich. Ein Frühling des reinsten, göttlichsten Menschenthums schien um ihn her zu blühen und zu sprießen. Er bebte, schwankte.

Und auch Paula zitterte. Eben noch waren ihre blauen Augen hell aufgeschlagen und blickten, den Augen einer Seherin gleich, gen Himmel. Jetzt senkten sich die langen schwarzen Wimpern. Aber ach, nur Katharina von Siena war es, die Heilige, die vor Bonaventura stand. Sein zages, nazarenisches Herz erinnerte sich schon wieder: Dieser Blick gilt dem Himmel, dem Kloster! Er gilt deinem Stande –!

Doch so beherrschte er sich nur einen Augenblick. Bald fühlte er neubelebende Wonne, eine Wonne seltsamster Glut, seltsamster Gedanken, seltsamster – Verirrungen sogar! Franz von Sales stand vor ihm, jener Heilige, vor welchem ja einst auch eine Frau von Chantal kniete. Eine Gattin, eine Mutter verließ ihre weltlichen Lebensbeziehungen, um dem Heiland zu dienen, dessen – einziger Apostel dieser Bischof von Genf ihr erschien! Und auch dieser nannte sie seine Philothea. Wo ist die Grenze der göttlichen Andacht und der Anfang menschlicher Liebe zu den Briefen, die beide sich geschrieben haben? Ihr Gebet ging vielleicht wirklich empor zu Gott, doch sie beteten zusammen! Sie stiftete ein Kloster, er hütete es. Sie starb, Franz von Sales 68 segnete den Sarg. Sein Inhalt verweste nicht. Nach hundert Jahren öffnete man ihn. Da war alles Asche. Nur das Herz war unversehrt geblieben. Dies Herz – kann es geirrt haben in jenem Irrthum, gelogen in jener Lüge? Paula, Paula meine Sinne schwindeln – solltest du mir wol gar gehören können gerade, gerade – durch den geistlichen Stand –?

Das war ein furchtbarer, frevelnder, romgeborener Gedanke, ein Gedanke der Sünde, der Lüge gegen Natur und Gelübde. Aber dieser Gedanke – und sollten die Donner um ihn her rollen und Blitze zucken – durchzitterte ihn dennoch. Seine Pulse flogen, seine Lippen bebten; schon wagte er das bedenklichste aller Worte, das er in solcher Stimmung nur sprechen konnte: Paula – wenn sich – die Urkunde – fände – wenn Sie dann, wie man allgemein glaubt – sich entschließen müßten – wirklich Ihre Hand – einem Manne zu geben – der doch nur – aus Standesrücksichten –

Diese Worte eben hatte Paula abwehren wollen. Sie wollte sie abwehren fast wie verkörperte Wesen, die schon eine Handbewegung zurückstoßen konnte. Bebend streckte sie, sich am geöffneten Flügel mit der Rechten haltend, dem Sprecher, dessen Athem schon ihren Mund berührte, die Linke entgegen. Ein Moment noch und der Bund der Herzen war geschlossen, ein Abgrund geöffnet, der Vorhang seines Allerheiligsten zerrissen, der »Bau der Kirche« zertrümmert –

Da trat eine Störung ein. Draußen gingen lebhaft aufgerissene Thüren. Jetzt erst erkannten beide, daß um sie her es völlig Nacht geworden war. Armgart trat stürmisch herein. Sie kam im Hut, mit Pelzüberwurf, von der frischen Luft wie ein rosiger Apfel geröthet. Sie war zwei Stunden Weges nach Heiligenkreuz zu Fuß gegangen und schon wieder zurück.

Nach ihr kam Terschka. Gleichfalls in einem Pelzrock, den 69 ein grünes Schnurwerk zierte. Sporen klirrten an seinen Füßen; er riß eine Jagdmütze ab.

