Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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83 9.

In der schwebenden Pein der Ungewißheit über den Onkel und die Tante hatte Armgart nicht zu verharren gebraucht. Einige Augenblicke, nachdem Bonaventura gegangen, kamen beide von ihrem Ausfluge nach Witoborn zurück.

Armgart's stürmischen Fragen nach dem Ort, wo sie gewesen wären, nach den Nachrichten, die sie mitbrächten, wurden nur schroffe Antworten zu Theil. Als Armgart von einer hinter ihrem Rücken getroffenen Verabredung, um sie dem Vater zu überliefern, sprach, schwieg man. Ja, flüsterte ihr Terschka, Sie dürfen nur Ihrer Mutter gehören! Und als sie vor seinem vertraulichen Tone zurückscheute, nannte er Monika von Hülleshoven laut die Seltenste ihres Geschlechts, einen Edelstein in dem Bunde aller der vortrefflichen Menschen, in deren Nähe er hier zu leben so glücklich wäre, eine Denkerin, ohne die Runzeln der Stirn, die dem Gedankenleben zu folgen pflegten und meist die Leichensteine des Schönen würden, eine Gelehrte, ohne daß man an ihren Fingern die Dinte sähe, eine Priesterin an den Altären einer noch unausgesprochenen Religion, die alle Menschen verbinden und glücklich machen würde.

Auf dies enthusiastische Wort ermunterte Paula, die von ihrem mit Bonaventura geschlossenen Bunde selbst noch wie berauscht war, den Sprecher, fortzufahren. Aber Armgart unterbrach ihn 84 und sagte aufwallend: Meine Mutter wird in ihrem wiener Kloster keine andere Religion gefunden haben, als die des dreieinigen Gottes! Auf diese entscheidende Aeußerung trat eine Stille ein und kein behagliches Gespräch ließ sich heute mehr anknüpfen. Nach dem Thee trennten sich alle.

Als Wenzel von Terschka auf seinem Zimmer war, machte es ihm der Diener so zurecht, wie den Abend noch zuzubringen der »Rittmeister« seither immer gewohnt war. Vor Mitternacht ging Terschka nicht zur Ruhe. Zwei Zimmer mußten erleuchtet sein. Auf drei, vier Tischen mußten Lampen stehen; auf jedem lag ein Actenstoß von diesem oder jenem Inhalt – zu verzweigt war die Geschäftsthätigkeit, der er sich zu widmen hatte. Geschäftlich war ihm seither alles vortrefflich gelungen. Er konnte seinem Gönner und Freunde, dem Grafen Hugo, er konnte Gräfin Erdmuthen, jetzt auch schon Monika Berichte voll erfreulicher Ergebnisse schicken. Die letzten Chicanen, mit denen noch Nück gedroht, waren durch dessen Bevollmächtigten, Benno, gemildert worden. Benno verfuhr mit Entschiedenheit, vermehrte aber die Schwierigkeiten nicht. Die Regierung hatte die Parcellirung genehmigt. Löb Seligmann hatte die einzelnen Bestandtheile taxirt und schon Angebote vermittelt. Der gute Löb fuhr und wanderte hin und her. Er hatte für seine Geschäftsthätigkeit eine neue Provinz erobert; kehrte er nach Kocher zurück, so blies er sich schon jetzt das Horn einer Extrapost für die letzte Station. Endlich wurde sogleich eine bedeutende Geldsumme flüssig durch die an Thiebold de Jonge verkauften Waldungen. Der neue Besitzstand konnte nach Ostern vollständig vom Grafen Hugo angetreten werden.

Anfangs war in diesem Kreise Terschka der, welcher er überall gewesen. Der jeune homme von vierzig Jahren, eine Natur, die manchem unheimlich wirkte, weil sie niemanden Stand 85 hielt. Doch erweckte sein Wesen auch niemanden besondere Furcht oder Besorgniß. Man konnte ihn nur nicht festhalten, nicht allseitig prüfen und ergründen, denn etwas Unstetes lag in seinem ganzen Wesen. Er war gegen jedermann gefällig. Seiner schmächtigen, zierlichen, gewandten Gestalt stand es zu jeder Zeit, da einen Strickknäuel aufzunehmen, dort einer Cigarre Feuer zu geben und dabei doch wieder einen Befehl zu ertheilen, den er halb dann selbst schon ausführte. Thiebold fand ihn »superlativ«. Terschka schoß einen Vogel im Fluge, selbst im währenden Reiten. Seine Kunst, die Pferde zu zügeln, war Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Dennoch sagte Benno, nachdem er ihn einige Tage lang beobachtet hatte: Dieser Mann ist nicht schlecht und nicht gut, und jedenfalls hat er kein ruhiges Gewissen!

