Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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45 15.

Lucinde, die sich so plötzlich aus dem qualmenden, dunstigen, für eine beengte Brust unerträglichen Zimmer entfernt hatte, floh in den großen, nun schon dunkelnden Speisesaal – gejagt von Empfindungen, die sich krampfhaft an ein Herz preßten, von dessen lauten Schlägen sie fürchtete, sie könnten in der rings sie umgebenden Stille vernommen werden.

Nicht daß sie so überwältigend die Form des Vortrags, ihr Inhalt und die Andacht dieses vornehmen Auditoriums ergriff. Sie sagte sich: Das sind Narren! Nicht daß sie von Wehmuth durchzuckt war beim Anhören der Harmonica, die ihr einen Jugendmärchentraum zurückrufen mußte. In dem Heranwuchs der Kinder jenes Pfarrers, dessen Namen sie einst angenommen hatte, als sie die Bühne betrat, sah sie verdrießlich nur den Gradmesser ihres eigenen Alterns – Nicht auch daß sie Jérôme so rührte, der um ihretwillen Erschossene, der sie anbetete wie eine Heilige, der gerade ihr, ihr jenes Heureka! der dankbarsten Erinnerung im einsamen Walde gerufen hatte. Alles das waren Anwandelungen einer ihr fremden Sentimentalität. Sie lebte nur der verzehrenden Sorge um das Allernächste.

Schon mit klopfender Brust war sie auf dem Schlosse Münnichhof erschienen. Schon mit dem größten Widerwillen war sie in jenes dunkle Zimmer gefolgt. So gefaßt und ruhig sie erschien, 46 als sie Frau von Sicking als eine ihr aus der Residenz des Kirchenfürsten Empfohlene einführte und der Herrin des Schlosses vorstellte, sie trat hier auf einem Boden auf, der unter ihren Füßen wankte. Dennoch richtete sie sich hoch und majestätisch auf, als ihr Name beim Vorstellen genannt wurde und die Anwesenden die schlanke Gestalt, die in Trauer gehüllt war, musterten, das bleiche, erröthende Antlitz anziehend fanden, ein goldenes Kreuz, das auf der Brust unter einer Trauerecharpe von Spitzen hervorblinkte, für ein Zeichen besonderer Frömmigkeit nahmen. Jenes Mädchen, das vor längern Jahren hier, auf Schloß Neuhof, eine abenteuerliche Rolle gespielt und das gewiß schon einmal einige unter den Anwesenden gesehen hatten, erkannte niemand. Diese schwarzen Augen schienen die Glut der heiligsten Andacht zu bergen. Dieser etwas trotzige Mund schien nur im Beten geübt. Lucinde sprach wenig und setzte sich zu den in immer größerer Anzahl sich versammelnden Damen wie ein Wesen voll Bescheidenheit, eine Bürgerliche, die den Abstand ihrer Stellung von der der andern erwog, obgleich diese gnädiglichst anzudeuten schienen, daß man auch durch Gesinnung geadelt sein könnte.

Die Namen Neuhof, Asselyn, Benno, de Jonge, Paula, Armgart, Stift Heiligenkreuz, Kloster Himmelpfort gingen an ihr vorüber, ohne daß jemand ihren Antheil bemerkte. Selbst als sie die Lehne ihres Sessels ergriff, als die Stiftsdamen, die von Heiligenkreuz kamen, Fräulein Benigna von Ubbelohde und Gräfin Paula um ihr Fernbleiben von Püttmeyer's »chinesischen Schatten« entschuldigten und vom gestrigen ängstlichen Flammensehen der letztern erzählten, bemerkte niemand das Beben der zusammengepreßten Lippen, niemand die Verlegenheit des Lächelns; auch nicht da, als Frau von Sicking sagte: Ich hoffe Sie morgen auf Westerhof vorstellen zu können –! Diese Anknüpfungen waren 47 ihr wichtiger und beschäftigten sie ganz. Was sollte sie in dem lebensluftleeren Zimmer auf die Orphische, »Unsinns-Weisheit« lauschen! Sie mußte reden, wenigstens gehen können. So sprang sie auf. Und als ihr Beispiel, wie bei der Nervenschwäche der Frauen geschieht, ansteckte, als nicht lange nach ihr eine zweite, eine dritte Dame entfloh, huschte sie noch aus dem dunkeln Speisesaal mit seinen blendend weißen Gedecken, seinen Gläsern, Schüsseln, Tellern, hinaus und suchte das erste beste Zimmer auf, dessen Thür ihr zunächstlag. So betrat sie ein bereits zum Kartenspiel hergerichtetes behagliches, trauliches Cabinet. Es war auch hier dunkel; aber sie hätte noch dazu die Vorhänge herablassen, hinter sich zuriegeln mögen, so sehr fühlte sie das Bedürfniß, sich in der Einsamkeit zu den Aufgaben zu sammeln, die sie auf diesen für sie so gefahrvollen Boden hergeführt hatten.

Erschöpft sank sie auf ein Sopha nieder. So für sich allein hatte sie etwas Spinnenhaftes bekommen, Mageres, Lauerndes, von »Schmerz Gekrümmtes«, wie sie's nannte, wenn man ihr Vorwürfe deshalb machte. Ihr hoher Wuchs sowol, wie die religiöse Rolle, die sie mit immer größerer Uebung, Gewöhnung, ja sogar schon mit aufrichtigem Einverständniß spielte, brachten es mit sich, daß sie zu den vielen mittlern und kleinen »erbärmlichen« Wesen dieser Erde ihren Medusenkopf niederbeugte. Unter den dichten dunkeln Flechten ihres schwarzen Haares, die sie wie ein Turban umgaben (heute das Werk der Kammerjungfer der Frau von Sicking; hier hatte sie nicht Trendchen, die ihr schon zuweilen hochaufstaunend weiße Härchen auszog), spitzte sich ihr Ohr und lauschte so, wie ihr einst Nück ärgerlich gesagt hatte. »jung-hexenhaft, daß man mutatis mutandis« – sie verstand ja diese Milderung – »an die alte Frau Buschbeck denken könnte, wenn die mit mir oder mit Hammaker vom Anlegen ihrer Kapitalien sprach!« Dann freilich konnte sie sich auch wieder 48 aufrichten und sich auf ihre »doch immer noch blühenden« zwanziger Jahre besinnen.