Terschka hatte, das erfuhr man, Armgart auf Heiligenkreuz, wohin gerade auch ihn jener Brief aus Witoborn abberufen hatte, angetroffen und sie wieder zurückbegleitet, und zwar zu Fuß – über den gefrorenen Schnee hinweg. Sein Roß mußte erst der neu angenommene Dionysius Schneid (dem übrigens sein Verkehr auf dem Finkenhof eine ernstliche Verwarnung zugezogen) aus Heiligenkreuz zurückholen. Terschka hatte es stehen lassen, weil er neben Armgart nicht reiten mochte, während sie zu Fuße ging. Sie erklärte, ihn unterwegs sprechen zu müssen; sie war in einer ihm unbegreiflichen Aufregung. Das Fräulein von Tüngel-Appelhülsen war in der That bei Frau von Sicking. Es geht etwas vor, sagte sie sich. Es geht etwas vor! wiederholte sie drohend. Sie wollte wieder nach Westerhof zurück. Da hieß es, im Stifte wäre noch Thiebold und könnte sie begleiten. Nun erst recht hätte sie nicht bleiben mögen. So ging sie mit Terschka, der gekommen war, um mit dem Verwalter des Stifts einige dringende Rücksprachen zu nehmen. Hätte Terschka gesagt: Setzen wir uns beide aufs Roß und jagen nach dem Schloß der Frau von Sicking! – sie hätte es gethan. Daß sie ermüdet wäre, unmöglich den Weg nach Westerhof zu Fuß machen könnte, wollte sie nicht hören.

Terschka erzählte alles das wieder, erzählte es dem überraschten Paar und war selbst dabei in einer Aufregung, die beiden nicht entgehen konnte. Er übersah die ihrige. Armgart verschwand indeß auf ihrem Zimmer. Alles das bemerkte Bonaventura, begriff es jedoch nur halb; ihm fehlte jede Sammlung – selbst mußte er ja entfliehen. Zwei Worte noch an Paula, die ihn mit holdseligst verlegenem Lächeln, mit jener Vertraulichkeit gleichsam für alles, was ein Weib auf Erden und im Himmel dem Manne sein kann, ansah, und er war verschwunden.

70 Hinaus stürmte er in die schon hereingebrochene Nacht. Nichts von einem Wagen, dessen Anerbieten man ihm nachrief, vernahm er. Schon war er unten an der Hauspforte. Wie die eisige Luft seine heiße Wange streifte! Wie er fast die Locken, die er sonst trug, im Winde noch flattern fühlte! Ein Geist des Trotzes, der Herausforderung an die Ordnung der ihn beherrschenden Dinge war über ihn gekommen. Er hätte an der kleinen Brücke das Geländer einreißen mögen, an das er sich halten mußte, als er den hartgefrorenen, glatten Weg beschritt. So flog er dahin. Erst allmählich wurde es in ihm ruhiger. Jetzt hätte er Musik hören mögen, rauschende, vollgestimmte – allmählich freilich würde zuletzt ein einziger süßer, sanfter und wenn den Tod bringender Accord seine ganze Empfindung ausgedrückt haben.

So kam er im Pfarrhause an. Es war tiefdunkel; sein Zimmer nicht erwärmt; Müllenhoff nicht anwesend. In dessen Zimmern wartete er so lange, bis oben bei ihm die erwärmende Flamme loderte.

Wie todt standen da doch die Bücher an den Wänden! Wo er hinsah, war von Strafe, von Kirchenbann die Rede. Er hörte im Geist das schütternde Gelächter Müllenhoff's, wenn er seinen eigenen Einfällen applaudirte. Er hörte, wie ihn sein College jetzt nennen würde: Salonschlupfer, Lavendelseele! Er lächelte. »Lieber mögen sechs Straßenlaternen in Witoborn eingehen, als ein einziges ewiges Licht in einer Kapelle!« Das war heute früh ein Müllenhoff'sches Wort gewesen, das ihm beim Schimmer der ihm jetzt nach seinem Zimmer vorangetragenen Lampe einfiel. Ja, er lachte laut. Und oben, oben in seinem Zimmer fand er zu seiner glücklichsten Ueberraschung einen Brief – aus Kocher am Fall – vom Onkel Dechanten.

