Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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21 14.

Wie wenn sich in nächtlicher Waldeinsamkeit zwei kämpfende Hirsche mit ihren Geweihen so ineinander verwickelt haben, daß sie sich nicht mehr auseinander zu winden wissen, bis die Kraft ihrer Stirnen nachläßt und beide ermattet und zum Sterben bereit, ja wie zuvor im Tode noch versöhnt, zu gleicher Zeit hinsinken, so standen sich der Irrsinnige und der Mönch mit dem Todtenkopf gegenüber.

Immer schwächer und nachgiebiger wurde der Widerstand des Wuthschäumenden, der mit schweißbedeckter Stirn barhaupt dastand – seine Mütze war ihm entfallen. Wie aus einem Traum erwachend, begann er zuletzt in Ohnmacht zu sinken.

Mit ungeschwächter Kraft fing ihn der Mönch auf. Unbeweglich hielt er ihn in seinen Armen. Kein Laut, keine Anrede kam aus seinem Munde. Der Landrath brach zusammen und verlor die Besinnung.

Einsamkeit ringsum. Nur die düstern Tannen waren die stillen Zeugen des schreckhaften Auftritts. Beide Männer auf dem schmelzenden Schnee stehend. Hubertus in Sandalen, der Nässe und Kälte nicht achtend, der Rittmeister mit Koth bespritzt bis zur Achsel. Zum sich weitab verziehenden Lärm der Jagd, zum Knallen der Büchsen, zum Bellen der Hunde, zum noch 22 jeweiligen Durchbrechen des Wildes, das scheu und stutzend anhielt, ein Gegensatz, der den Muth und die Geistesgegenwart eines Helden herausforderte.

Noch immer ließ der Mönch den Arm des Landraths nicht. Er wollte ihn, wenn er zur Besinnung kam, verhindern, zu entfliehen und wieder der Gesellschaft nachzurennen; denn daß er mit einem Mann zu thun hatte, der das Licht der Vernunft verloren, hörte Hubertus bald an allem, was der Unglückliche allmählich zu sprechen begann.

Ich bin der Landrath –! sagte er erwachend.

Wohl! Wohl! Herr von Enckefuß! flüsterte der Mönch mit milder und beruhigender Stimme.

Nehmen Sie sich vor mir in Acht! Ich kenne Sie sehr wohl! fuhr der Rittmeister nach einer Weile fort.

Große Ehre, Herr Landrath!

Sie sind der Doctor Klingsohr!

Pater Sebastus jetzt!

Wie konnten Sie sich unterstehen, mich von meinem Freunde Wittekind fortzuschicken? Das war mein bester, einzigster Freund! Und der – wollte sonst doch auch das Pfaffengesindel nicht. Laß mich, Kapuziner!

Der Mönch bedeutete den Rittmeister, der den Grafen Münnich mit dem Kronsyndikus verwechselte, auf dessen Jagden er früher den Matador gemacht, mit nickenden Zustimmungen.

Nicht wahr? Ich bin eingeladen? fragte der Landrath kleinlaut. Diese Worte wiederholte er öfter und mit Pfiffigkeit und fuhr dann stolz fort: Mein Vater hat die Schlacht bei Belle-Alliance gewonnen! Du sagst wol auch Wellington? Landesverräther! Man muß euch hier alle niederschießen! Alle! Eher kommt ins Land keine Ruhe und kein Patriotismus!

Dabei gingen beide schon fürbaß. Manchmal zankend und 23 ringend, manchmal beruhigt still stehend. Der Mönch ermüdete nicht, den Tobenden durch Eingehen auf die Vorstellungen eines kranken Mannes zu besänftigen. Jener rief: Ich werde euch zeigen, welche Verwandte ich habe! Ihr sollt euch wundern, wer meine Protection ist! Schon mehr als dreißigmal hat der König mit mir gesprochen! Betteln kann ich so gut wie andere, aber – ich gebe keine fünfzig Procent! Auf Spiel steht jetzt Strafe! Haha! Tangermann! Zimmer 15! Lieutenant von Barnekow und Rittmeister von Enckefuß – nehmt euch in Acht! Rittmeister a. D. Ade! Soll ich denn mit Gewalt ein Müller werden –? Der Verirrte sprach letzteres Wort fast mit Weinen. Zur Nachgiebigkeit mußte ihn der Zuspruch des klugen Mönchs ermuntern, der bald die Milde, bald die Energie selbst war, ihm in allem Recht gab, ihn in dem Glauben, daß er der vornehmste, geachtetste und arrangirteste Mann der Provinz wäre, bestärkte und ihn doch wieder festhielt, wenn er ungeberdig um sich schlug. Hedemann, sagte Hubertus, der, der wäre ja der Müller! Aber auch noch ein Oberst könnte hier ein Müller werden, setzte er plaudernd hinzu.

Fehlte irgendetwas, um dem in seinem Wesen einfachen, ja trotz seiner Kraft kindlichen Mönch das Vertrauen des Unglücklichen zuzuwenden, so war es die Erwähnung seines Sohnes. Auf das Kichern und Lachen, mit welchem der Landrath, nach der Erwähnung des Obersten, ein Dutzend mal hintereinander: Papiermüller! Papiermüller! rief, hatte derselbe einen uneröffneten Brief hervorgezogen und stolz gerufen: Na da kuck' einmal! Das ist von meinem Sohn!

Von Ihrem Herrn Sohn? hatte kaum der Mönch wiederholt und von seiner letzten Reise her dessen hoffnungsvolle Carrière gerühmt, so leistete der Landrath keinen Widerstand mehr, sondern ergab sich ruhig, folgte und sprach, auf den Brief deutend, 24 mit Behagen: Ja, mein Sohn – der ist in drei Jahren Minister! Den Adlerorden, den hat er schon – er darf ihn nur noch nicht zeigen! Alles weiß mein Junge! Und wenn du schweigen kannst, Pfäffchen, sollst du auch hören, was mir mein Sohn geschrieben hat! Das ist die Handschrift, die der König so sehr an ihm liebt! Sein König! Das kennt ihr hier zu Lande gar nicht, was es heißt: Mein König! »Helft Leute mir vom Wagen ab« (er sang mit leiser Stimme), »mein König trank daraus!« Lies, Alter, und siehst du, der Bindestrich immer wie ein Grundstrich und der Grundstrich immer wie ein Bindestrich! Das hilft nun nichts! 'Was Apartes muß der Mensch haben! . . . Mit der feierlichsten Würde seine Autorität behauptend, öffnete er den vielleicht kurz vor dem Verlassen seiner Wohnung empfangenen amtlichen Brief und ließ, während er ihn vorlesen wollte, den Mönch mit einsehen.