Von Gräfin Erdmuthe's verfehlter Begrüßung war Terschka zurückgekehrt ganz in der Aufregung, die der geheimen Zwiesprache zwischen Monika und der Gräfin entsprach, welche den Uebertritt jener zum Lutherthum und eine Vermählung mit Terschka wünschte. An dem Gesellschaftsabend bei Piter Kattendyk hatte er durchaus in das Innere dieser jungen Frau blicken können, die, wie Luther sich aus Rom die Reformation, so aus einem Kloster die Freiheit des Denkens sich geholt hatte. Er begleitete sie, noch vor dem Auflauf in den Straßen, noch vor dem militärischen Conflict mit den Vereinen, in ihr Hotel, mußte aber Abschied nehmen, weil seine Rückreise eines Gerichtstermins wegen unerläßlich war. Nun schrieb er ihr. Sie antwortete. Es waren äußerlich Briefe der Convenienz, wirkliche oder fingirte Geschäftsanfragen. Monika antwortete kurz und wich allem aus, was ihre Empfindungsweise hätte misdeuten können. – Terschka hatte keine Berechtigung auf das Herz dieser Frau. Eine Frau empfindet bald, ob eine Werbung aus dem tiefsten Bedürfniß 86 des Herzens oder nur aus Träumen der Phantasie entspringt. Letzteres schien bei Terschka der Fall. Diese seltsame Naturerscheinung, silbergraue Locken auf einem halben Mädchenantlitz, körperliche Reize verbunden mit einem durchaus geistig gereiften Leben – Terschka hatte sich in den Strudeln der Welt genug umgetrieben, um auch einmal eine solche Verbindung neu und anziehend zu finden. Terschka sah jugendlich aus, im Grunde war er vom Leben ermüdet. Vielleicht mochte er eine edlere Ruhe finden wollen. Vielleicht mochte er die Waffen der List und der Kühnheit, die er zwanzig Jahre lang geführt, niederlegen wollen zu den Füßen einer Liebe, die ihn immerhin dann hätte tyrannisiren mögen. Vielleicht hatte er das Bedürfniß, entschieden gut zu sein, oder er sehnte sich nach Erhebung. Frauen, die in sich gefestet sind, vermögen auf Männer alles. Schon Gräfin Erdmuthe, die, im Verein mit Terschka von ihrem Sohne Grafen Hugo, so vielfach betrogen worden, hatte ihn dennoch gemildert und gezähmt. Als dann vollends eine Monika in diesen Lebenskreis trat, empfand für sie Terschka wie für ein Wesen, das ihn, so sagte er bereits in Wien, »von sich selbst befreien und neugeboren werden« lassen könnte.

Seit dem gestrigen Abend im Finkenhof kam in Terschka's Wesen etwas, das Benno's Wort vom unruhigen Gewissen zu bestätigen schien. Er unterzog sich seinen täglichen Geschäften, er rechnete im Rentamt mit den Beamten, sorgte für die Vorbereitungen zur großen Jagd, besorgte seine Briefe, würzte das Gespräch mit Anekdoten, sprach über Frankreich, Italien – in Rom war er mehr zu Hause, als er beinahe einzugestehen liebte – aber seine Sätze waren abgerissen, seine Uebergänge unvermittelt, seine Antworten zerstreut.

Als er, vom Finkenhof heimgekehrt, die sonderbare Prüfung seines linken Arms hatte vornehmen wollen, konnte ihn nur 87 Monika's, in diesem Augenblick ihm überbrachter Brief zerstreuen und beruhigen. Er erbrach ihn, las ihn, las ihn wieder. Es waren einfach nur Berichte über die von der Gräfin im Hotel zu bezahlenden Summen, Mittheilungen über ihren Aufenthalt, den Monika nicht mehr verlängern wollte, obgleich sie ihn in einem bescheidneren Zimmer des Hotels genommen, Nachrichten über die Ankunft der Gräfin in London und deren erste Bekanntschaft mit Lady Elliot, kleine Neckereien auch über Lucinde, die Monika näher kennen gelernt hatte und die sie ihm um so mehr anempfahl, als ihn ihre Schönheit und ihr Geist an jenem Abend ja, wie sie schrieb, sofort gefesselt und an eine glückliche Vergangenheit erinnert hätte – an die Zeit jenes Pferdeankaufs im Holsteinischen für Hugo's Regiment –

Aber nicht ganz fand Terschka seine Heiterkeit wieder. Gestern und auch heute nicht. Der »Knochenmann«, der Bruder Hubertus, konnte nicht erwähnt werden, ohne daß er erröthete. Soviel er auch heute in der Gegend umherstreifte, er konnte ihm nicht begegnen. Er wünschte es und fürchtete es zugleich – Zum Kloster Himmelpfort zog es ihn und wieder jagte es ihn aus dessen Nähe.