Nie noch hatte er so nach den geliebten Zügen gegriffen. 71 Nie noch wie heute war ihm so viel Musik entgegengerauscht und so viel Duft entgegengeweht aus dem feinen Papier, aus den zierlichen, halb arabischen Buchstaben dieser Handschrift, aus dem langen, reichen Inhalt. Wie beglückend stimmte alles das zu dem Bilde Paula's, das nicht von seiner Seite wich. Die Magd brachte den Thee. Die Lampe verbreitete einen traulichen Schimmer (Lampe, Service, Sopha, alles kam von Schlössern und Höfen der Umgegend und war von ausgesuchter Gediegenheit). Paula saß im Geiste neben ihm und sprach mit ihm und ihr Schatten huschte an den Wänden geschäftig sorgend hin und her; er hatte eine Geisterehe geschlossen. Als er allein war, sprach er leise mit seinem Weibe, redete es an und sagte: Paula –! Meine süße, süße Paula –! Dann schlug er sich an die Stirn. Aber so sündigte er fort – er hörte nicht auf an sie zu denken, ihrem Athem zu lauschen, ihre Hand zu streifen, hinaus in die Luft, ins Leere Küsse zu geben – was sollte ihn denn erschrecken, jetzt wo er die Dechanei um sich hatte, des Onkels Devise hörte: »Ich mach's doch so leicht!« Die grünseidenen Decken und Gehänge in dem Arbeitszimmer der Dechanei sah er; die sanften Rollenthüren hörte er, wenn Frau von Gülpen eintrat oder Windhack einen Besuch oder eine Constellation des Himmels meldete. Er las – las, wie wenn eine neue »Nichte« ihm und dem Onkel Klavier spielte.

»Lieber Alter!« schrieb der Onkel. »So bist Du denn auf dem Schauplatz Deiner ersten Jugend angekommen und grübelst vielleicht, ob in den alten Kirchenvätern das Schlittschuhlaufen verboten ist! Ich habe Dich sonst oft genug auf dem Ententeich zwischen Borkenhagen und Westerhof dahingleiten und durch graziöse Zickzacks unserm alten Friesenursprung Ehre machen sehen – Nun siehst Du, die Apostel wußten nichts von zwanzig Grad Kälte; wie konnten sie vorschreiben, ob ein junger Domherr 72 schlittschuhlaufen darf u. s. w. u. s. w. Sage nur: Wie platt, wie rationalistisch oberflächlich ist das wieder! Gut! Ich beneide Dich zuvörderst um diese Triumphe, die Deine Rechtgläubigkeit feiern wird, vorzüglich unter den Weibsen! Fühlst Du's denn endlich, wie schön diese Veranstaltung Gottes ist, daß es Wesen gibt, die an der ganzen Weltgeschichte unbetheiligt bleiben und Alexander, Julius Cäsar und Innocenz III. nur auffassen unter dem Gesichtspunkt, ob solche Leute den Kaffee theurer machen, die Verlobungskarten seltener, die laufenden Moden durch plötzliche Trauergarderoben unterbrechen und dergleichen? Bewundere diese Geistesgegenwart, mit welcher, mitten in unsern Schmerz hinein und während noch die Männer ohne jede Sammlung stehen, schon die Frauen wieder bei einem Sterbefall ihr schwarzes Seidenkleid bestellt haben! Sieh, so haben mich die jugendlichen Regungen meiner Petronella in Erstaunen versetzt, die zwar von ihrer leiblichen – lies nicht etwa: lieblichen – Schwester nichts geerbt hat, aber dennoch bereits ›Schanden halber‹ in das zweite Stadium des äußern Schmerzes, in den grauen mit Violettschleifen, eingetreten ist! Studire Weltgeschichte im Stift Heiligenkreuz! Zwanzig weibliche Wesen, die ohne Zweifel Deine Heiligkeit bewundern und vielleicht auch Dich endlich an die Wahrheit des Satzes erinnern werden: Mulier est hominis confusio!«