Nicht daß der Alte in der braunen Kutte neugierig war; ihm genügte, daß den Wahnwitzigen diese Gedankenreihen zerstreuten und er hoffen konnte, ihn auf diese Art allmählich zum Meyer von Borkenhagen, dem nächsten Ort, zu führen, wo er ein Fuhrwerk anspannen zu lassen gedachte, um den Kranken nach Witoborn in seine Wohnung zurückzubringen. Plötzlich aber fiel ihm in dem Briefe, der eiligst und offenbar unter dem Siegel amtlicher Verschwiegenheit geschrieben war, ein Zeichen auf, vor welchem ihn Schauder ergriff. War in dem Briefe – von ihm selbst die Rede? Stammer (der als der Jagd unwürdig am fernen Waldrand bei der Wagenburg geblieben war) hatte an jenem Abend im Finkenhof Recht gehabt – Hubertus trug jenes bekannte Verbrecherzeichen, ein Galgenrad, auf seinem fleischlosen Arme. Und dies nämliche Zeichen – in diesem Briefe hier sah er es abgebildet! Was sollte das –? Der Landrath hielt, nach Art der Fernsichtigen, den Brief so 25 weit von sich, daß Hubertus mit einsehen konnte während des Vorlesens.

Der Irrsinnige las jedoch etwas völlig Anderes, als was im Briefe stand. Er las nur aus ihm die Ideen heraus, die in seinem Kopfe lebten, während Hubertus sofort bemerkte, daß der Inhalt ein hochwichtiger und ihn persönlich betreffender war.

Der Landrath las: Lieber Vater! Die Canaillen helfen einmal nicht – Dieser Kattendyk ist und bleibt ein Esel – Nück hat Dir den Tod geschworen – Deine Widersacher triumphiren! Halt' aber aus, bis ich ans Ruder komme – Dann soll es mir und Dir nicht fehlen und auch dem Präsidenten zahlst Du heim, gegen den Du viel zu lange zu stolz gewesen bist! – Warum lässest Du Dir Dein Schweigen nicht bezahlen? Warum schonst Du Räuber und Mörder und thust alles das umsonst? Weil Du zu stolz bist! – Ja! Cavalier vom Tschako bis zum Sprungriemen! Lernt uns von Anno 13 kennen. Einen Rittmeister von den braunen Husaren! – Ihr Landfriedensbrecher! Ihr Römlinge! Die Cocarde erkenn' ich euch ab! – Auf die Jagd bekommst Du Deine Karte so gut wie hier jeder andere von Distinction! – Monsieur le Baron d'Enckefuss est invité à la chasse –! Hier salutirte der Rittmeister mit dem Brief an seiner wachsledernen Mütze, die ihm Hubertus von der Erde aufgehoben, dann getragen und zuletzt wieder aufgesetzt hatte. Seine schwarzen Augen funkelten, die rothe Nase glühte, im Regen hatte sich die Tusche seiner Gesichtsfarbe verwischt und floß in langen Streifen um den sich jetzt in seiner Grauheit verrathenden Bart. Jeder, der im Walde dahergekommen wäre und hätte beide schreckhafte Gestalten gesehen, wäre bebend zurückgewichen.

Denn auch Hubertus hätte sich jetzt an dem Wankenden halten mögen. Sein Geist war mächtig in der Kraft des Willens, nicht in der Combination. Anfangs ganz ohne Verständniß blickte 26 er in die Schrift, die ihm der Landrath entgegenhielt, bald aber las er im klarsten Zusammenhange und die Pausen des Landraths nutzend, Folgendes: »Lieber Vater! Eine Nachricht von Wichtigkeit, die ich Dir persönlich mittheile, damit Du Dir allein das Verdienst dieser Entdeckung erwirbst und die Kränkungen, die über Dich der Parteigeist verhängt, durch Deine Thätigkeit beschämen kannst! Ein Verbrecher, der in Frankreich zwanzig Jahre auf den Galeeren lebte, ist in unsere Gegend gekommen und hat sich bei seinem ersten Auftreten sogleich in seiner ganzen Gefährlichkeit gezeigt. Auf einem Kirchhof hat er einen Sarg erbrochen. Ein halbes Jahr hat er dann verstanden, sich an einem mir noch unbekannten Orte in unserer Stadt verborgen zu halten. Bei den Unruhen, die sich über die Verhaftnahme des Kirchenfürsten noch täglich wiederholen, wurde auch er bemerkt und ohne Zweifel steht er im Solde des verschlagenen, heimtückischen Nück. Schon Hammaker, der uns seit Jahren das Nück'sche Treiben beaufsichtigte, wollte erfahren haben, daß jener Kerl in Eure Gegend gehen würde, um etwas dort auszuführen, was Hammaker noch nicht zu wissen behauptete. Ich aber weiß so viel, daß Jean Picard, auch Jan Bickert genannt (Hubertus stockte im Lesen und hielt sich an den vorstehenden Zweigen eines Busches), auf dem Wege in Eure Gegend ist, reich mit Geld ausgestattet. Suche auf Grund des nachfolgenden Signalements hinter eine mögliche Verkleidung zu kommen: Jean Picard ist gegen funfzig Jahre alt, spricht schlecht deutsch, gut französisch, holländisch, hat mittlern Wuchs, röthliches Haar und eine stark orientalische Physiognomie. Auf seinem linken Arm befindet sich das Zeichen der französischen Galeeren T. F.; auch soll sich, wie von der Verwaltung der Galeeren in Brest geschrieben wurde, der holländische Verbrecherstempel (Hubertus starrte der Abbildung des Zeichens) auf ihm eingebrannt finden. Schließlich mach' ich Dich 27 aufmerksam, daß soeben in größter Eile von hier eine Dir von früher vielleicht nicht unbekannte Dame Lucinde Schwarz nach Witoborn gereist ist. Beobachte auch deren Schritte! Ich vermuthe sogar, daß ihre plötzliche Abreise im Zusammenhang mit irgendeinem, möglicherweise auf Nück's Anstiften bezweckten Unternehmen des Jean Picard steht. Lucinde Schwarz wird dicht in Deiner Nähe sein und bei einer Frau von Sicking wohnen, an welche sie von hier aus empfohlen ist. Beobachte sie und ihren Umgang genau und laß besonders das Schloß Westerhof bewachen, da ich eine Ahnung habe, daß sich gerade dort etwas ereignen könnte, was nicht in der Ordnung ist! Lieber Vater, in Eile Dein treuer Sohn E.«