Zu den Besorgnissen, die ihn erschreckten, kam die Entdeckung, die im Benehmen Armgart's lag. Warum hielt sie ihn heute so fest nach Paula's Vision? Was wollte sie überhaupt schon seit lange mit ihm? Errieth sie seine Liebe für ihre Mutter? Mistraute sie dem Briefwechsel, von welchem sie unausgesetzt sich erzählen ließ? Heute, auf der Rückwanderung von Heiligenkreuz, hatte sie mit ihm einen Ton angeschlagen, der ihn völlig befremden mußte. Daß um Armgart Thiebold und Benno warben, war ersichtlich und ein keineswegs besonders scharfes Auge gehörte dazu, sich zu sagen, daß letzterer der im Grunde Bevorzugtere war. Und dennoch begann Armgart seit einiger Zeit ihm selbst eine Theilnahme zu schenken, die ihn zu verwirren anfing. Was 88 hat das seltsame Mädchen mit dir vor? sagte er sich. Auf der Wanderung kam sie heute plötzlich von der Mutter ab und sprach nur noch wie im Traum, bis ihr Terschka geschworen hatte, er wisse nichts vom Angekommensein ihrer Mutter. Selbst heute Abend ihr: »Gute Nacht, Herr von Terschka!« klang so süß und doch zugleich so absichtlich herbe, so innig und zugleich so beklommen, so zurückgehalten –! . . .

Auch heute Abend schloß sich Terschka wieder ein, was er sonst nicht that. Wieder konnte er vor jedem unerwarteten Geräusch erschrecken. Dem Diener, der ihm die Zurückkunft des Rosses von Heiligenkreuz meldete, sagte er bei Gelegenheit des Namens Schneid: Ist das Der, der gestern auf dem Finkenhof unter dem Schutz des buckligen Stammer erschien und dort falsch gespielt haben soll? Auf die Mittheilung jedoch, daß Baron Levinus dem Vagabunden nur noch eine dreitägige Frist als Probe seiner Haltung gestattet hatte, hörte er noch kaum. Bonaventura hatte, auf Bitten des alten Tübbicke, selbst ein Fürwort für den ihm übrigens unbekannt gebliebenen, ja ihn ängstlich vermeidenden Fremdling eingelegt.

Terschka hatte jetzt an Monika schreiben wollen. Er wollte ihr Vorwürfe machen, daß sie, wie er von andern hören müsse, in die Gegend zu kommen beabsichtigte, ohne ihn vorher in Kenntniß zu setzen. Verdien' ich Ihr Vertrauen nicht? hatte er sagen und sein ganzes Gefühl ausströmen wollen. O, ich ahne es, Sie werden sich mit Ihrem Gatten versöhnen! Ihr liebliches Kind wird Sie beide wieder verbinden! Die Hoffnung meines Lebens ist dahin –! Nie noch hatte er so zu Monika gesprochen. Sollte er es heute wagen? Heute? In den Stimmungen, die ihn seit gestern erfüllten! In diesen aufgerüttelten Erinnerungen, in den qnälendsten seines Lebens? In Ahnungen, Schreckensaussichten, die ihm plötzlich gekommen waren bei 89 Nennung des Namens – Bosbeck? Bei Erwähnung jener beiden Knaben, die einst Hubertus aus dem Feuer rettete –?

Wenzel von Terschka war 1799 geboren und in der That ein Böhme und in der That von Adel, wenn auch vom allerärmsten. Sein Vater, einer herabgekommenen Familie angehörend, diente zur Zeit der französischen Revolutionskriege im österreichischen Heere und stand in jener Heeresabtheilung, die anfangs unter Wurmser, später unter Erzherzog Karl gegen die französische Republik am Neckar, Rhein, an der Mosel mit abwechselndem Glücke focht, bei den Kinsky-Ulanen. Seines Adels und Alters ungeachtet war seine Stellung nur gering. Er hatte Lieutenantsrang und bekleidete nur die Functionen eines Regimentsquartiermeisters. Ihm, der für die sichere Unterkunft der andern auf dem Marsche sorgen sollte, begegnete es, daß er selbst von seinem Regiment bei einem Ueberfall abgeschnitten und gefangen genommen wurde. Die französischen Armeen hatten sich damals in Nassau und bis nach Hessen hin festgesetzt; der Gefangene blieb am Rhein zurück in der alten Stadt St.-Goar. Seine Lage war hart und zog sich in die Länge.