»Ich sehe Dich aber auch, lieber Sohn, wie Du Dich endlich aus Blumen und gestickten Tragbändern und Portefeuilles herauswindest und wieder Deinen feurigen Eliaswagen besteigst, zunächst die Stufen des Altars und der Kanzel zu St.-Libori, dann wol auch die Treppen zu den Regierungscollegien, wo Du – ›Gutes wirken‹ willst! Ach, mag Dir's dabei nur nicht so ergehen, wie mir damals, als ich wirklicher Dechant war und ein lutherscher Regierungsrath mir unter eine Rechnung für Oel, Wachs, Wein und Salz beim Salze regelmäßig 73 beischrieb: ›Ich frage wiederholt: Gehört in die Cultusrechnungen auch die Naturalverpflegung der Herren Pfarrer?‹ Wußte dieser Kerl nicht, daß zu unsern Taufen Salz gehört! Er glaubte, die Rechnung der Köchin hätte sich in die für das Cultusministerium verirrt. Damals schrieb ich an den Rand: ›Salz ist ein gutes Ding; so aber das Salz dumm wird, womit soll man würzen! Lucä 14, 34‹ – Du freilich wirst durch solchen ›Druck‹ auf unsere ›arme‹ Kirche nicht zum ›Rechtgläubigen wider Willen‹ gemacht werden; denn nur Römlinge sehen nicht ein, welche verbesserte, wahrhaft glänzende Lage wir gegen früher bei alledem in partibus infidelium haben. Doch nichts vom Kirchenstreit! Was sagst Du zu dem noch immer unter polizeilicher Aufsicht stehenden Hunnius? Neulich rief er vor einer Gemeinde, die leider nicht die zu St.-Hedwig in Berlin war, sondern nur die der Stadtkirche in Kocher am Fall, sage der Stadtkirche in Kocher am Fall!: ›St.-Paulus war seines Zeichens ein Teppich-, kein Schleier-Macher!‹ Diese Anspielung auf Professor Schleiermacher in Berlin fiel natürlich bei uns ganz auf den Weg.«

»Bona, ich warne Dich nur, Deinem Diöcesanklerus etwa in jugendlicher Begeisterung Conferenzen vorzuschlagen, schriftliche Arbeiten zum Circulirenlassen, Lesecirkel, eine Archipresbyteriatsbibliothek und ähnliche Reformphantastereien, die uns arme Einsamkeitsschlucker und Trübsalbläser erheben, zerstreuen, bilden sollen! Du dringst damit nicht durch! Stelle Dich blind und taub für alles, was Du sehen und hören wirst! Unsere Kirche bessert sich einst; aber nur durch große Revolutionen. Bis dahin emancipire sich ein jeder für sich, mache sich zu einem kleinen Privat-Pantheon der gesunden Vernunft und, soll ich Dir rathen, suche Dir in Witoborn höchstens nur die allerältesten Priester heraus, alte säcularisirte Benedictiner, einen alten Capitular, der vielleicht ein armseliges Zimmerchen im Seminar 74 bewohnt, nur um seine Einkünfte für ein paar Schwestern zu sparen. Da wirst Du vielleicht noch einen oder den andern Menschen finden von Gemüth, von herzverklärtem Geist, von lieben alten plauderhaften Erinnerungen an eine Zeit, wo Lessing seinen ›Nathan‹ auch für uns gedichtet hat und mancher junge katholische Priester lieber eine schöne luthersche Predigt von Spalding und Reinhard ablas, als selbst eine viel weniger schöne schrieb. Da ist im alten Jesuitenstift ein Gang, wo alle Generale der Jesuiten abgebildet sind! Sieh sie Dir an! Einer schaut pfiffiger aus, als der andere; die Spanier sind besonders schlau; die Deutschen von einer kläglichen Unverbesserlichkeit, sämmtlich, wie es scheint, aus der dümmsten Gegend Deutschlands, dem Innviertel; nur einen sieh Dir recht an: der hat eine furchtbar lange Nase, scheint mir jedoch der gutmüthigste von allen. Die Nase ist ganz nur die Ablagerungsstätte für seine Schnupftabacksdose. So sah der alte Rector dort aus, als ich bei Witoborn lebte und ein alter lieber Freund von mir, ein ehemals jüdischer Gelehrter, den ich in Paris kennen gelernt hatte, dort convertirte und ins Seminar trat. A propos, solltest Du unsern harmonietrunkenen Löb Seligmann von hier sehen: Die Hasen-Jette läßt ihn grüßen und von seinem Davidchen anzeigen, daß sich dessen Beine stärken und sein Geist von Tag zu Tag dem des jungen Samuel ähnlicher wird –! Findest Du unter den Priestern einen solchen kleinen dicken alten Mann mit langer Nase und einer Schnupftabacksdose in der Hand, dann grüß' ihn von mir, er kennt mich gewiß. Der alte Rector freilich, später Bischof ist jetzt todt –«