Lucinde war zu Frau von Sicking empfohlen worden durch Nück und die vornehmsten Kreise der Devotion. Sprach hier etwas gegen ihre Vergangenheit, so war sie jetzt eine Convertitin. Eine solche war auch Frau von Sicking selbst. Eine Nachkommin jenes tapfern Ritters, der mit dem Schwert, wie Ulrich von Hutten mit der Feder, gegen Rom sein Leben einsetzte, verließ sie einen mit soviel Thränen und blutigen Opfern erkauften Glauben. Sie gehörte jenem engeren Kreise katholischer Gottseligkeit an, der sich über ganz Europa verbreitet hat, einem Kreise, in welchen einzutreten Lucinde das unwiderstehlichste Verlangen trug, weil sie wußte, daß auch Bischöfe und Erzbischöfe mit andachtsvollen weiblichen Seelen die Freuden der Geselligkeit genießen. Frau von Sicking war reich. Sie hatte ein Haus bei Witoborn, eine andere Besitzung im Süden Deutschlands, hier und da in geistlichen Städten Deutschlands und Belgiens Absteigequartiere. Ihre Correspondenz erstreckte sich nach Rom wie nach den entferntesten Missionen des Sacré Coeur, nach Pondichéry und Guadeloupe. Ihre Reisen, ihr Kommen und Gehen, ihr Correspondiren konnte man Intrigue nennen. Aber auf allem, was sich an ihren Namen knüpfte, lag ein diesen Schein mildernder Duft von Andacht, von Beförderung des Menschenwohls, von Veredlung unsrer Zeitlichkeit. Jetzt waren die »Exercitien« ihre Parole. Der Andrang dazu war so groß, daß Frau von Sicking über die Aufnahme wie eine Ordensmeisterin schaltete. Der ostensible Grund, warum bei ihr Lucinde Schwarz erschien, war die flehentlichste Bitte der Frau Commerzienräthin Kattendyk, sie und ihre Töchter an diesen Exercitien theilnehmen zu lassen. Lucinde war autorisirt, im Namen der Commerzienräthin die größten Opfer, die etwa verlangt werden sollten, in Aussicht zu stellen, wenn sie das Glück und die 49 Ehre haben könnte, an dieser vornehmen »Andacht zum Kreuze« theilzunehmen.

Gestern war Lucinde angekommen und hatte noch keine Fassung gewinnen können über ihre Rückkehr in diese Gegend, auf einen Schauplatz, wo Bonaventura weilte, ohne Zweifel, wie sie ahnte, im glücklichsten Bunde mit ihrer einstigen Pflegbefohlenen Paula. Noch sah sie mit dumpfer Starrheit durch das Fenster die vom Abendroth beschienenen weißen Höhen, auf denen Schloß Neuhof lag und nun der Kronsyndikus – nicht mehr lebte! Diese Todeskunde erschütterte sie nicht und lockte ihrem Herzen keine Rührung ab. Nur einen gewonnenen Vortheil mehr sah sie darin und tröstlich klang es ihr zu hören, als Frau von Sicking sagte: Die Frau Präsidentin von Wittekind scheint die Rolle in Vergessenheit bringen zu wollen, die ihr Gatte seither als Beistand der Regierung gespielt. Aber man ist hier entschlossen, keineswegs sofort auf ihre Wünsche einzugehen! Die Rücksicht nur auf ihren edeln Sohn, den Domherrn, wird die Gesellschaft bestimmen, ihren Empfindungen nicht jetzt schon einen entschiedenen Ausdruck zu geben! Und selbst der blitzende Punkt dort in der Ferne, ein vergoldetes Kreuz auf dem Kirchthurm des Klosters Himmelpfort, wo Klingsohr verweilte, beschäftigte sie nicht. Diese weiße, mit Abendschatten sich füllende Ebene, auf welche sie einst so sehnsuchtsvoll von Schloß Neuhof herniedergeblickt hatte wie in ein Land der Freiheit und des ungebundenern Glückes, als dasjenige war, das sie dort in einer nur scheinbar glänzenden Abhängigkeit hielt, sie bot nichts anderes, was ihr Auge gesucht hätte, als allein das Schloß Westerhof, das indessen hinter den Wäldern nicht zu sehen war.

Bei Bonaventura's Abreise hatte Lucinde den Vorsatz gefaßt, nur der Rache zu leben. Ohne daß sie den Oberprocurator, Dominicus Nück, in alles einweihte, was von ihrem Herzen 50 dieser selbst theilweise schon wußte, theilweise errieth, war sie mit ihm vertrauter geworden. Nück's Huldigung gab sich so maßlos, daß sie den Ausbrüchen derselben schon deshalb einigermaßen entgegenkommen mußte, um nur nicht sein Benehmen der Gesellschaft zu auffallend erscheinen zu lassen. Er kannte ihre Liebe – Bonaventura. Diese mußte er schonen. Sie duldete seine von unreinern Wünschen scheinbar plötzlich frei gewordene Leidenschaft unter der einzigen Bedingung, daß sie Nück wie eine anderweitig Vermählte betrachtete. Bonaventura wurde ihr bei alledem wieder ihr alter Gott und nur noch die Tempel schwur sie zu zertrümmern, in denen andere ihm huldigten. Von jener Urkunde, mit welcher sie ihn sein ganzes Leben lang, wie sie gedroht, in Schach zu halten vermochte, sprach sie am allerwenigsten zu Nück. Der Schmerz und eine kurze Zeit hatten ihre Rachegefühle gegen Bonaventura schon wieder gemildert.

Dabei wurde Nück für sie ein psychologisches Räthsel. Sein Lebensüberdruß war eine Krankheit, die sich bei allen jenen Menschen findet, die etwas anderes thun, als sie denken. Könige haben wir gesehen, die geistesschwach wurden, weil sie eine Welt von schönen Gedanken, Plänen und Entwürfen in sich trugen und keine Menschen fanden oder – suchten, die sie bei ihrer Ausführung unterstützten! Ein Muth, der bei ihnen schon nicht vorhanden war zum Brechen mit den Rücksichten, welche sie banden, fehlte ihnen für alles, was das Leben begehrt; ein geknickter Genius spielt zuletzt mit Puppen, die er an- und auszieht. Und zu wissen dann: Das ist unwahr, was du denkst und thust! und es doch befördern – darum befördern, weil einem andern, den man haßt, die Lüge zu Schaden verhilft –! das untergräbt vollends die innerste Seele, wenigstens deren Ruhe.