Da erfolgte in Rastadt der noch immer unaufgeklärte Mord der französischen Gesandten. Die Welt war von Entsetzen erfüllt. Man fürchtete Rache an jedem gefangenen Oesterreicher. Der Quartiermeister von Terschka war verheirathet. Seine Frau gehörte dem niedern Bürgerstande an, ursprünglich eine wohlhabende Bäckerswitwe in einer böhmischen Stadt, die, als sie in zweite Ehe trat, ihr Geschäft verpachtet hatte. Die wenig gebildete, kaum deutsch sprechende Frau besaß die Mittel, um dem Gatten zu folgen, von dem sie zu ihrem Schrecken in Erfahrung gebracht hatte, daß er gefangen war. Sie setzte sich auf die Post, reiste an den Rhein und kam in St.-Goar an. Kaum jedoch im Wirthshaus abgestiegen, verfiel sie vor 90 Anstrengung und Aufregung in eine Krankheit, die ihr und beinahe auch dem Kinde, das sie unterm Herzen trug, das Leben kostete. Obgleich sie schon in zwei Monaten Mutter werden mußte, hatte sie sich doch diese Reise zugetraut. Sie erlitt eine Frühgeburt. Ihren von der Festung, die oberhalb der Stadt lag, herbeieilenden Gatten sah sie nur wieder, um von ihm für dies Leben Abschied zu nehmen. Voll Rührung stand die Wache, die ihn begleitet hatte. Ein herzzerreißender Anblick! Die schon an Jahren vorgerückte Frau erlag dem Opfer ihrer Liebe. Das kaum athmende Kind – es wurde in der Nothtaufe Wenzel genannt – war ein Siebenmonatkind. Daher Terschka's eigenthümliche Unfertigkeit und scheinbare Unreife in seinem ganzen Wesen. Die Hebamme nahm das halbtodte Kind an sich, besorgte das Begräbniß der Mutter; der Vater schrieb nach Böhmen um Geldmittel.

Dem Gefangenen verging auf der Festung Rheinfels, die oberhalb des Städtchens St.-Goar liegt, eine schmerzliche Zeit. Die Aussicht der Ranzionirung schien der rastadter Gesandtenmord zu vereiteln. Es ließ sich vielmehr des Gefangenen Abführung ins Innere Frankreichs erwarten. Die aus Böhmen erhofften Gelder blieben aus. Der Krieg wüthete am Main und bedrohte sogar schon Thüringen. Die Hebamme war keine besonders wohlwollende Frau. Da sie mit dem schwer zu erhaltenden Kinde ihre Noth hatte, so drang sie auf eine Verpflegung bei andern Leuten; doch fehlten dazu dem Vater die Mittel.

Ein Mitgefangener hörte das Seufzen und die Klagen des unglücklichen Kriegers, hörte das Schreien des ihm zuweilen gebrachten Kindes, und schlug ihm eines Tages durch die Wand, die ihn von seinem Nachbar trennte, vor, das Kind an seine Frau zu übergeben, die heimlich unten im Orte wohne, ihrerseits selbst nur Ein Kind hätte und gewiß einem zweiten bis auf 91 weiteres eine treue Mutter sein würde. Für die Heimlichkeit des Aufenthalts seiner Frau im Orte gab er Gründe an, die so stichhaltig schienen, daß der Tiefgebeugte kein Arg fand. Der Offizier Terschka bewegte sich freier als der Mitgefangene, der übrigens kein erwiesener Verbrecher war, sondern nur, streng gehütet, gefangen saß wegen mangelnder Legitimation.