»Sonst – wenn Du arme Kaplane siehst, für die das Wort Stolgebühren bisher nur erst im Examen vorgekommen ist und die am ›Freitisch‹ bei ihrem Pfarrer verhungern müssen: nun, immerhin, lege für mich aus, Bona, falls Du einige ihrer 75 drückendsten Schulden auf anständige Art tilgen willst, und wende ihnen Meßstipendien zu, soviel nur Seelen am Vorhof des Himmels schmachten, und laß die armen Tröpfe nicht herumlaufen und um Messen betteln und bei jedem Sterbefall lungern, ob auch für sie ein Knochen von den zweihundert gestifteten Erlösungsbitten à 10 Silbergroschen abfällt! Und findest Du am Münster in Witoborn arme, blasse, heisere Vicare, die statt der bequemen Domherren Brevier singen müssen und schon um den letzten Ton in ihrer Kehle gekommen sind (könnte Löb Seligmann doch aushelfen!), so zeig' dem Bischof die stummen Opfer Roms und seufze immerhin in meinem Namen vorläufig wenigstens um deutsche Sprache statt lateinischen Gesangs! Lebt denn dort noch die Quart? Muß denn auch da jeder neuernannte Pfründner den vierten Theil seines Einkommens dem Bischof zinsen? O würde das Geld doch angelegt für eines Priesters alte Tage, wo er freudlos, ohne liebende Hand, die für ihn sorgt, ohne ein Herz, das seine grämelnde Laune erträgt, in das Eremitenhaus ziehen muß oder in einen alten Profeßhof kommt, diese Invalidenhäuser der römischen Armeen, wo es zwar keine Stelzfüße, aber arme unglückliche Seelenkrüppel genug gibt! Bona, Bona – nun komm' ich doch in die Reformen! Man sagt, unterm Mikroskop wäre unser reinstes Quellwasser voll garstiger Infusorien – und auch Windhack behauptet das und verleidete sich dadurch schon allzu lange das Wasser und trinkt vom kocherer Wein fast zu viel –; nun denn, an dem Sold, von welchem der Priester sein Dasein bestreitet, läßt man ihn täglich nur zu schaudervoll sehen, wo er herkommt, läßt ihn nur zu naß aus allen Taufbecken in unsere Hand gleiten, wo noch frisch jeder Seufzer, jeder Fluch der Armuth am Gegebenen klebt. Schule und Kirche möcht' ich doch so lange, bis die Heiden oder andere 76 Apostel kommen und eine neue Religion bringen, vom Kleinhandel des eigenen Erwerbs befreit sehen.«