Schon auf eine bloße Anerkennung der vortrefflichen Handschrift hin konnte der Mönch den Brief ganz an sich nehmen und behalten. Seine knöcherne Hand zitterte, als er das Schreiben in seine Kutte steckte. Er, der sonst so schnell Gefaßte, hatte die Besinnung verloren. Denn seit Monaten suchte er ja zwei Menschen, deren Andenken ihm in dem Augenblick aufs lebhafteste entgegengetreten war, als er die Anzeige erhielt, eine ermordete Frau hätte ihm ein Vermögen von zwanzigtausend Thalern hinterlassen. Längst hatte er der Erinnerung an jene Entsetzliche sich entwöhnt. Sein Leben lag ihm nur noch im flüchtigen Augenblick. Nur in Gesprächen mit Pater Sebastus tauchte zuweilen ein altes buntes Bild verklungener Tage auf. Noch kürzlich sagte Sebastus zu ihm in seiner Krankenzelle: Hubertus! Sie müssen in Java gelernt haben Liebestränke brauen! Gewiß hatte die Frau einen Trank von Ihnen gekriegt! Denn zeitlebens dachte sie nur an Sie und ich will nicht hoffen, daß Ihre Erbschaft das Ergebniß einiger Giftmorde ist, zu denen Frau von Buschbeck ihre Force gehabt haben soll! Hubertus, hocherstaunend, lehnte die Antretung der Erbschaft nicht ab. Die 28 grausame Zerstörerin seines Lebensglücks war durch die Hand desselben Mannes gefallen, der ihn einst in jenes Convict begleitet hatte, wo er selbst am Pater Fulgentius ein so ernstes Strafgericht gehalten, indem er den, welcher den Tod zu lieben vorgab, auch nicht verhinderte, wirklich aus dem Leben zu gehen. Damals war dieser, kürzlich erst hingerichtete, Jodocus Hammaker ein Mann von Bildung, von Talent gewesen, von angenehmen, gefälligen Formen. Wie, dachte er, wie hatte ein solcher Mann so verwildern, zum Mörder werden können! Ihm weckte das sein eigenes vergangenes Leben, seine Jünglingszeit, wo auch er am Rande des Verbrechens, gefahrvoll für seine Seele, dahingeschritten. Gedenkend des Tages, wo er im Klostergarten dem Mörder Hammaker erzählte von seiner Vergangenheit, von seinem Sprung aus einem brennenden Hause, kam ihm mit wehmuthvollen Klängen die Erinnerung an jene beiden Kinder, die damals seiner Obhut anvertraut gewesen, zwei Seelen, die Gott durch ein Wunder, durch seinen Muth errettet wissen wollte, zwei Zöglinge, von denen er sich, als man ihn nach Java schickte, mit so bitterm Kummer seines jungen Herzens getrennt hatte. Wo mochten sie jetzt wol sein? Das beschäftigte den »wunderlichen Heiligen« in seiner Klostereinsamkeit sonst schon seit Jahren, so jetzt aufs neue und lebendiger denn je. Was war aus ihnen geworden? Wie, wenn sie im Elend, auf dem Wege des Verbrechens lebten! Er erhielt eine so ansehnliche Summe! Sollte er sie seinem Kloster geben? Er mochte es nicht, seitdem der ihm und allen verhaßte Pater Maurus Guardian und jetzt sogar Provinzial geworden war. Wie, dachte er, wenn ich das Geld annähme, meine beiden Pflegebefohlenen zu entdecken suchte und es ihnen zukommen ließe, falls sie's bedürfen sollten oder dessen würdig wären? Diese Vorstellung erfüllte ihn mit solcher Lebhaftigkeit, daß er in der Einsamkeit der Klöster, auf den Wanderungen, die er im 29 Auftrag des Provinzials zu machen hatte, stündlich darauf zurückkam: Wo lebt Wenzel von Terschka? Wo Jean Picard? Vor vier Monaten hatte er auf einer dieser Wanderungen zuerst die Nachricht über jene Erbschaft empfangen – gerade war er in Ordensaufträgen in Belgien gewesen, nach Holland gegangen und befand sich nun in Gröningen. Er hatte von Jean Picard nichts vernommen, als daß er von Brest nach einer Reihe von Jahren fortkam und in Paris verschollen sein sollte; von Wenzel von Terschka nichts, als daß er nach seinem Unfall in Amsterdam südwärts nach der Schweiz und von dort nach Italien gegangen war. Jetzt begegnete er plötzlich vielleicht beiden – hier! Dem einen in einer vornehmen, glänzenden Stellung! Dem andern auf dem längst von ihm geahnten Wege des Verbrechens!