Die Noth und die Hoffnung auf baldige Ranzionirung bewogen Wenzel's Vater, auf den Vorschlag einzugehen. Er erkundigte sich nach seinem Nachbar. Freilich erfuhr er, daß es ein Jude war, den man für einen Gauner hielt. Man vermuthete, sein angeblicher Name Sontheimer wäre schwerlich sein rechter, setzte jedoch hinzu, daß man sich auch irren könnte. Niemand wußte, daß seine Frau im Orte lebte. Da Sontheimer zu dringend gebeten hatte, daß sie nicht genannt würde, schwieg sein kriegsgefangener Nachbar und ließ sein kaum lebensfähiges Kind an den ihm von Sontheimer näher beschriebenen Ort, eine enge, dunkle Gasse dicht am Rheine, bringen. Nach den obwaltenden Umständen war dies ein Glück für den Kriegsgefangenen, der durch eine so traurige Verkettung von Umständen um seine Freiheit, um sein Weib kam und obenein noch vom Schicksal die Sorge um ein Kind auferlegt erhielt! Haus und Herd gab es damals für Tausende nicht mehr. Zugleich mit den Armeen zogen die Bewohner zerstörter und geplünderter Ortschaften mit Weib und Kind einher, und wo sich Waaren und Gelder hingeflüchtet hatten, da lauerte die Nachstellung und der Ueberfall jener Verbrecherbanden, die wie giftige Pilze nach dem Regen aufschossen im ganzen verwüsteten nordwestlichen und südlichen Deutschland.

Der Kriegsgefangene erhielt noch immer seine Freiheit nicht und dachte oft an Flucht, wozu ihm nur die nöthigen Mittel fehlten. Auf der Festung hatte er freiern Aus- und Eingang 92 als die andern. Der Jude Sontheimer wurde nicht ins Freie gelassen, sondern gehütet wie der gefährlichste Verbrecher, ohne daß man ihm etwas vorwerfen konnte. Seine wilden Flüche erschreckten oft seinen Nachbar. Voll Entsetzen dachte er an die Aufbewahrung seines Kindes in solchen Händen. Besuchte er dann aber wieder Sontheimer's Frau, so fand er ein schönes junges Weib, das ihn zwar nur halb verstand (sie war eine Holländerin), auf deren Gemüth aber die Ermahnungen des Kriegers so lebhaft einwirkten, daß sie oft Thränen vergoß. Da wurde ihm mit der Zeit freilich klar, daß es mit Sontheimer nicht richtig war; er forschte nach allen Seiten und suchte, ob sonst niemand sein Kind an sich nehmen wollte. Noch blieb ihm aber jede Hülfe vorenthalten. Die Spuren einer so weichen Gesinnung bei jener jungen Jüdin bestachen ihn auch; er ließ um so mehr sein Kind in ihrer Pflege, als diese die hingebendste war. Bei der schwächlichen Gesundheit des winzigen Knäbleins kostete es nicht wenig Aufmerksamkeit, das Leben desselben zu erhalten. Diese Pflege, das sah er ein, würde ihm in so wilder Umgebung, bei diesen Durchzügen und Einquartierungen, von niemand anders gleich liebevoll und uneigennützig geleistet worden sein.

Allmählich entdeckte der Gefangene durch die Wandgespräche die wirkliche Gefährlichkeit seines Nachbars. Eines Tages beschwor der Jude den Krieger, mit dem ersten besten Gegenstand den Gefängnißwärter niederzuschlagen und ihm die Schlüssel zu rauben. Würden sie auf diese Art frei, so wollte er ihn »fürstlich belohnen«.

Nun begriff der Kriegsgefangene den Verdacht der Sicherheitsbehörden. Die Welt war damals von Schrecken erfüllt vor den großen Verbrecherbanden. Durch die schlechte Justizpflege der Grenzgebiete Deutschlands und besonders der vielen geistlichen Regierungen hatten sich von Strasburg bis zum Niederrhein alle 93 zerstreuten Elemente des Gaunerthums und der Heimatlosigkeit vereinigt und vorzugsweise wurde durch die überwiegende Theilnehmerschaft der Juden bewiesen, wie es sich an der christlichen Gesellschaft rächen muß, wenn sie die Juden in einem abgeschlossenen Druck, in der Verweigerung der Ansiedelung und freien Erwerbsübung erhält. Man zitterte vor Abraham Picard, der unter hundert Verkleidungen und täuschenden Entstellungen seiner Person den Händen der Justiz immer zu entschlüpfen wußte und mit seinen Genossen und überall versteckten Helfershelfern von Holland bis zum Spessart raubte und sengte.