»Priesterwürde! Das laß' ich vorläufig gelten! Aber sieh' Dich nur recht um und überzeuge Dich, wie jetzt nur ein ganz gewöhnlicher Unzufriedenheitsstoff, der in der Welt lagert und sich gern möglichst loyal und ohne zehn Jahre Festung austoben möchte, diesen neugepredigten Anhalt an Rom sucht! Der Jakobiner versteckt die rothe Mütze unter der Kapuze, der Provinzialgeist stemmt sich wider die Centralisation, den katholischen Plattdeutschen beschämt das vornehme Air des lutherschen Hochdeutschen, der Jurist vom Code Napoléon will nichts vom Landrecht, die Fürsten im Süden fürchten die Kraft der Fürsten im Norden; blos das, das allein, gibt den feurigen Teig des jetzigen Umschwungs, wie bei der Bildung der Erdrinde. Die Jesuiten und Jesuitengenossen kennen das und kneten den Teig, und machten sie auch nur kleine Agnus Dei daraus, all ihre Süßlichkeit riecht nach Pech und Schwefel! Du wirst Geistliche bei Witoborn sehen, die so liebfromm sind, daß sie sich nicht mehr die Zähne putzen, blos weil sie dabei Morgens, wo sie nüchtern Messe zu lesen haben, fürchten, etwas Wasser zu verschlucken! Und worauf beruht diese Dumpfheit des Geistes bei den Bessern? Auf dem Glauben, daß man – Vater, Mutter, Heimat kränke, wenn man irgendwie vom Althergebrachten abgehen wollte! Dem Gemüth schließen sich auch hierin Eigensinn und Eitelkeit an. Man glaubt, daß man von der Aufklärung wegen äußerlicher Dinge verspottet werde, wegen seiner Aussprache, wegen seiner dürftigen Gegend, ob der Zurückgebliebenheit seiner Städte. Nun trotzt man, nun erklärt man auf seinen einsamen Höfen und Kampen die Lerche ebenso gut trillern hören zu können, wie im schönsten Schweizerthal, trotzt, daß man in seinen dürftigen Städten doch manches liebe, mit wildem Wein 77 bewachsene Haus kenne, manches Fenster, wo Mädchenköpfe auch hinter Blumen herausschauen, sollte auch die Liebe blos plattdeutsch sprechen. Und so hält man denn mit Zähigkeit gerade fest an seinem Zopf! Das ist mit unserer Kirche überall so, seitdem die Reformation in dem stattlicheren Gewand der Wissenschaft und Bildung einhergehen durfte. Ueberall erscheint die Ketzerei den Leuten als eine Verhöhnung nicht etwa des Glaubens – man gibt bedenkliche Schäden an ihm zu –, sondern als ein Geringachten der vielen anderweitigen Gemüthlichkeiten, die sich für den Menschen an seine Jugend, an – seine liebe alte Großmutter anknüpfen –«

»In Deutschland – laß mich in einem Briefe, wie ich ihn seit Jahren so lang nicht geschrieben habe, fortfahren –, in Deutschland sollte nun längst die Bildung und die gemeinsame Geschichte unsers Volks diesen Zwiespalt aufgehoben haben! Aber jetzt sieh, wie gesorgt wird, daß dieser Bruch ein ewiger bleibe! Du wirst im ganzen Stift Heiligenkreuz vielleicht nur ein einziges verstecktes und bestäubtes Exemplar von Goethe, zwei oder drei Exemplare von Schiller finden, dagegen alle Blumenlesen, alle nervenangreifenden Kräuterapotheken unsers Beda Hunnius. Ich weiß nicht, ob es in Westerhof jetzt besser ist. Graf Joseph ging über Stolberg's Horizont nicht mehr hinaus. Levin von Hülleshoven ist ein geistvoller, unterrichteter Mann, schrullenhaft jedoch und afterklug. Die Sicherheit, mit der er sich schon vor vierzig Jahren auf den Bau der Pyramiden verstand, während ihm jeder Backofen, den er bauen ließ, zusammenfiel, wird sich bei seinem Leben unter lauter Frauen nicht gemildert haben. Abenteuerliche Gelehrsamkeit ist alldort ein besonderes Steckenpferd. In jedem Dorf wirst Du die rechte Stelle finden, wo Hermann den Varus schlug. Ist es zweifelhaft, wo das Midgard der Asen lag, so wird man immer gegründete Vermuthung für ein Torfmoor bei Eschede oder eine Wiese bei Lüdicke haben. Dieser hinter Vaterlandsliebe sich versteckende Hochmuth ist – allen Deutschen eigen! Er kommt bei keiner Nation so vor, wie bei uns, nur Levinus würde vielleicht hinzusetzen: ›Ja, bei den Tschippewäern!‹ . . . Noch immer sitzen gewiß dort die Frauen und lauschen solchen Orakelsprüchen, und auch Männer genug gab es, die vor der Weisheit des Barons von Hülleshoven den Hut abzogen. Die Kunst ist bewunderungswürdig, mit welcher jeder eitle Mensch versteht sich eine Gemeinde zu bilden. Selbst Windhack versteht's. Windhack und Levinus ziehen eben nicht die Gelehrten in ihr Vertrauen, sondern die Fischer, die Zöllner, die Teppichmacher, nicht die – Plato und Schleiermacher – Doch genug von diesem – sehr anstößigen Kapitel – –«