Nück konnte zu Lucinden, in ihrem kleinen Cabinet oder wenn sie ihn selbst, scheinbar in Aufträgen, in jenem Zimmer besuchte, 51 das zum Garten der Seminaristen hinausging, und nun vor ihm auf seinem unheimlichen Sopha saß, unter dem verhängnißvollen Ringhaken an der Decke – er konnte ganz wie Serlo sprechen: Es ist nichts mit all unserm Hoffen und Glauben! Erde wird wieder Erde! Wir düngen die Zukunft! Apostel oder Mörder – omnes una manet nox! (alle erwartet eine und dieselbe Nacht!) – Und doch ging ein Mann mit solchen Ansichten in Kirchen und Kapellen, bückte sich im Beichtstuhl und kreuzigte sich in der Messe. Nück konnte über die Priester spotten, konnte in seiner cynischen Art von reichen, wohlgenährten Pfründnern, die Lucinde in seinem Vorzimmer antraf, sagen: »Sehen sie nicht aus wie die rothen Fettäpfel, die die gebratene Gans, ›Kirche‹ genannt, in ihrem Steiße trägt!« Sprang auch Lucinde bei solchen Worten auf und entfernte sich, so nahm sie das staunende Gefühl mit sich: Dennoch kämpfst du wie ein Löwe, offen und heimlich, für die Wiedereinsetzung des Kirchenfürsten? Nück konnte so laut lachen über die Verlegenheiten der Regierung, daß es gellend dahinschallte in den Zimmern seiner Schwiegermutter, die er jetzt jeden Abend besuchte. Das wird die Lernäische Schlange! rief er wol. Einen Kopf hauen sie herunter und zwei wachsen wieder! Die Zeiten sind vorüber, wo die Schusterjungen, wenn sie in Berlin in einem Winkel am königlichen Opernhaus ihre Bedürfnisse befriedigen wollten, von den Gensdarmen hören konnten: »Wozu ist denn da drüben die – katholische Kirche?!« Solche Cynismen milderte die Lokalsprache, deren sich Nück bei seinen Bildern bediente. Die Frauen protestirten zwar durch Aufstehen und heftige Vorwürfe. Bald aber setzten sie sich wieder und lachten über den Sonderling, der plötzlich in Courtoisie verfallen und den Liebenswürdigen spielen konnte. Das graue Ungeheuer! nannte ihn, mit Wohlgefallen, seine eigene Schwägerin Johanna Kattendyk. Guido Goldfinger, ihr Verlobter, klatschte Nück Beifall, 52 wenn er in seinen seltner kommenden politisch-conservativen Anwandelungen polterte: »Aufklärung! Kaum hat die Dummheit der Bauern gehört, daß die Sternschnuppen nicht direct von Gottes Lichtputze kommen, Abends, wenn der Alte, im Flurhypothekenbuch der Menschheit vertieft, sich die Sternenlichter putzt, nur um ihre Sünden in desto deutlicherm Lichte zu sehen, so denkt sie auch gleich: Nun all' gut, nun Mistforke und Heugabel in die Hand genommen und auf die Zoll- und Rathhäuser gestürmt, wo die unbezahlten Steuerreste und die Schuldverschreibungen liegen!« Bei alledem jubelte er jeder Nachricht von einem Pöbelauflauf, setzte dieser nur die »Neunmal-Weisen« in Verlegenheit.

Ein solcher Zustand der Seele wird zuletzt haltungslos, die Widersprüche heben sich auf, nichts bleibt übrig, als was Nück in seinen geheimsten Stunden war, ein tief Lebensüberdrüssiger, Verzweifelnder. Nächtlich konnte er umherrasen, gehüllt in seinen alten grauen Mantel. Dann war Frau Schummel die Vertraute seiner entfesselten Sinne; Bedürfnisse hatte er, deren Befriedigung an einem Abend Unglaubliches kostete. Plötzlich aber stieß er alles wieder von sich und predigte Buße und dachte an Selbstmord. So überraschte ihn einst Hammaker und brachte ihn auf die uns bekannten Verirrungen des scheinbaren sich Erhängenwollens. In vertrautester Stille konnte er um Hammaker klagen: »Was war nun das für ein Unglück, daß er den bösen Drachen umgebracht hat? Die natürliche Vergeltung ist ja das hier schon auf Erden! Jene hatte andere auf der Seele, diese hatten wieder andere und den Hammaker hätte dann auch schon Einer ohne viel Aufsehen gerichtet!« »Mädchen, kannst du lügen?« »Kannst du falsche Handschriften machen?« »Kannst du Feuer anlegen?« So hatte Nück zu Lucinden an jenem Piter'schen Festabend gesprochen. Aus ihrer unterirdischen Wanderung mit Jean Picard wußte sie etwas von einer gewissen 53 That, für welche dieser durch Hammaker war gedungen worden. Nie war Nück wieder auf diese Zumuthungen, ein Verbrechen zu unterstützen, zurückgekommen. Er hatte von Lucindens Besuch im Profeßhause und von ihrer damaligen Todesangst einiges in Erfahrung gebracht – die Erwähnung der »Spinozistin« Veilchen Igelsheimer brachte sie darauf. Aber über alles Andere, was von ihm zum Gewinn des großen Processes der Dorstes verbrecherisch unternommen werden konnte, waren seit Benno's Abreise nach Witoborn die Schleier der Vergessenheit gefallen.

So schien alles still und friedlich. Lucinde wurde die Vertraute des Hauses, die Freundin, die Tochter, wie die Commerzienräthin ihr oft zuflüsterte – vorzugsweise, wenn sie einer Mesalliance gedachte, die ihr durch Piter drohte. Piter ließ nicht von Trendchen. Au contraire – seit seinem verunglückten Gesellschaftsabend war er entschiedener denn je darauf bedacht, sich durch gänzliche Nichtübereinstimmung mit dem, was die gesunde Vernunft von ihm erwartete, allen Menschen so gefährlich wie möglich zu machen. Der uns bekannte Entschluß Ernst Delring's, aus dem Geschäft auszutreten und die Stadt zu verlassen, wurde durch ein Ereigniß erleichtert, dessen betrübender Verlauf von Tieferblickenden geahnt werden konnte. Lucinde war nach Witoborn in Trauerkleidern gekommen. Das Hauptmotiv, mit welchem sie das Herz der Frau von Sicking im Interesse der Kattendyk'schen Bitte zu rühren hoffen konnte, war Mutterschmerz und Geschwisterliebe: Hendrika Delring lebte nicht mehr. Die sanfte, gute, liebevolle Frau, die einst Trendchen Ley so herablassend zu schmücken verstand, die so tief beklommen dem Gebet zugehört, als Trendchen niederkniete zur zurückgesetzten Madonna, die gleichfalls dann die Hände faltete – über der Hoffnung ihres Gatten, dem sie ihr Kind mit dessen ganzer Zukunft schenken wollte, die geschmähte Schwester, die vor Piter's Tyrannei in den 54 Beichtstuhl Bonaventura's flüchtete, sie hatte die Schmerzen der Geburt nicht überstanden. Ihr schon den Jahren nach auf solche Proben seiner Kraft nicht mehr angewiesener Körper leistete Widerstand – um die Mutter zu retten, mußte das Kind geopfert werden; bald darauf entwich ihr die Kraft, ein letzter Hauch des versagenden Athems und sie ging in ein Land hinüber, wo ihr die Taufe ihres Kindes keine Leiden mehr bereitete. Das Leben ist so! sprach Lucinde zu dem in Thränen verzweifelnden Trendchen, das sich bis zum letzten Augenblick bewährt hatte, es sich nicht hatte nehmen lassen, die Todte zu entkleiden, zu waschen, sie für die Bahre zu schmücken. Gerade das, wofür die meisten Vorbereitungen getroffen werden, gerade das, dessen Eintritt ins Dasein uns nicht hoch genug beschäftigen kann, an das wir all unsern Muth, all unsern Verstand, unser ganzes Herz setzen, das – tritt nicht ein –! Dies sprach Lucinde einem Urtheil in Serlo's Papieren über eine Dichtung nach. »Der Held mußte sterben! Wie könnte man soviel reden und handeln lassen, um dem Misgeschick vorzubeugen, wenn das Misgeschick nicht wirklich ein Ungethüm wäre, welches Menschenkraft nicht überwindet? Die Götter strafen jede Einmischung in ihre Rechte. Das ist traurig, aber nicht so niederdrückend, wie es scheint. Wenn der Vorhang fällt, wenn wieder die Menschen an ihren abendlichen Kartoffelsalat gehen und sie hochvergnügt scheinen, daß nicht Gott, sondern die Birch-Pfeiffer die Welt regiert und die guten Seelen doch zuletzt ›sich kriegen‹, so glauben sie's im Grunde nicht. ›Romeo und Julia‹ kann kein Schauspiel sein. Der Tod – wird zuletzt etwas Süßes für uns und ist die einzige Schönheit, die eine That ins Große verklärt. Wäre nicht der Tod, wir unternähmen gar nichts mehr, was unserm göttlichen Ursprung Ehre macht. Es ist, als forderte uns um so mehr ein Preis heraus, je höher die damit 55 verbundene Gefahr ist. Ja wirklich, was könnten wir sein, wenn das Schöne auf Erden sich hielte! Gerade der unterliegende Kampf gegen das Verhängniß zieht uns darum auch himmelan!«