Wenzel von Terschka war allerdings ein Name, der, wie er gehört hatte, so häufig in Böhmen vorkommt, wie in Deutschland die Namen Wilhelm von Schulze oder Heinrich von Schmidt vorkommen könnten. Aber die seltsame Aehnlichkeit der Züge mit denen jenes Kindes, das er bis zum fünften Lebensjahre gekannt hatte, als er anfangs an der einsamen Mühle des Müllers Sterz, dann bei einem Scharfrichter zwischen Zütphen und Deventer mit den beiden Knaben lebte! Allerdings, dieser vornehme Cavalier, der heute früh in so geheimnißvoller Art mit dem Pater Maurus eingeschlossen war (im einsamen Bibliotheksaale des Klosters, der für diesen Zweck eigens hatte geheizt werden müssen), dieser stand ihm keine Rede, lehnte jede Frage nach seiner Geburt und Jugend und nach Angehörigen seiner Familie ab. Jetzt aber – Jean Picard! Der lebte! Lebte hier! Ein Mann mit jenem Verbrecherstempel, welchen er so gern hätte bei der Jagd auf Terschka's linkem Arm entdecken mögen! Und diesem Picard gesellte sich der Name jener Lucinde, die er zwar nie auf dem von ihm gemiedenen Schloß Neuhof selbst gesehen hatte, die er jedoch in allem 30 kannte, was sie dem armen, gebrochenen Pater Sebastus, dem weiland Doctor Klingsohr, so werth gemacht hatte und noch machte. Auch sie in der Nähe! Sie, um derentwillen noch jetzt Sebastus in seiner Strafzelle seufzte, um derentwillen er, vor seiner Rückkehr aus Holland, mit einigen Fremden, die ihn besuchten, eine Flucht verabredet hatte. Sie in Verbindung mit Verbrechern! Unmöglich, unglaublich schien es ihm. War sie in der That bei jener vornehmen Frau von Sicking, so beschloß er, soweit ihm die Ueberraschung, soweit ihm die Sorge um den Kranken, den er führte, schon jetzt einen Entschluß, den er zu fassen hatte, möglich machte, zunächst Lucinden aufzusuchen, ihr den Brief zu zeigen, ihr nach Jean Picard Fragen vorzulegen und ihr die Pflicht vorzuhalten, soweit ihre Kraft reichte, ihn jetzt zu unterstützen, um Verbrechen zu hindern, in denen dieser Unglückliche nur zu heimisch zu sein schien.

In solchen Stimmungen, solchen Aufregungen und Ahnungen gewaltiger Conflicte mit seinem Klosterfrieden verlor er um den Kranken, den er führte, die Obhut und Sorge nicht aus dem Auge. Das seltsame Paar hatte den Wald verlassen und entfernte sich vom immer mehr verklingenden Lärmen der Jagd. So manches Reh war an ihnen vorübergesprungen. In den kahlen Zweigen der Bäume rauschte es von deren aufgescheuchten Bewohnern. Schon war es Ein Uhr. Die Jagd dauerte bis gegen Untergang der Sonne. An einer bestimmten Stelle waren die Vorbereitungen zu einem Imbiß im Freien getroffen. Vor Fünf rechnete man nicht auf die im Schloß zu genießenden Leistungen der gräflich Münnich'schen Küche, während die versammelten Damen der Jäger so lange von Püttmeyer's Transparentbildern unterhalten werden sollten.

Immer ruhiger, immer stiller und hinfälliger wurde der Landrath. Hubertus mußte bedacht sein, den Frierenden, fieberhaft 31 Zitternden unter Dach und Fach zu bringen. Der Regen mehrte sich. Auf dem an manchen Stellen spiegelglatten Boden war kaum noch fortzukommen. Kaum hielt sich der Landrath noch aufrecht; er mußte fast getragen werden. Nur noch durch Zeichen äußerte sich der Wille des Kranken; aus Ueberreizung war er halb in Ohnmacht gesunken; er klapperte mit den Zähnen. Ein so unendlich wehmüthiger Ausdruck war, trotz der entstellten und beschmuzten Gesichtszüge, aus diesen herauszulesen, daß man wohl annehmen konnte, dem leichtsinnigen, ehrgeizigen Mann hatten die fortgesetzten Kränkungen seines Ehrgefühls, die er nun schon seit Jahren und besonders seit den letzten Monaten erfuhr, das Herz gebrochen.

Der dem Walde zunächstliegende Kamp war dem Mönch als der armseligste in ganz Borkenhagen bekannt. Hier wohnten die im Kirchenbann befindlichen Aeltern Hedemann's. Daß es gerade der Landrath gewesen, der diese mit ins Elend gebracht hatte, wußte Hubertus. Er sah sich um in der Gegend. Niemand war zugegen, der ihm den ohnmächtigen Mann hätte abnehmen können und in ein Obdach tragen helfen, das er als Angehöriger der Kirche eigentlich nicht betreten sollte. Doch wagte er die Sünde auf Rechnung der vielen, die er bald würde zu beichten haben, wenn er fortfuhr nach den Eingebungen zu handeln, die mit der Nennung des Namens Terschka und dem Brief, den er in seiner Kutte trug, seinen ganzen Menschen erfüllten.

Eine kleine Anhöhe ging es hinauf, die zu dem Erbe Hedemann's führte, für dessen Bestellung jene betrogenen Alten seit Jahren nichts mehr gethan hatten. Da lag schon das Staket, welches sonst das wie tief in die Erde gekrochene Haus einfriedigte, in einzelnen Theilen im Wege. Am Brunnen, den kein Stroh vorm Erfrieren des Wassers schützte, lagen die Eimer 32 leck oder eingefroren. Eine Leine hing von einem der wenigen noch umstehenden Bäume zum andern; einige weiße Fetzen an ihr, aussehend vor Frost wie Vogelscheuchen, die gespenstisch im Winde flatterten. Aus dem Hause drang ein blauer stickiger Qualm. Die Thür stand offen; ein Birkenstamm versperrte den Eingang, der vor Rauch kaum zu gewinnen war. In der Küche am Herd saßen auf dem im Kamin brennenden Baum die beiden Alten. Hedemann's Mutter spann, der Vater schnitt Dauben und Klammern – ein Erwerb, den er auf Drängen des Meyers ergriffen, als in der Fremde der Sohn nicht ahnte, wie übel es mit den Aeltern stand, und den er nun fortsetzte, obgleich er ihn nicht mehr nöthig hatte; ein Verlassen oder Verbessern ihres Kamps konnte Hedemann zwar ebenso wenig bewirken, wie ihnen eine Bequemlichkeit durch eine Magd oder einen Knecht aufdrängen, am Nöthigsten aber ließ er es ihnen nicht mehr fehlen.