»Ich komme auf Westerhof zu sprechen, weil ich möchte, daß Du Deine liebevolle Versöhnlichkeit anwendest, um zwischen dem Ehepaar Ulrich und Monika eine Ausgleichung herbeizuführen. Ich höre, daß die Comtesse Paula Wunder verrichtet und in die Zukunft sieht. Bisjetzt hab' ich noch in allem, was ich davon erfuhr, zu viel Aberglauben der dort landesüblichen Sorte gefunden. Du wirst wol so gut sein, mich darüber ins Klare zu setzen; denn an und für sich hab' ich Respect vor den geheimnißvollen Ein- und besonders den – Ausgangspforten aus unserm räthselhaften Dasein – Sonst würd' ich Dich bitten, das schöne junge, Dir so besonders theure Wesen zu ersuchen, sich bei den Schicksalsmächten zu erkundigen, was über jene Verwickelungen beschlossen ist. Was wir hier so aus unsern sichtbaren Gestirnen entnehmen können, ist die kurze und bündige Absicht Ulrich's, der zwar minder gelehrt, aber willensstärker als sein Bruder Levinus ist, nächster Tage nach Witoborn zu gehen, auf Westerhof ein kurzes und bündiges Wort zu sprechen und sein Töchterlein Armgart mit sich zu nehmen. Zugleich flattert aber auch wie eine Taube um ihr vom 79 Geier bedrohtes Nest die Mutter und wird, wie sie mir schreibt, nicht verfehlen, das zu beanspruchen, was nur ihr gehöre. Da könnten denn also diese beiden Menschen sich gegenübertreten und nach meiner Meinung die oft im Leben vorkommende Scene aufführen, daß sich zwei Leute gerade deshalb nicht verstehen, weil sie aus einem und demselben Stoff geschaffen und eben füreinander bestimmt sind. Denn in der ersten Liebeszeit sucht man sein Gleichartiges – Du kennst das nicht! – in der zweiten Liebeszeit sucht man sein Gegentheil und in der dritten Liebeszeit erst kommt man auf den richtigen Instinct der ersten Liebe zurück und will nur das, was unserer Natur gleichartig ist. So ging es diesen beiden Menschen. Ein Zufall verband sie und sie gehörten sich einander. Da kam eine Willensprobe und sie scheiterte an ihren harten Köpfen. Jetzt scheinen sie vollkommen reif, sich gerade so zu lieben, wie man sich eben noch liebt, wenn man Kinder hat, die schon selbst von Liebe sprechen. Auch das trifft zu: Jede Liebe, die sich noch in spätern Jahren bewähren soll, muß eine andere Nahrung haben, als der erste Jugendlenz allein schon in seinem schönen Blütenduft findet. Ein Drittes muß sie haben, um dessentwillen sie da ist, um dessentwillen sie sich bewährt, nicht blos die übliche ›Brücke‹ der Liebe zu den Kindern, sondern eine Idee, und wäre es die Erziehung dieser Kinder, eine Erziehung höherer Art, eine Erziehung mit Bewußtsein und Gedanken! Immer hab' ich gefunden, daß zuletzt doch zu den gleichen Ideen eine unendliche Bindekraft liegt. Zwei Feinde, die sich auch nur Einmal in einer gleichen Idee begegnen, können sich leicht versöhnen.«

»Bis zu Mariä Verkündigung bleibst Du wol noch in der dortigen Gegend; zur Osterzeit werden sie Deine Schultern in der Kirchenresidenz brauchen. Ich werde bald meine dreijährige ›schwere Arbeit‹ antreten und auch meine ›Visitation‹ – an der 80 Donau halten. Frau von Gülpen zittert, mich Windhack allein überlassen zu sollen, sich zu denken, daß ich bei meinen alten Kreuzsternordensdamen eines Abends sanft beim Whist einschlummere, ein à tout zu der Linken, ein ›ich passe‹ auf den Lippen. Ach! so ging ich am liebsten heim! Aber das kommt mir bei dieser Reise noch nicht, ich weiß es; ich habe die Ahnung, daß ich noch viel, viel böse Ungewitterwolken sich entladen sehen soll. Der Oberprocurator Nück bot mir eine Commission an, die ich aber ablehnte. Cardinal Ceccone kommt nämlich von Rom als apostolischer Nuntius an die Donau. Ihm und dem großen Staatskanzler will man die Lage des gefangenen Kirchenfürsten und die Zukunft Deutschlands ans Herz legen. Don Tiburzio Ceccone zu sehen wäre mir allerdings von Werth; aber von seinem Munde hören zu müssen, was geschehen soll, um in Leibnizens und Kant's Vaterland diejenige Luft hinüberzuleiten, die man in den Hörsälen des Collegio Romano athmet – das könnte mein à tout beschleunigen! Uebrigens droht mir trotzdem eine gewisse Beziehung zu Rom. Auch Dir dürfte sie nahen, wenn Dich Dein Stiefvater in Vertraulichkeiten einweihen sollte – denn ich lese soeben, während ich dies schreibe: der Kronsyndikus ist gestorben! . . .«