Einige Tage nach Hendrika's Begräbniß wurde der Edeln ein Opfer gebracht, das reiner gen Himmel stieg, als alle Seelenmessen, die für sie auf Jahre hinaus von der Mutter gestiftet wurden. Trendchen Ley kehrte in die volle Trauerkleidung zurück, welche sie, obgleich ihr Trauerjahr um ihre Mutter noch nicht vorüber war, auf ihrer seligen Herrin Wunsch doch theilweise schon gemindert hatte. Tief verhärmt war sie lange schon; ihr schönes blondes Haar verrieth nichts von seiner alten gefallsamen Pflege. Schon lange nagten die bittersten Schmerzen an ihrer Ruhe. Piter hatte einem gewissen geheimen Familienconvent nicht beigewohnt. Als er dessen Resultat erfuhr, das Beziehen des obern Stocks durch die jungen Goldfingers – Johanna sollte sich, infolge von Guido's heroischer Niederlegung der Professur nun doch noch vor Beendigung der »Heiligen Botanik« verehelichen – erklärte er das ganze obere Stockwerk für sich allein zu bedürfen, d. h. für seinen nächstens zu eröffnenden Hausstand, und niemand anders, als »ein einfaches, bescheidenes Mädchen aus dem Volke«, keine »Staatsdame«, würde er heirathen. Gegen dieses Au contraire war ein Widerstand schon deshalb schwierig, weil in der That die ganze Familie Trendchen liebte und wie eine Verwandte behandelte. Plötzlich nun verschwand Trendchen eines Tages. Sie war, wie man erfuhr, bei den Karmeliterinnen. Man konnte annehmen, daß sie den Schleier nehmen wollte. Cajetan Rother, Beichtvater der Damen vom Römerweg, kam selbst zur Commerzienräthin und erklärte, schon lange trüge dies junge Mädchen die schwärmerischste Liebe zur seligsten Jungfrau im Herzen und würde der Majestät ihres göttlichen Sohnes jedenfalls die Huldigung bringen, eine Braut Christi zu werden.

56 Mitten in dem furchtbaren Revolutionsausbruch, den diese Nachricht im Kattendyk'schen Hause zur Folge hatte – Piter drohte nicht weniger, als die Kathedrale bis auf den letzten Stein zu schleifen – waren Veranlassungen eingetreten, die Lucinden bestimmten, sich zur Dolmetscherin der Wünsche zu machen, welche die Commerzienräthin in Betreff der vielbesprochenen neuen Unternehmung der Frau von Sicking hegte. Im höchsten Grade aufgeregt kam sie in das Toilettenzimmer ihrer Gebieterin und fragte mit angstentstelltem Antlitz, ob sie nicht, um jene Bußfrage zu ordnen, selbst nach Witoborn reisen könnte. Wally Kattendyk, hocherstaunt, weinte Thränen der Rührung über diesen edeln Entschluß, küßte Lucindens Stirn und Wange und drückte sie an die eben im Entschnürtwerden begriffenen Corsetverschanzungen ihres Herzens. Noch am selben Abend durfte Lucinde, wie sie es wünschte, abreisen.

Als Lucinde sich wieder entfernt hatte, kam Nück, der unterdessen Rother'n auf der Straße begegnet war, mit einer Anzahl in den Bart gemurmelter Vermuthungen über die seltsam geheimen Zusammenhänge der Ursachen, die der Flucht Trendchen's zum Grunde liegen mochten – Piter war noch auf dem Polizeiamt und requirirte eine Hülfe, die ihm (nach der Bulle De salute animarum) nicht werden konnte, sobald Gertrud Ley auf ihrem Willen bestand und von ihrem Vormund in Kocher am Fall, einem Handwerker, die Zustimmung zum Eintritt ins Kloster brachte. Nun hörte Nück von der Reise, welche Lucinde beabsichtigte.

Nach Witoborn –? fragte er staunend. Das ist ja seltsam, setzte er hinzu und suchte Lucindens Zimmer. Am Vormittag war sie, ohne ihn zu finden, zweimal bei ihm gewesen. Er hatte gerade am Gericht plaidirt.

Als Nück eintrat, fand er Lucinden schon vollständig zur Reise gerüstet. Erst wollte sie mit einem hastigen Worte aufwallen, 57 dann beherrschte sie sich und sank auf einen der Koffer nieder, die rings um sie her standen.

Aber was ist denn, mein liebes Fräulein? fragte er mit hoch aufgerissenen Augenbrauen.

Was – ist –? Ich reise – nach Witoborn! war die leise verhauchende Antwort.

Das hör' ich mit Befremden, erwiderte Nück. Und mit Extrapost noch dazu? Im Hof unten steht »Mutters« Reisewagen. Joseph begleitet Sie doch? . . . Und nicht einmal das? Nein? Nur die Pferde fehlen noch? Aber, liebste Freundin, welche Eile –? Alles das – machen Sie mir nichts weiß! – der Exercitien wegen –?

Lucinde saß, beide Hände aufgestützt. Die eine hielt die Bänder eines Reisehuts, der auf der Erde schleifte. Allmählich hob sie von unten her den Blick und durchbohrte mit prüfender Schärfe die völlig ruhigen Züge des Oberprocurators.

Sie waren bei mir, um Abschied zu nehmen –? fragte dieser mit erhöhtem Erstaunen.

Zweimal! antwortete sie scharf betonend und durch seine Ruhe in ihrer Elasticität schon nachlassend.