Schon wußte der Mönch, daß er keinen Gruß bekam, daß ihn ein dumpfes Murmeln hinwies, sich das zu nehmen, was er begehrte. Selbst der ungewohnte Anblick: ein Mönch, der einen kranken vornehmen Herrn, noch dazu den Landrath, hereintrug und auf einen Futterkasten setzte – der Landrath fieberte jetzt und war besinnungslos – nichts konnte diese Leute aus ihrer welt- und menschenscheuen Fassung bringen. Die Alte spann, der Greis schnitt seine Dauben.

Hubertus fand jedoch Hülfe. Eben, als er an den Herd gehen wollte, um den großen Kessel abzuhenken, in welchem sich in diesen Bauernhäusern immerfort heißes Wasser befindet – er hoffte Butter und etwas Brot zu finden, um dem Kranken eine Suppe zu machen – bemerkte er in der gespenstischen Stille eine dritte Person in der Ecke des Kamins, einen Mann, der über ein Buch gebeugt saß und darin las. Wie aus einem Traum erwachend 33 fuhr der Leser auf und sah erst jetzt, was während seiner Zerstreuung geschehen war.

Remigius Hedemann, der Sohn, war es, der hier bei seinen Aeltern gesessen und in seiner Lectüre sich nicht hatte wollen stören lassen – er las in einer italienischen Bibel. Was ist das? fragte er, nun sich erhebend und voll Staunen den Rittmeister von Enckefuß betrachtend, den er sogleich erkannte. Hat der Landrath ein Unglück gehabt?

Der Mönch erklärte in Kürze den Zustand des Leidenden und bat, sich seiner annehmen zu wollen. Er seinerseits wollte, nach weiterer Besinnung, lieber auf Münnichhof zurück und den Diener des Landraths rufen, der mit einem Wagen kommen sollte, um den Unglücklichen nach Witoborn in seine Wohnung zu fahren.

Der unerwartete Beistand, den Hubertus gefunden, half ihm den Besinnungslosen auf ein Strohlager tragen. Hubertus' Auge fiel dabei auf das dicke Buch in kleinem Format. Anfangs hielt er den Druck für Latein und drückte sein Erstaunen aus über die Gelehrsamkeit, die Hedemann aus Amerika mitgebracht. Da ist es kein Wunder, sagte er, daß Ihr in Witoborn Papier machen wollt!

Lächelnd erwiderte Hedemann: Thut Buße und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen!

Der Landrath erwachte beim Anordnen des Ruhelagers, besann sich jedoch weder auf die Lage, in welcher er sich befand, noch auf die Personen, die ihn umgaben. Seinen Bedienten verlangte er und seinen Pudel. Den letztern sah er im Geist deutlich vor sich und lachte, wie kahl er den Kerl geschoren hätte. Er hielt die Finger spielend in die Höhe, als ließe er die Flocken 34 durchgleiten, die er dem Thier erst kürzlich weggeschnitten. Es waren die bekannten Geberden eines Sterbenden.

Hubertus versprach, so schnell wie möglich Hülfe zu schicken. Thut wohl euerm Feinde und so ihn hungert, speiset ihn! sagte auch er mit Bibelworten, des Landraths Verhältniß zu dieser Hütte andeutend. Es war der Landrath gewesen, der diese Leute einst in ihrem patriarchalischen Glauben an die Heiligkeit des geweihten Priesterthums irre gemacht hatte.

Hedemann nickte diesem Wort, warf einen Blick auf die Kleidung des Mönchs und sagte, zunächst wol nur mit einer Andeutung des Kirchenbanns, in welchem seine Aeltern lebten: Darin sind wir ja einig!

Der Landrath blieb bei seinen Feinden. Hedemann pflegte den Sterbenden und gedachte nicht mehr jenes Tags, wo dessen Sohn ihn und Porzia Biancchi beleidigt hatte im Wirthsgarten an der Landstraße von St.-Wolfgang nach Kocher am Fall. Seine Mutter spann; sein Vater schnitzelte Dauben ruhig und antheillos.

Hubertus, beruhigt jetzt über das nächste Schicksal des Landraths, eilte, um auf Schloß Münnichhof den Diener desselben und einen Wagen zu suchen. Er überlegte, wie er später in Witoborn es versuchen sollte, sich der Frau von Sicking einzuführen; wie er Schloß Westerhof umspähen, Jean Picard entdecken, ihn vielleicht an einem Verbrechen hindern sollte – So eilte er über die glatten Wege mit seinen groben Halbschuhen dahin.

Indessen hatte sich auf Schloß Münnichhof immer zahlreicher jener Kreis von Damen gemehrt, die ebenfalls von Runen und von Zeichen, ebenfalls von Kreuzen und von Rädern sich ergreifen lassen wollten, freilich in einem andern Sinne, als der unbekümmert um Schnee und Regen dahinschreitende, tief den Todtenkopf in seine braune Kapuze hüllende Laienbruder. Die 35 Simultankirche, worin wir alle zu Einem Gotte beten, war in einer Bauernhütte geweiht durch die Nächstenliebe und vielleicht im Schloß des Grafen durch – den Denkergeist –? Wenigstens erschien gegen drei Uhr Doctor Laurenz Püttmeyer auf Schloß Münnichhof so feierlich, wie wenn er die erste Vorlesung auf dem ihm endlich überlassenen Lehrstuhl Hegel's zu halten gedächte. Noch kunstvoller als neulich hatten die Musen und Grazien von Eschede die Schleife seines weißen Halstuchs gebunden. Er war so gründlich rasirt, daß man der Meinung hätte sein können, die Natur hätte ihn in das Geschlecht der Blaubärte versetzen wollen; offenbar war er mit dem frisch rasirten Kinn in die Kälte gegangen, wovon ein europäischer Mensch bekanntlich blau wird. Auf sauber gefältelter Hemdauslage strahlte eine echte Brillantnadel; die weiße Weste, obgleich etwas gelblich durch zu langes Kommodenliegen, war mit einer schweren Uhrkette garnirt. Die elegantesten gelben Handschuhe, die in Eschede nur waren aufzutreiben gewesen, saßen, wenn auch mit etwas zu langen Fingern, doch das Feierlichste versprechend, auf seinen Händen, die heute das Ewige, das Unergründliche hinter ölgetränktem Papierrahmen sichtbar und anschaulich machen wollten. Alles was der Doctor jener Curatel, unter der er stand, hatte abtrotzen können, schmückte ihn heute, auch der große Siegelring mit einem prächtigen Karneol, der dann leider unter dem Handschuh die Naht gesprengt hatte.