Mit sich kämpfend, was hier zu thun seine Pflicht war, stand der kriegsgefangene Oesterreicher verzweifelnd zwischen dem Verlangen, die Behörden auf die Gefährlichkeit seines Nachbars aufmerksam zu machen und zwischen der Sorge für sein Kind. Voll Vertrauen zum guten Herzen des jungen Weibes wollte er sie zu Rathe ziehen. Von seiner ihn immer begleitenden Wache geführt, kam er in die Stadt und in jene dunkle Gasse. Er suchte die Pflegerin seines Kindes auf, trat in ihr Zimmer und fand – sie entflohen. Mit beiden Kindern war sie seit einem Tage verschwunden. Außer sich, hielt er jetzt mit seinen Enthüllungen, wenigstens über die in der Stadt heimlich anwesende Frau des Gauners nicht mehr zurück. Sontheimer wurde mit ihm confrontirt. Er stürzte auf den Verbrecher zu, den er zum ersten mal in ganzer Gestalt sah, verlangte Auskunft über den Ort, wo sich sein Weib verborgen haben könnte, und hörte nun, wie sich dieser kecke, wilde, trotzige Mensch, von dem er bisher nur den aus dem vergitterten Fenster gesteckten Kopf gesehen hatte, mit einer Verschlagenheit herauszureden wußte, daß er aus Furcht vor Rache an seinem Kinde Anstand nahm, alles Fernere zu gestehen, was ihm Sontheimer noch zugemuthet hatte. Listig sagte dieser: Es ist nicht mein Weib gewesen, sondern das Weib eines 94 andern, der mir schuldig ist und den ich in Nimwegen verklagen muß, wenn ich auf freiem Fuß bin! Laßt mich ziehen! Ich heiße Sontheimer, bin ein ehrlicher Mensch und werde euch in Nimwegen die Frau zeigen, wo sie auf der Utrechter Gracht wohnt!

Geschrieben wurde nun freilich hin und her. Aber gerade dem Niederrhein zu und in Holland wüthete die Kriegsfurie. Städte geriethen in Brand; in nächster Nähe waren die Bauern der Lahngegend, Hessens, am Main bis zum Spessart hinauf als Landsturm organisirt – mitten in die von der Batavischen Republik heraufziehenden Heere hinein konnte sich der österreichische Krieger noch weniger wagen, selbst wenn er entfloh. Aus Sontheimer war nichts weiter herauszubekommen. Auch da nicht, als endlich der Kriegsgefangene frei und mit vorgeschriebener Reiseroute an die Oesterreicher zurückgegeben wurde. Nicht etwa in seine Heimat durfte er zurückkehren, er mußte nach Italien gehen, wo gerade Suwarow die Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen führte. Mit blutendem Herzen trat er seinen ihm vorgeschriebenen Weg an, ließ bei dem Maire von St.-Goar die Erkennungszeichen des flüchtigen Weibes und seines Kindes zurück, bat einige freundlichgesinnte Herzen um Nachrichten, falls ihnen eine Kunde zukäme oder der Jude Sontheimer entlarvt würde, und ging über Mainz nach Baiern, von dort über den Vorarlberg nach Tirol und Italien, wo er in der blutigen, für Oesterreich siegreichen Schlacht bei Novi den Heldentod fand.

Abraham Picard, der gefürchtete Räuber war es selbst gewesen, der kurze Zeit nach der Entfernung des unglücklichen Kriegers in seinem Gefängniß auf dem Rheinfels ausbrach und noch eine Reihe von Jahren hindurch ein Schrecken des Landes blieb. Jene junge Frau war in der That nicht sein Weib, sondern seine Schwiegertochter. Ihr Mann, sein Sohn Heyum 95 Picard, verschaffte ihm zuletzt die Mittel zur Befreiung, nahm jedoch schon vorher zur Sicherung sein Weib mit sich hinweg. Als die gemeinschaftlichen Maßregeln aller Regierungen diesem Raubwesen ein Ende machten, starb Abraham auf dem Schaffot. In den Niederlanden bildeten sich Freiwilligencorps, die den in ihren Schlupfwinkeln verschanzten Räubern förmliche Treffen lieferten. Nach einer Gegenwehr oft, deren Heldenmuth einer bessern Sache würdig gewesen wäre, fielen die Häupter der Gefangenen bei den Franzosen unter dem Beil der Guillotine, bei den Holländern wurden sie gehängt; manche kamen auf die Galeere für Lebenszeit. Verdächtigen, den Hehlern und den unzurechnungsfähigen Kindern der Verbrecher brannte man, um sie controliren zu können und ihrer Verstellungskunst zeitlebens sicher zu sein, Erkennungszeichen auf die Haut. Die Kinder gab man unter die Obhut beaufsichtigter Familien.

Auf diese Art wuchsen Wenzel von Terschka und Jean Picard in einem holländischen Dorfe hart an der deutschen Grenze zusammen auf.