Gestehen Sie, wandte sich ihr Nück näher, es ist die Eifersucht, die Sie so mächtig ergreift! Sie haben von den Erfolgen des Domherrn gehört. Tagelang ist er mit Gräfin Paula zusammen. Er magnetisirt sie sogar.

Lucinde hielt die Hände über die Augen, als blendeten sie die Lichter, die auf dem Tische standen.

Haben Sie schon vom Tod des Kronsyndikus gehört? fuhr Nück fort. Ich hörte vorläufig nur, daß er sterben wird! Fürchten Sie, von seinem Testament ausgeschlossen zu sein?

Lucinde schwieg.

Der Präsident von Wittekind ist bereits nach Neuhof gereist. 58 Hätten auch Sie noch so viel Theilnahme für den alten Tyrannen, ihn noch einmal sehen zu wollen?

Lucindens Erinnerungen liefen geisterhaft an ihrer Seele hin. Sie sah den Kronsyndikus in Hamburg aus dem Wagen steigen, als er, damals schon leichenartig, bei den Geschwistern Carstens sie aufsuchte. Sie sah ihn in jener Nacht in Kiel, wo er gespenstisch mit dem Degen in der Hand von seiner zweiten Frau sprach. Dann drängte sich aber in die Theilnahme für ihn sein Schweigen, als sie mit Serlo's Familie umherirrte, darbte und vergebens auf seine Hülfe hoffte. Sie zeigte sich für seinen möglichen Tod ohne jede Theilnahme. In Nück's Benehmen nun keine Bestätigung gewisser Ahnungen, die sie hatte, findend, erhob sie sich und ging entschlußlos im kleinen Zimmer auf und nieder.

Wollen Sie Klingsohr das Mittel mittheilen, das ich Ihnen neulich sagte. um ihn aus dem Kloster zu bringen?

Alle diese Namen berührten Lucinden nur schmerzlich und trugen Nück ein: O schweigen Sie! nach dem andern ein. Ihr Reisegrund war in der That einer, den sie ihm nicht mitzutheilen wagte. Am frühen Morgen, als sie in die Messe gehen wollte, hatte sie eine Entdeckung gemacht, die sie mit eisigem Schrecken überlief. Am Posthof hatte sie vorüber müssen und war eines Briefes wegen in diesen eingetreten. Da stand ein Eilwagen, der soeben bespannt wurde. In Begriff einzusteigen, sah sie in Pelzen, mit Handtaschen, Fußsäcken, sechs bis acht Passagiere harren. Eine dieser Gestalten fiel ihr auf und noch mehr, wie sie sogleich sah, fiel sie selbst diesem Reisenden auf. Kaum hatte sie einen prüfenden Blick auf einen Mann in einem wassergrünen Flausrock, mit einem rothen Comfortable um den Hals, geworfen, als sich dieser auch sofort abwandte und schnell die Hände aus den Rocktaschen zog, in die er ruhig sie gesteckt gehalten. Sie sagte sich: Das ist ja Bickert –! Darüber konnte 59 ihr kein Zweifel sein. Wuchs, Gesichtszüge waren unverkennbar, nur das Haupthaar war ein anderes. Sonst roth, war es jetzt dunkelschwarz und lockig. Sie mußte stehen bleiben und wandte sich, um den Verbrecher näher in Augenschein zu nehmen. Jetzt, sah sie, entdeckte er, daß auch sie ihn erkannt hatte, und nun vermied er immer mehr, ihr ins Angesicht zu sehen. Einen Augenblick that sie, als entfernte sie sich; sie that es, um wieder zurückkehren zu können und sich vor die auf den Thüren befestigten Tarife zu stellen und scheinbar diese zu lesen. Jetzt wurde das Gepäck der Reisenden gebracht. Sie hörte: »Nach Witoborn!« Ihre Brust klopfte. Sollte sie den Unglücklichen anreden, der ihr seinerseits seine Nichtentdeckung, dem aber auch sie kürzlich eine große Hülfe und die Rettung ihrer Ehre verdankte, ihn, der sie mit jenen Papieren aus dem Sarg des alten Mevissen, wie sie wenigstens glaubte, zur ewigen Herrin über Bonaventura's Schicksal gemacht hatte? Sollte sie ihn fragen, ob denn er derjenige wäre, der nach Witoborn reiste? Da fiel ihr seine Mittheilung über Hammaker's Anträge, sein Wort vom »rothen Hahn auf ein Schloß« ein, sein »Sapristi!« als sie selbst in dem unterirdischen Gange von Westerhof und sogar von Nück begonnen hatte. Noch wogte ihre Angst um ein Verbrechen, in das sich Nück nun möglicherweise doch noch einließ, noch wogte die Furcht, länger hier so stehen zu bleiben, als die Namen der Passagiere aufgerufen wurden. Der, welcher ihr Bickert oder Jean Picard schien, stieg mit der Bezeichnung: »Herr Dionysius Schneid« in den Wagen. Sie hatte sich's aufs Beste merken können; denn der Name wurde zweimal gerufen. Nun blies der Postillon. Der Verbrecher fuhr von dannen. Unter der Einfahrt der Post drückte er sich in eine Ecke, um nicht beim Vorüberfahren und so in nächster Nähe beobachtet zu werden.

In erster Aufregung war Lucinde zu Nück geflogen. um aus 60 seinem Benehmen zu erkennen, ob sie sich ihn wirklich im Zusammenhang mit dieser Reise denken mußte – im Postbureau war ihr bestätigt worden, daß Herr »Dionysius Schneid aus Strasburg« seinen Platz bis Witoborn genommen hatte – Dann freilich sagte sie sich wieder: Nein, wie kannst du Nück an Dinge erinnern, die von seiner Seite ein einziges mal und auch da nur flüchtig und scherzhaft hingeworfen wurden –! Sie wußte, um was es sich in jenem zu Nück's tiefstem Verdruß verlorenen Proceß handelte, in jenem Proceß, der Paula's Lebensschicksal entschied. Sie wußte, daß zwar Paula mit dem Fund der Urkunde ihr Erbe erhielt, dann aber auch dem von einer durch die ganze Verwandtschaft festgehaltenen Etikette gestellten Ansinnen, sich mit dem Grafen Hugo zu vermählen, nachgeben mußte. Ihrer Rache konnte an und für sich nichts Süßeres geboten werden, als dieser schadenfrohe Hinblick auf Bonaventura's Schmerz. Dennoch wirkte entweder zu mächtig noch in ihrem, für alles Uebrige abgestorbenen, Herzen die Liebe und Sorge für ihn, um nicht zu erschrecken bei dem Gedanken, daß sich um den grausamen, sie »mit Füßen tretenden« Mann soviel Wildes begeben könnte, oder sie gedachte der Gefährdung durch einen Frevel, der dem Scheitern leicht ausgesetzt sein konnte und sie dann wol gar selbst in neue Wirren stürzte. Schon war wiederholt ihr Name genannt worden bei Veröffentlichung der Beda Hunnius'schen Briefe. Sollte sich der Fluch ihres Daseins immer greller und greller erfüllen? Sollte sie wol gar durch die wirkliche Ausführung geheimer Anschläge auf die Bahn des Verbrechens hinübergeführt, ihrer Bekanntschaft mit Bickert überwiesen, wegen ihrer Erlebnisse auf dem Profeßhause dem öffentlichen Gerichte preisgegeben werden? Sie wünschte die Folgen der That mit heißester Begier, zitterte aber vor ihrem Mislingen. Und da ergriff sie denn die ihr eigene namenlose Angst, welche sie vor jeder Katastrophe, ehe sie da war, erzittern ließ. Flügel hätte sie sich geben mögen, den Verbrecher einzuholen, ihm nicht von der Seite zu weichen, ihn von seinem Vorhaben zurückzuhalten.