Von einigen zwanzig Damen wurde er mit jenem ironischen Lächeln begrüßt, das die vornehme Welt dem der höhern Lebensformen ungewohnten Gelehrten immer bereit hält. Indessen war dies Lächeln, wenn auch satirisch, nicht boshaft. Man ließ die hohe Wissenschaftlichkeit des Doctors um so mehr gelten, als man in ihm eine originelle, unter den besondern Bedingungen der dortigen Provinzialeigenthümlichkeiten stehende 36 Denkergröße zu besitzen glaubte. Seine mathematische Philosophie interessirte Jung und Alt in den gewählten, hier die übliche Landstraße deutschen Dichtens und Denkens gänzlich vermeidenden Kreisen und glücklich schätzte er sich, heute den vornehmsten und angesehensten Damen der sonderthümlichsten Gegend des deutschen Vaterlandes einen kurzen Ueberblick seines Systems geben zu können. Die Gräfin Münnich versicherte ihm, daß er in dem jenseit des hohen Ahnensaals liegenden Zimmer bereits all die Vorbereitungen getroffen finden würde, die er sich in einem umständlichen Kanzleischreiben an die Frau Gräfin erbeten hatte. Ein durchaus dunkles Zimmer, ein Gerüst, einige Näpfchen mit Oel, eine Flasche Spiritus. Das Uebrige brachte er selbst mit und bat sich nur die Erlaubniß aus, vorläufig seine Vorbereitungen treffen zu können, bis er die hochgeehrten gnädigsten Damen abrufen würde.

Diese Spannung währte nicht lange. Bald wurden die Damen abgerufen und paarweise folgten sie dem glücklichen Seher. Lachend und doch beklommen ging es durch den Ahnensaal, wo aufs einladendste schon die Tafel zum großen Jagdbanket gedeckt wurde. Püttmeyer war so erfüllt von seiner Aufgabe, daß ihm völlig entging, wer unter den Damen zugegen war. Es waren jüngere und ältere, hohe und kleinere Gestalten, alle in gewählter Kleidung, alle mit Trauerzeichen – um den Kirchenfürsten. Paula, Tante Benigna, Armgart – auch diese glaubte Püttmeyer zugegen. Seine Verwirrung war so groß, daß er eine Gräfin oder Freifrau mit der andern verwechselte.

Anfangs brannten in dem Zimmer, das sie alle betraten, einige Kerzen. Man mußte sich wenigstens orientiren, wo man Platz nahm. Als dies geschehen war, erloschen diese Kerzen auch und machten alles stichdunkel. Kichernd und scherzhaft um Ruhe zischend und sich räuspernd saßen die vornehmen Frauen. 37 Püttmeyer rumorte, wie ein Puppenspieler, hinter einem großen transparenten Rahmen, der sich allmählich zu erhellen begann.

Zuweilen schien ihm eines seiner Lichtchen umzufallen. Dann rief die Gräfin, ob er nicht Beistand nöthig hätte? Nein! nein! Meine Allergnädigste! antwortete er. Dennoch aber hörte man ihn entweder mit sich selbst oder mit einem Gehülfen sprechen. Eine zarte, schüchterne Stimme umwisperte ihn. Himmel! hätte Armgart, wenn sie hier gesessen, gewiß gedacht, vielleicht – steckt Angelika hinten, die glückliche Angelika! Wenn sie diesen Augenblick, diese hohe Anerkennung ihres Geliebten erlebt hätte!

Das Zimmer war überheizt und die Damen bekamen eine eigenthümliche Exaltation allein schon von den Ausströmungen des Ofens. Nun mischte sich noch Weihrauchduft in den frühern, der etwas stark auf Verbrauch von Oel und Spiritus schließen ließ. Die Stimmung wurde immer erregter. Man schwieg jetzt deshalb schon, um sich nur beherrschen zu können, und harrte der kommenden Dinge.

Endlich klingelte Püttmeyer und sprach mit einer nach Festigkeit ringenden Stimme: Meine hochgräflichen – hmhm. – und hochfreiherrlichen – hmhm! – Gnaden! Ich bin so glücklich – Ihnen den Entwickelungsgang meines Systems in einer Reihe von Bildern so anschaulich machen zu können, daß Sie selbst prüfen mögen, ob meine Lehre – hmhm! – wol Ihre überzeugte Zustimmung findet! Denken Sie nur immer dabei, daß das, was in Gott Ein Moment ist, im Denken – durch Raum und Zeit seine – hmhm! – Ruhepunkte haben muß! Auch unser christ – hmhm! – christlicher Glaube zerlegt Gottes Größe in ein Vorher und ein Nachher; denn wie würden wir sonst die Lehre von den sieben – hmhm! – Schöpfungstagen haben?

38 Ein Murmeln der Zustimmung ging durch den Saal. Dann folgte tiefste Stille. Die Weihrauchdüfte mehrten sich und jetzt begann sogar zu aller Ueberraschung etwas völlig Unerwartetes, eine wunderbare Musik. Wo kam diese Musik her? Leise anschwellend hoben sich die Töne wie auf Aeolsschwingen. Was hatte der Zauberer von Eschede für ein Instrument mitgebracht? Es war keine Flötenuhr, kein Klavier, keine Orgel. Es war von allen etwas. Das Zimmer erbebte von Wohllautsschwingungen, von welchen die Luft zu einer klingenden gemacht wurde. Brausend schwoll es an, so mächtig und so lind und lieblich wieder, daß davon die ganze Seele erfüllt sein durfte. Und niemand war erstaunter, als die Gebieterin des Schlosses selbst, die nicht hoch genug versichern konnte, daß sie kein Instrument besäße von solcher Wirkung, ja das eben vernommene nicht einmal zu nennen wisse. Wenn Püttmeyer Orphische Urworte lehren wollte, konnte die Vorbereitung des Gemüths nicht mächtiger getroffen werden.