Die Mutter des letztern erlag den Anstrengungen und den Mishandlungen ihres Mannes Heyum Picard schon vor dessen Gefangennahme auf französischem Gebiet und seiner Abführung auf die Galeeren von Brest. Sie hinterließ ihren Pflegling sowol, wie ihr eigenes Kind der Aufsicht eines Burschen, der bei einem Müller Namens Sterz in Arbeit stand – Hanne Sterz, die wir kennen von den unterirdischen Gängen des Profeßhauses in der Residenz des Kirchenfürsten, war das Weib eines Hehlers, der den Gaunern auf einer einsam gelegenen Mühle in die Hände arbeitete – Mittel zum Unterhalt fehlten nicht, es gab sogar die reichlichsten. Dieser junge Mann hieß Franz Bosbeck und gehörte jener Familie des Jehu Bosbeck an, eines Christen und ehemaligen Offiziers, den sein dissolutes Leben in die 96 Berührung mit den verworfensten Kreisen der Gesellschaft führte und der zuletzt sogar seinen christlichen Glauben abschwur und Jude wurde. Als seinen und den Frevelthaten seines Bruders Jan Bosbeck endlich ein Ziel gesetzt wurde, eine mit beispielloser Kühnheit ausgeführte Flucht aus einem Thurm in Nimwegen, wo Jehu Bosbeck neunzehn Monate lang mit den Füßen im Wasser gestanden hatte, das Signal zu einer gemeinsamen Verfolgung dieser Räuber auf Tod und Leben wurde, zogen sich alle zerstreuten Familienglieder, die thätigen und die nur hehlenden, in einem Versteck zusammen, einem Meierhof, der einem Mitverschworenen gehörte. Hier wurden sie umzingelt. Es gab einen Kampf, wie im offenen Kriege. Von Kugeln durchbohrt sanken die Verbrecher, die sich mit Verzweiflung wehrten. Ueber Leichen hinweg stürmten die Corps der Freiwilligen. Die Flammen ergriffen das ganze Anwesen. Das Hauptgebäude, ein stattliches Wohnhaus, war durch die in Brand gerathenen gefüllten Fruchtscheuern eine einzige Feuersglut. Da war es denn, wo der siebzehnjährige Müllerbursch Franz Bosbeck, ein Verwandter des Hauptführers, zwei Stockwerke hoch aus den Flammen sprang, zu jedem Arm einen Knaben, Wenzel von Terschka im linken, den ältern Jean Picard im rechten. Wohlbehalten kam er auf dem Boden an; die rauchenden Trümmer verbargen ihn in ihrem dampfenden Gewölk, er entfloh, rettete sich zu jener Mühle zurück und als auch diese in Asche gelegt wurde, irrte er mit seinen beiden jammernden kleinen Pflegebefohlenen, abwechselnd bald den Einen, bald den Andern tragend, hinaus in Nacht und Verzweiflung. Terschka war damals vier Jahre alt, Picard, kein anderer als unser Bickert, jetzt Dionysius Schneid, einige Jahre älter.

Zuweilen schreckte noch die Erinnerung an diese frühesten Lebenseindrücke Terschka wie ein Fiebertraum. Wilde, leidenschaftverzerrte Gesichter, wie sie Rembrandt und Honthorst malte, waren 97 es, die er heute im Geiste bei Laternenschimmer würfeln, Karten spielen, zechen sah. Auch Gold- und Silbergeräth sah er aufgehäuft, Säcke mit klingender Münze getragen. Wieherndes Lachen erschallte. Plötzlich folgten ängstliche Ausrufe des Schreckens über Verrath. Dann blinkende gezückte Messer, geladene Pistolen; er hörte fluchen mit einer Mischsprache von Holländisch, Deutsch, Jüdisch und Französisch. Nichts aber hatte sich unauslöschlicher seinem Gedächtniß eingeprägt, als jener Schreckensaugenblick des Brandes, des Hülfejammerns, des Sprunges aus dem Fenster. Alles das stand noch oft vor seiner Seele und doch war es ihm schon lange, als könnte es gar nicht gewesen sein und wäre nur die Erinnerung einer Erzählung, die er gelernt hatte mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Aber die Wirklichkeit machte ihre Rechte geltend. Das Schreckenvolle dieser Erinnerungen wurde durch ein ihm eingebranntes Mal immer wieder aufs neue bestätigt. Ein Jahr nach jener Flucht erhielt auch er dies Mal eingebrannt. Zwar hatte beide Knaben ein der Hehlerbande angehörender Scharfrichter aufgenommen. Ein Jahr wohnten sie am Fuße eines Hochgerichts. Hier, wo die Gerippe todter Pferde im Hofe moderten, hier unter den abscheuerregenden Vorkommnissen des Abdeckens, hier unter den Zurüstungen von oft massenhaften Hinrichtungen lebten die drei Flüchtlinge, bis sie dem Scharfrichter zur Last fielen und sie von ihm der Regierung ausgeliefert wurden. Diese gab ihnen den üblichen Stempel und lieferte den ältesten zu Schiffe nach Java; den zweiten gab sie nach Frankreich, wo sein Vater in Brest auf den Galeeren saß; den dritten gab sie einer in Rotterdam zufällig anwesenden Kunstreitergesellschaft. – Auch diese Trennung von seinen beiden Gefährten war Terschka unvergeßlich. Der gutmüthige Franz Bosbeck, der jetzige Bruder »Abtödter«, weinte zwar nicht, wie er und Jean Picard 98 thaten, aber er schied von seinen Pfleglingen mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes.