»Ruhe seiner Asche! – – –«

»Sorge, daß bei allem, was jetzt etwa zur Sprache kommen könnte, nur Priester zugegen sind! Darin hatte Benno wahrlich Recht: Der Beichtstuhl – – –«

»Doch genug für heute! Grüße ihn von mir – meinen armen – Zigeunerknaben! Wer weiß, ob ich jetzt nicht endlich gegen ihn beredsam werden muß, wenn er mir, so wie Du im letzten Sommer, aus Gräbern der Vergangenheit alte Erkennungszeichen – unserer Sünden bringt –! Hast Du nichts mehr von dem Leichenräuber vernommen? . . . 81 Grützmacher und Schulzendorf sind verdrießlich – über verfehlte ›Prämie‹ –«

»Spät Abend ist's geworden – – Musik hör' ich schon seit lange nicht mehr – Die Tante correspondirt mit ihrer ›Familie‹ und will mich durch eine noch immer nicht entdeckte Nachfolgerin ihrer letzten ›Nichte‹ überraschen. Diese letzte – kam, hör' ich, um – Deinetwillen! Bona, Bona, ich hätte die nicht von mir gestoßen. Drei Tage war sie bei uns und sie sind eingeschrieben in die Chronik der Dechanei mit Flammenschrift. Selbst den Tod des Lolo (ein Trauerfall, von dem Du wol noch nichts gehört hast) schreibt die Tante auf Fräulein Schwarzens Rechnung. Mit Beda Hunnius correspondirte sie und die Regierungsräthe lasen – und belachten ihre mit Beschlag belegten Briefe –! Um so stolzer erhebt sie ihr Haupt. Ich höre, sie beherrscht das Kattendyk'sche Haus und niemand mehr, als – den Oberprocurator Nück.«

»Deine Liebe muß also – goldene Locken tragen? Muß – im Mondlicht wandeln? . . . Seltsam! Seltsam!«

»Zerreiß diesen Brief nicht, sondern – verbrenne ihn! Man hat Fälle, daß zerrissene Briefe immer noch, falls man auf den Gedanken käme, nach unserm Tode uns heilig zu sprechen, gegen uns zeugen können. Ich glaube, Petronella setzt alles, was sie hat und noch zu erben hofft, daran, um mir nach meinem Tode diese sehr unverdiente Ehre zuzuwenden . . .«

»Ich habe seit Jahren nicht soviel geschrieben. Der Tod des Kronsyndikus versetzt mich – in wehmüthige Aufregung. Lebe wohl, Bona, und denke nur immer, auch wenn Du vielleicht – – in diesen Tagen nicht über mich das Beste vernehmen solltest, ich war schwach – aber um der Liebe willen – –! Und so, fortan wie bislang, Dein treuer Onkel.«

82 So erheiternd auch die Stimmung dieses Briefes anfangs auf Bonaventura wirken durfte, der Schluß regte zu Besorgnissen und befremdlichem Nachdenken auf. Dennoch verweilte er nicht allzu lange bei den trüben Schatten, die mit diesen Gedankenreihen in sein Inneres fielen. Zu sehr hatte er das Bedürfniß des Glücks und jede seiner Vorstellungen nahm bald wieder die holdeste, freundlichste Gestalt an. So endete ein seit lange glücklichster Tag seines Lebens.


 << zurück weiter >>