Als die Töne verklungen waren, einer immer sanft dem andern sich entwindend, da erblickte man plötzlich die ganze Transparenttafel azurblau und aus dem tiefsten Grunde, sei's des Himmels oder des Meeres, entwickelten sich leise Schatten, die allmählich die Form einer Unzahl sich durcheinander rollender und einander durchschneidender Kreise annahmen. Püttmeyer sprach mit erhöhter Begeisterung: Musik ist das Leben des Alls! Denn – das All besteht aus zersprengten – Atomen, die – sich suchen, sich finden – sich abstoßen, verfolgen! – Sehnsucht und Liebe, demzufolge auch Abneigung – hmhm! – und Haß – ist die Seele des Alls –! . . . Die Kreise bewegten sich auch theilweise zurück und es entstand ein Chaos so flimmernder Schatten, wie wenn bei Blutandrang das geschlossene Auge ein Durcheinanderwirbeln von zahllosen Staubatomen sieht. Das 39 Instrument begann dazu in lebhaftern Rhythmen eine entsprechende Begleitung. Nicht schrill oder in mistönender Malerei – seinem Wesen entsprachen nicht so grelle Ausdrucksformen – wohl aber in Klagelauten, wie aus der tiefsten Tiefe des Schmerzes und aus der wehmüthigsten Verkennung der Liebe empor.

Inzwischen schilderte Püttmeyer das aus dem Wirbeln der Atome sich ergebende Streben alles Geschaffenen und des Denkens über alles Geschaffene zum Kreise und die Transparenttafel verwandelte sich allmählich in einen einzigen lichten Kreis und die blaue Farbe ging in eine rothe über. Die Frauen beanstandeten nicht im mindesten, was Püttmeyer, in immer flüssiger werdender Rede, über das Symbol der Liebe, über den Ring, über die Schlange, ja über die Schlangeneier sprach. Das Auge sah in allem nur die herrlichsten Fata-Morganen der Ahnung.

Ueber die Musik, die zuweilen schwieg, hatte sich jetzt von einigen Damen, die eingeweiht waren, herumgeflüstert, daß sie auf einer Ueberraschung beruhte, die man der Gräfin bereitete. Mit dem protestantischen Pfarrer Huber war jenes schöne alte Instrument, die Harmonica, nach Witoborn gekommen und, wie der Sinn der Frauen nun einmal ist, bald hatte sich verbreitet, dies Instrument wäre zwar in der Art, wie man es handhaben müsse, nicht eben schön zu nennen, würde aber in seiner Wirkung höchstens nur von dem seelenvollen Schmelz des Violoncells erreicht. Jedermann hatte begehrt es zu hören. Man wußte, der »Pfarrer«, die »Frau Pfarrerin« – wenn diese heiligen Worte so zu gebrauchen nicht Entweihung war – die schon herangewachsenen »Kinder« desselben spielten jenes Instrument mit großer Fertigkeit; aber weder des Mannes Haus zu besuchen war den hiesigen Verhältnissen angemessen, noch auch der Würde desselben zuzumuthen, daß er selbst oder seine 40 Angehörigen sich außerhalb desselben mit ihren Leistungen hören ließen. Um so größer nun die Ueberraschung, daß Püttmeyer das Allersehnte möglich gemacht hatte. Schon erzählten die Flüsterworte, daß die Verehrerinnen des Doctors in Eschede diese musikalische Illustration der Philosophie ihres Schooskindes zu seinem größern Effecte durchgesetzt hätten, sie, die Armgart in ihrer Voreiligkeit mit Kaffeekannen und Strickstrümpfen verglichen –! Es hieß, der »Prediger«, wie man lieber hier zu Lande Herrn Huber nannte, hätte zu dem Vorschlag gelächelt, als er an die ihm schon durch seinen frühern Pflegbefohlenen, den Freiherrn Jérôme von Wittekind, bekannte Philosophie der Drechselbank erinnert worden; er hätte eingewilligt in den Transport des Instruments und es heute mit Püttmeyer'n in einem verdeckten Wagen und sogar mit seiner eignen Tochter abgesandt; diese überträfe in der Kunst dies Instrument zu spielen sogar noch ihn und seine Gattin.

Püttmeyer empfand die Genugthuung nicht, die seinem verketzerten Werke: »Christus und Pythagoras«, durch diesen jetzt ganz gern gesehenen Bund mit den Ketzern zu Theil wurde. Ach, er war zu sehr schon in seiner steten Furcht vor Sakramentsentziehungen, dann auch in seinem Magisterium eingerostet, um noch von sich gegenwärtig zu haben, daß unter dem alten Schlafrocke seines freudlosen, verkümmerten Daseins die jugendlich schöne Psyche seiner Denkfreiheit mit bunten Schmetterlingsflügeln immer noch verborgen lebte. Nicht ganz paßte auf ihn ein Wort, das neulich Onkel Levinus mit stolzem Bewußtsein bei Gelegenheit einer muthigen That sprach, die von einem deutschen Professor gekommen –: »Ja, sind wir auch noch so verirrt in den Labyrinthen der Metaphysik, sind wir auch noch so vergraben im Sand, der die Eingänge zu den Pyramiden verschüttet, haben wir uns sogar als mit Orden umschnürte Geheimeräthe ganz in 41 Scherwenzeln und Tellerlecken bei Diplomaten und reichen Glückspilzen verloren: plötzlich ruft uns doch irgendein Signal an unsere stolze Wissenschaftsfahne zurück und wir kämpfen für die Freiheit und die Unabhängigkeit des Denkens, wir wissen selbst nicht wie –!« Leider galt dies begeisterte Wort nur einer in diesem Kreise überraschenden großen That eines deutschen Gelehrten. Dr. Guido Goldfinger hatte aus Anlaß des Kirchenstreites (richtiger, seiner nah bevorstehenden Hochzeit mit Johanna Kattendyk und des Wunsches der Mutter wegen, die Tochter sollte bei ihr bleiben) seine außerordentliche, ohnehin unbesoldete Professur niedergelegt. Püttmeyer stand doch edler da! Er empörte sich nicht gegen seine Unterdrücker, zu denen auch die Geistlichen gehört hatten; er liebte die Kirche, die ihn auf den Index zu setzen gedroht.