Noch einmal ging sie zu Nück, fand ihn aber wieder nicht. Wohl sagte ihr die Ruhe des Nück'schen Hauses, die Ordnung des Geschäfts, der außerordentliche Reichthum, dessen Spuren sie auf Tritt und Schritt begegnete, immer und immer: Thörin, wessen hältst du Nück für fähig! Für wahnsinnig würd' er dich halten, sprächst du davon –! Und bin ich's vielleicht nicht? warf sie sich selbst ein. Seh' ich mich nicht mit Hammaker auf dem Schaffot, seh' ich mich dort nicht mit meinen Brüdern, mit Oskar Binder, mit meiner Hauptmännin – wie ich so oft träume! Die Stimmung einer wie von Furien Verfolgten und wie der höchsten Gewissensangst kam über die in sich haltlose, so tief ehrgeizige und nur noch aus Furcht vor Bonaventura am Guten haltende Seele. Um nur etwas thun zu können, was wenigstens den Augenblick festhielt, betrieb sie ihre Reise, schützte Gründe der Eile vor, ließ alle Anstalten wie zu einer Flucht treffen. Das Beste glaubte sie wenigstens darin zu thun, daß sie, selbst wenn keine Verständigung mit Nück möglich war, doch in die Nähe jenes Verbrechers zu kommen suchte, um seinen Arm zu ergreifen und ihm zuzurufen: Durch dich sollen mich die ewigen Mächte nicht rettungslos hinunterziehen!

Obgleich sie jetzt in ihrem kleinen Zimmer auf Nück Blicke der Verzweiflung warf, so erschien sie ihm doch bei alledem eine Zauberin; nur die rothen Kleider, die phantastischen Zeichen fehlten um ihre Schultern, der goldene Stab in ihren Händen und er hätte sie zur Priesterin, welcher Religion sie wollte, gemacht. Schon sprach er, mit heißen Seufzern sich ihr nähernd: Sie sind krank, Lucinde!

Sie fuhr zurück, als fürchtete sie, von seinem Athem vergiftet zu werden.

62 Sich sammelnd, bat er sie, sich zu beruhigen und ihm zu gestatten, die Pferde abzubestellen. Seine Augenbrauen zuckten dabei hin und her. Er öffnete in der That das Fenster, sprach in den Hof hinunter und bestellte die Pferde ab.

Lucinde ließ alles geschehen.

Kommen Sie! Was haben Sie? Sprechen Sie mit mir aufrichtig! Ich kann alles hören! sagte er jetzt gelassen.

Diese gleisnerische Ruhe war so entwaffnend, daß Lucinde, als jetzt die Thür aufging und die Commerzienräthin, Johanna, die Hausfreunde herbeieilten und mit Staunen von Nück den veränderten Reiseplan hörten, nicht widersprach und mit nach vorn zu gehen bereit war, ihre Furcht und ihr Bangen für den Augenblick beschwichtigend.

Nück folgte mit Ingrimm. Man hatte ihn in einer längst ersehnten Stunde gestört. Sein Humor scherzte jedoch alles hinweg. Er sagte, daß er nie geglaubt hätte, sich wieder an Thee gewöhnen zu können.

Bei der zur Schau getragenen Harmlosigkeit des schreckhaften Mannes vergingen Lucinden einige Tage in einem Zustand halber Beruhigung. Mehr noch vielleicht war es Abspannung. Monika von Hülleshoven machte Condolenzbesuch und nahm zugleich Abschied, um ebenfalls nach Witoborn zu reisen. Lucinde hätte sich der Hand dieser offnen, freundlichen und mit Rührung von Hendrika Delring sprechenden Frau anklammern und rufen mögen: Nimm mich mit! Monika's Blick war ihr jedoch kalt und streng. Es schien, als wollte auch sie schon nach seither öfter erfolgter Begegnung sagen – wie fast alle Frauen –: Wir gehören nicht zusammen!

Ihre Furcht erwachte aufs neue. An Nück zu schreiben wagte sie nicht. Täglich hatte er das Princip wiederholt, das sie von ihm bei ihrer ersten Unterhaltung bereits gehört: nur nicht 63 schreiben! Schon nach drei Tagen war ihr Zustand wieder völlig rathlos. Als sie gerade in den obern, schon von Delring verlassenen Zimmern des zweiten Stockes räumte, kam ihr Nück entgegen – wie zufällig. Hier, in den schallenden Zimmern, ohne Tisch und Stuhl, hier wagte er, nicht achtend der Erinnerung an eine Sterbestätte, wo sie standen, eine Scene herbeizuführen, wie die erste an jenem Piter'schen Festabend gewesen und wie sie neulich ihm gestört worden war. Doch unterbrach ihn Lucinde und sagte: Wollen Sie mich wieder auffordern, das auszuführen, wofür Ihr Hammaker den Bickert gedungen hat, der in diesem Augenblick vielleicht im Begriff ist, Ihren Proceß durch Mordbrennerei zu entscheiden?

Nück sah sie mit seinen weit aufgerissenen weißen Augen an. Schon ertrug sie diese Augen, die ihr früher so unheimlich waren.

In – diesem – Augenblick –? Was reden Sie da? sprach er.

Lucinde wiederholte ihre Frage.

Hammaker? Wer ist – Sie kennen – Was – wer ist – Ihr Bickert?

Letztere Frage war eine heuchlerische; aber die erste Rede, die Nück in angstunterbrochenen Worten ausgestoßen hatte, war in der That unverstellt.

Bickert, sagte Lucinde, jede Fiber in seinen Bewegungen beobachtend, Bickert – jener Kirchhofräuber des Dorfes St.-Wolfgang! Ich entdeckte ihn hier bei jener Gefahr im Profeßhause, wovon ich Ihnen noch nicht alles erzählt habe. Sie aber, Sie hat er mir genannt als den Mann, der ihm die Mittel geben würde, für immer nach Amerika zu entfliehen, wenn er – ja staunen Sie nur! – zuvor – auf einem Schlosse – Feuer angelegt und bei dieser Gelegenheit eine falsche Urkunde –

64 Gott im Himmel! Nicht so laut! unterbrach sie Nück. Die Wände haben ja Ohren –! Was sprechen Sie da alles zusammen?

Sprachen Sie nicht einst selbst so zu mir?