Aber mit Stolz fing er nun auch von sich selbst zu reden an. Wer würde seines Selbstvertrauens haben spotten mögen! Auch die Frauen blieben im Bann seiner mystischen Zeichen und nahmen einen flammenden Triangel für die Dreieinigkeit, ein dunkelglühendes Kreuz für die Offenbarung der Liebe, sahen die Offenbarung des Alls im Atom, des Ewigsten im Zeitlichsten. Kommen und Gehen, Werden und Schwinden sind die Gedanken, die dem Frauendasein so urgegenwärtig sind. Sie umspannen hier ihre Herzen wie mit magischen Fäden. Und selbst die anwesende Frau von Sicking, die Frommste der Frommen, hätte nicht geahnt, daß sie diese Stunde ebenso feierlich stimmen würde, wie ihr nur je zu Muthe war im Moment der »Wandlung« beim heiligsten der Opfer und wie sie hoffte angemuthet zu werden durch die Müllenhoff'schen Exercitien.

Andachtsvoll hörte man auch manchem Scherz Püttmeyer's zu, sogar dem, daß das doppelte Dreieck, Pentagramm genannt, den magischen Zeichen der Zauberer angehöre, auch dem Gotte 42 Gambrinus, setzte er lachend hinter dem muthmachenden Oelpapier hinzu, der mit diesem Zeichen in Göttingen anzeigt, wo gutes Bier feil wäre, »worin jedoch nur ein tiefes Symbol des Frühlingsanfangs läge, ein Hausthür-Gedenkzeichen des Hexensabbats auf dem Brocken, da ja am 1. Mai der Hexen Ausritt stattfände, und zwar« – hier hätte allerdings den Doctor eine seiner escheder Gönnerinnen ein wenig am Frackschoos zupfen sollen – »auf dem Bock, welches Thier sothanerweise auch noch bis gen München hin im innigsten Zusammenhang geblieben wäre mit dem ersten Labetrunk am ersten Tage des Wonnemonds«.

Püttmeyer erhob sich aus diesen Gedankenreihen, die den Onkel Levinus zu einem Streite über Bock und Eimbock oder Eimbeck und Eimbecker Bier veranlaßt haben würden, in eine reinere Höhe, als er, angeregt wahrscheinlich von Göttingen und der gerade pausirenden Harmonica und einem Blick auf die Pfarrerstochter von Eibendorf, mit stolzem Selbstbewußtsein fortfuhr: Heureka – hmhm! – meine Damen, ich habe gefunden! rief einst Pythagoras, als er seinen berühmten Satz vom Quadratinhalt der Schenkel des Dreiecks entdeckte! Heureka! soll auch der Titel meines nächsten Werkes – hmhm! – sein! Zu Gott hoff' ich, daß sich mein Losungswort weiter verbreiten wird, als, wie ich erst heute erfuhr, in jene Berge drüben, wo ein treuer Anhänger meiner Lehre – hmhm! – der edle Jérôme von Wittekind, den Dank für die ihm durch sie gewordene Anregung auf einen einfachen steinernen Würfel schrieb. Mit der Anerkennung neuer Ideen, meine – hmhm! – Damen, ist es zu allen Zeiten gewesen, wie mit diesem Gedenkstein. In einem dichten, unzugänglichen Walde erschallt ihr erstes Echo, wie auch jenes Heureka! in der Nähe des Ortes Eibendorf jetzt nur erst sich ausjubelt ins Ohr der Einsamkeit, an einem nur von Schilf und Blumen 43 umstandeneu stillen See. Kein Nachen fährt dahin auf diesem See, kein Fischer steht an seinem Ufer. Ein solches einsames Heureka! ist anfangs nur für die Wildniß da, für einen Vogel, der sich auf ihm ausruht, für eine Lacerte, die ihr Lager sich im Moose gesucht hatte, das seinen Sockel überwuchert. Dann kommt aber doch die Zeit, wo zu einem solchen einsamen Steine auch eine große und bequeme Landstraße hinführen wird.

Die Frauen murmelten Beifall. Die Musik begann ihre anschwellenden Töne. Püttmeyer rüstete sich zu seiner Mystik der Kegelschnitte.

Ohne Zweifel hatte die Tochter des Pfarrers auf der Herfahrt vom Denkstein bei Eibendorf erzählt, von jenem Heureka! das einst Jérôme von Wittekind auf einen Würfel schrieb, welchen er an der Stelle errichten ließ, wo er im Riedbruch Lucinden, sein Elfenkind, gefunden. Als dort Lucinde auf ihrer Flucht vor Oskar Binder unter den Farrenkräutern und Glockenblumen ohnmächtig zusammengesunken war, glitt in der That über sie hinweg eine Lacerte, die sie freilich in ihrer Bewußtlosigkeit nicht mehr fühlte. Hätte sie aber das Thier noch über ihre Hand gleiten sehen, sie würde ohne Zweifel so aufgesprungen sein, wie sie jetzt eben – die nämliche Lucinde – mitten unter Püttmeyer's Zuhörerinnen aufsprang, mit einem Ausruf, als wenn ihr der Athem versagte und sie wirklich eine Schlange stäche. Sie hielt sich zwar an ihrem Sessel, beruhigte die erschreckenden Frauen mit einer Handbewegung, sprach, zum Sitzenbleiben auffordernd, ein: Bitte! Bitte! – schwankte jedoch der Thür zu und verließ das Zimmer.

Lassen Sie! sagte Frau von Sicking, als die Damen und vorzugsweise die Herren des Schlosses von einem nothwendigen 44 Beistand sprachen. Es ist die Mamsell, mit der ich vorhin gekommen bin –!

Man glaubte sich auf die Versicherung der Dame, welche die Fremde eingeführt, verlassen und beruhigen zu dürfen. Die seraphischen Klänge der Harmonica tönten indessen fort und Püttmeyer erläuterte.


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