Ich? Zu Ihnen? Wann? . . . Nück stand besinnungslos.

In wessen Auftrag ist Dionysius Schneid nach Witoborn gereist? fuhr Lucinde mit überlegener Ruhe fort.

Dionysius – Schneid –? Wer – ist denn – das?

Nück zeigte eine unverstellte Befremdung und war zugleich in eine Aufregung versetzt, die ihm, dem Kalten, Ruhigen, Allem gleichgültig Zuwartenden den Schweiß auf die Stirne trieb. Kein Stuhl war im Zimmer, auf den er sich niederlassen konnte. Er taumelte zum Fenster hin, um sich dort zu halten; zufällig ergriff er eine noch zurückgebliebene Vorhangschnur. Diese ließ er sofort aus den Händen gleiten und stöhnte: Ich fange an – zu – ahnen –! Jesus Maria! . . . Ich hielt meinen Schutzengel von der Reise zurück! Ja, ja! Sie müssen fort, fort, sogleich! . . . Wär' es denn möglich! . . . Ich sah nichts, nichts als Ihre Liebe zum Domherrn – sogar die todten Schatten Serlo und Klingsohr beneid' ich noch –! Und nun – Fort! fort! Gleich! In diesem Augenblick!

Jetzt erbebte Lucinde noch mehr. Es war vor der Angst eines sonst so muthigen Mannes.

Wenn ich an jenem Abend, fuhr er mit ungewissem Stammeln und grauenhaftem Auf- und Abgehen seiner Kinnladen fort, über – die Urkunde – scherzte, wenn ich – die Urkunde nannte, die zu Ihrer Freude Paula – zur Gräfin von Salem-Camphausen – machen könnte, so geschah's im Taumel der Wonne, Sie allein zu sehen, Sie in Ihren Geheimnissen zu überraschen, Sie zu bewundern an einem so berauschenden Abend in Ihrem Glanz, zu Ihrer Schönheit! Können Sie wirklich glauben, daß ich in meinem Haß so, so weit gehen könnte –? Aber ja, Sie haben 65 Recht. Ich Wahnsinniger, einst habe ich zu solchen Plänen gelacht, habe drei verzweiflungsvolle Monate meines Lebens über dies Lachen hingebracht – drei Monate, wo Hammaker unter den Verhören der Richter stand. Damals kam kein Schlaf über meine Augen. Ich irrte umher, scherzte und – lachte, aber unterm Damoklesschwert. Hammaker war – ja, ich muß es doch zugestehen – ein Höllenbrand –! Für seine verlorene Ehre, für die nicht genug anerkannte Bildung, die er besaß, rächte er sich am Menschengeschlecht. Wie er mich auf dem Gewissen hat, darüber beicht' ich Ihnen, Lucinde, Ihnen – doch nur – wenn wir einmal in Rom sind. – Lassen Sie mir dies Bild – in der Wüste meines Lebens! Hammaker'n ließ ich – schon seit lange – für sich – gewähren und suchte nur von ihm loszukommen . . . Sobald er diese meine Absicht merkte, konnt' ich sicher sein, von ihm einen neuen Anschlag zu erleben. Er war der dunkle Schatten meines Lebens –! Und so von mir unzertrennlich blieb er, daß ich ihn sogar vor Gericht noch vertheidigen mußte –! Die unglückselige Dose –! Daß ich sie auch gerade in so peinvoller Situation ziehen mußte und ihm den Griff in sie verweigern! Eine Hölle grinste mich gleich an aus seinem Racheblick. Ich sehe – jetzt ist sie losgelassen!

Nück mußte sich halten vor Erschütterung – Lucinde dachte an Serlo, der damit einen ganzen Abend hatte zubringen können, zu errathen, wen wol Goethe in seinem »Clavigo« im Sinne gehabt, als er Carlos sagen läßt: »Ich, der ich dabei war, als dem Ersten der Menschen die Angsttropfen auf der Stirn standen« –? Lucinde hätte jetzt den vielen Beispielen verzweifelnd Ueberführter oder unerwartet vom Schicksal Geäffter, die Serlo aus seinem Leben nennen konnte, auch den Oberprocurator Nück hinzufügen können. Eines Tages, fuhr er in stammelnder Rede und so hastig fort, als würde schon allein durch seine Erzählung 66 der Moment des Handelns versäumt – eines Tages, als ich über die in dem großen Processe fehlende Urkunde klagte, sagte Hammaker, der ein Jurist war und seltene Kenntnisse besaß: Nück! Spielen wir – ein bischen Pseudo-Isidor –! Aber Sie verstehen das nicht –

Doch! sagte Lucinde. Der heilige Isidor von Sevilla hat die Regeln aufgeschrieben, nach denen sich allmählich euer kirchliches Recht bildete! Ein Geistlicher in Mainz, Benedict Levita, gab diese dann noch einmal heraus, aber gefälscht durch Zusätze, die der Macht der Bischöfe über den Klerus günstig waren. Die Bischöfe, um sich sicher zu stellen vor den Folgen jener Verfälschung, ließen ihrerseits durch neue Fälschungen dem ersten Bischof in Rom die höchsten Ehren zukommen. Ohne diese Lügengewebe des falschen Isidor von Sevilla gäb' es keinen Papst in Rom, keine dreifache, die Welt beherrschende Krone, auch keinen Orden vom goldenen Sporn!

Scherzen Sie nicht! sagte Nück gezwungen lächelnd und reichte mit zitternder Hand zu Lucindens Stirn hinauf, als wollte er sagen: Werth bist du, selbst eine Krone zu tragen –! Mit einem Gemisch von Huldigung, gemachter Frömmigkeit und Ironie warf er die Worte hin: Bei alledem sind Sie eine große Ketzerin –! Dann fuhr er fort: Ja! Hammaker sprach von diesem Pseudo-Isidor, der allerdings Rom groß gemacht hat – Und Rom gedeihe doch! Gedeihe durch eine Lüge! schaltete der Schurke ein. Ich lachte – lachte ohne Arg –! Ich beschwöre Ihnen das! Bei – Ihrer – Liebe zum Domherrn – beschwör' ich es, denn an etwas anderes in der Welt glauben Sie doch nicht! Hammaker veranstaltete alles, was ich – nur so obenhin zwar – aber doch schon von Entsetzen ergriffen – plötzlich zu ahnen begann. Immer hatte er etwas, was bald zu meinem Glück, bald zu meinem Verderben ausschlagen konnte. Er besaß alle 67 Kenntnisse, die dazu gehörten, eine falsche Urkunde im Geschmack der alten Zeit aufzusetzen, sie aufs zierlichste zu copiren, sie mit chemischen Mitteln wie wurmstichig zu machen, sie mit Kaffeesatz zu bräunen. Nur durch einen Act der List oder Gewalt konnte eine solche Urkunde in die Archive kommen. Ich ahnte ein Vorhaben dieser Art, das mich ewig zu seinem Sklaven gemacht hätte – Und das wollte er eben. – Ich beruhigte mich indessen – ich sah ja sein nahes Ende. Im Gefängniß wär' ich gern einmal auf meine Furcht zurückgekommen, nur hatt' ich Feuer an den Sohlen, so oft ich mit ihm reden mußte . . . Noch jetzt – sehen Sie – Nur an ihn denken und nicht schon handeln ist gefährlich – Sie müssen reisen, Lucinde – heute, heute noch –!

Lucinde stand mit klopfendem Herzen, zwar von Schrecken ergriffen, doch gefaßter schon, da sie die – Mitfurcht eines so mächtigen Dritten hatte. Vielleicht irr' ich mich auch in den Voraussetzungen über die Verkleidung jenes Picard! sagte sie, um Nück noch mehr aus sich herauszulocken.

Nein, nein! Diesen Dank hat mir Hammaker fürs Leben als sein Testament hinterlassen wollen! Nun weiß ich es für gewiß! Als er aufs Schaffot mußte, riefen die Teufel in seiner Brust: Folge mir auch du! Ich deutete in meinen Gefängnißgesprächen mit ihm auf seine frühern Aeußerungen über den falschen Isidorus hin. Da fuhr er auf und sagte höhnisch, daß ich ihm denn doch auch zu viel Devotion für meine Interessen zutraute. Für – meine Interessen? fragte ich forschend, mußte jedoch abbrechen. Und sehen Sie nun, wie ich mit ihm stand – jedesmal daß ich bei ihm war, hatte ich Gift bei mir, um es ihm anzubieten. Einmal machte ich davon eine Andeutung. Da sprang er auf mich zu und erschlug mich beinahe mit seiner Handschelle. Zum Glück entfloh ich noch rechtzeitig und die Wache kam herbei. Aber ich hörte die nichtswürdigsten Worte hinter mir herrufen. 68 Er glaubte einmal nicht an seine Hinrichtung – er wollte die Buschbeck nur im Ringen, nur im Vertheidigungsstand gegen eine Wüthende erwürgt haben. Voll Rache, auch gegen mich und meine scheiternde Vertheidigung, bestieg er das Schaffot. Seitdem athmete ich auf und ahnte nicht, daß er mich geradezu nach sich zieht. Neulich merkt' ich davon etwas zum ersten male. Ein Mensch kam zu mir und stellte sich mir als ein von Hammaker Gedungener vor –

Den – Den eben mein' ich! schaltete Lucinde ein.

Als ein Mensch, der tausend Thaler von mir bekommen würde, wenn er auf Schloß Westerhof bei Witoborn Feuer anlegte – im dortigen Archiv. Entstünde dann ein Tumult, – sollte er eine Urkunde, die er wohlverwahrt zu Hause hätte, in das Archiv bringen. Sie können sich denken, ich stand erstarrt. Endlich mich ermannend fuhr ich dem Menschen an die Gurgel und wollte die Wache rufen. Darüber entsank mir wieder der Muth. Immer würde auf mir ein Verdacht, ein Flecken geblieben sein. So redete ich dem frechen, der deutschen Sprache nicht ordentlich mächtigen Menschen zu, bat ihn vernünftig zu sein, solche Nichtswürdigkeiten nicht zum zweiten mal gegen mich auszusprechen und gab ihm zur sofortigen Abreise hundert Thaler. Wie bereu' ich die geringe Summe, die ich ihm gegeben! Auch die Drohungen, die ich ihm nachrief! Sofort, sagte ich ihm die Thür weisend, fahre ich auf das Polizeiamt! Ich werde Sie anzeigen und beobachten lassen! Da erst besann ich mich: Hammaker wird ihm gesagt haben: Gelingt es oder gelingt es nicht, so sind für Nück's Furcht tausend Thaler mehr oder weniger eine Bagatelle. Ewig kannst du auf die Art Geld von ihm ziehen! Jedenfalls mehr, als wenn du, heute oder morgen, in Westerhof uns beide angäbest und zum Dank – dann doch mit ans Eisen 69 müßtest! . . . Alles das höre ich! Lucinde, wir erleben eine große Demüthigung!

Nück kam unter dem Druck dieser Vorstellungen zu keiner Besinnung mehr und steigerte nur noch die Furcht Lucindens aufs äußerste. Er drängte wiederholt in sie, sofort abzureisen, Bickert aufzusuchen und durch ihre Beredsamkeit, natürlich auch durch so viel Geld, als sie nur mitnehmen wollte, den Verbrecher von seiner That zurückzuhalten. So reiste sie noch am selben Abend ab und kam in der leidenschaftlichsten Erregung nach Witoborn. Nur zu bald erfuhr sie hier, wo sich ein gewisser Dionysius Schneid befand. Schon auf Westerhof! Schon am Ziel seiner gewinnsüchtigen und frevlerischen Absichten! Wie aber näherst du dich ihm? Wie rettest du dich vor Schimpf und Schande? Im Geist sah sie sich schon durch alle diese Vorgänge auf die Bank vor den Assisen gebracht.

Willenlos hatte sie sich heute schmücken lassen. Willenlos war sie nach Münnichhof gefahren. Schon hatte Paula gestern von einer Feuersbrunst die Vision gehabt! Das hörte sie nun. Sie sah in Püttmeyer's rothen Transparentbildern nur immer Mord und Brand. Sie mußte sich selbst schon wie aus den Flammen losreißen. Brütend, wie sie an Dionysius Schneid kommen sollte, saß sie, zum Tod vernichtet, in dem dunkeln Zimmer.

Entsetzt aber fuhr sie auf, als ein Bedienter den Kopf durch die Thür steckte und sie nach ihrem Namen fragte. Vor ihren Blicken standen sogleich Häscher und Richter. Der Bediente sagte, ein Mönch, ein Laienbruder hätte bei einigen Dienern, die von Witoborn mitgekommen wären, nach dem Fräulein gefragt und zu seinem Erstaunen gehört, daß sie selbst hier anwesend wäre. Ob er sie sprechen dürfte?

Wer? fragte sie halb ablehnend, halb nicht begreifend.

70 Der Bruder Hubertus! Ein frommer guter Alter aus dem Kloster Himmelpfort drüben!

Hubertus –! Sie kannte ja den Namen. Aus Serlo's Erinnerungen sah sie den Pater Fulgentius vor sich, den einst Hubertus gerichtet hatte. Sie wußte auch, Hubertus war der ehemalige Verlobte ihrer Hauptmännin. Der »Bruder Abtödter«, der Klingsohr zum Pater Sebastus gemacht hatte. Naht sich schon wieder die Kette, die dich ewig an das Vergangene schmiedet? rief es in ihrem verzweifelnden Innern. Sie wollte den Mönch abweisen. Ehe sie jedoch noch erwidert hatte, öffnete sich die Thür und ein dunkler Schatten huschte herein.


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