Wenzel von Terschka war von seinem siebenten Jahre an bis zu seinem vierzehnten ein Kunstreiter. Er kannte im allgemeinen seine Herkunft, sie wurde ihm nach den Untersuchungsprotokollen und den Aussagen des Heyum Picard sogar gerichtlich bescheinigt. Noch aber lag die Welt in allgemeiner Kriegsnoth und eine Eroberung der Vater- und Heimatsrechte für ein unmündiges, so wenig empfohlenes Kind, setzte damals, als Napoleon mit Oesterreich im Kriege lag, niemand durch. Halb Europa durchzog Wenzel von Terschka mit einer holländischen Kunstreitertruppe. Bald war der Knabe der Liebling der Gesellschaft des berühmten Jân von Prinsteeren und auch der Liebling des Publikums. Seine Behendigkeit und Gewandtheit übertraf alles. Im bunten Kleide auf dem Rosse, in Paris, in London, in den Seestädten, erregte er Bewunderung, bis er einst in Amsterdam das Unglück hatte, ein Bein zu brechen.

Jetzt begann der große Völkerkrieg gegen Frankreich; die Truppe löste sich auf. Den langsam Geheilten nahm ein aus Holland heimkehrender Schweizersoldat mit sich nach seiner Heimat, nach dem Canton Unterwalden. Zu Stanz war es, am Vierwaldstättersee, wo 1816 für die neue Befestigung der restaurirten italienischen Staaten schweizerische Mannschaft geworben wurde. Wenzel von Terschka, siebzehnjährig, nahm von den römischen Werbern, die, wie für Neapel dies geschah. so auch für den Kirchenstaat, eine ansehnliche Truppenmacht zum Schutz für unzuverlässige, erst neu hergestellte Zustände zusammenbrachten, Handgeld. Als Lanzenreiter ging er nach Rom.

An Gelegenheit, sich auszuzeichnen, fehlte es dem äußerlich zwar unscheinbaren, aber mit einer wunderbaren Elasticität begabten Jüngling nicht. Seine Reitkunst übertraf alles. Muth 99 und persönliche Tapferkeit waren ihm nicht abzusprechen, obgleich die ihm eigene Weise von derjenigen seiner fest und sicherer auftretenden überwiegend schweizerischen Kameraden abwich. Die Schweizersoldaten sind in der Fremde das volle Abbild der heimischen Cantonalzustände, ihre Mannszucht ist von einer unerbittlichen Strenge, der Verkehr der aus den alten Landesgeschlechtern gewählten Offiziere mit den Gemeinen ist ein streng geschiedener, das Hinaufrücken in höhere Stellen ein den letztern völlig unmögliches. Indeß wurde Wenzel von Terschka bald Instructor der Reitschule. Voll Unmuth jedoch über die Dienststrenge und von einem sein Gemüth durchwühlenden Ehrgeiz getrieben, offenbarte er sich dem Geistlichen der Truppe. Dieser, als Feldprediger, gehörte den Schweizern an und erwarb ihm für seine Wünsche um höheres Avancement keine Erhörung. In dem immer mehr sich deshalb steigernden Unmuth verlebte Terschka auf dem schönen classischen Boden qualvolle Jahre. Die täglichen Uebungen auf der römischen Campagna, in der Sonnenhitze, auf den dürftigen, vom Rosseshuf so vieler Kriege und Völkerwanderungen zerstampften und um jede Fruchtbarkeit gebrachten Heideflächen stimmten ihn oft zur Verzweiflung. Dann versuchte er den Uebergang zu den Truppen, die inzwischen vom päpstlichen Regiment selbst organisirt wurden; aber sein empfangenes Handgeld verwies ihn in die Reihen derjenigen Krieger, bei denen er nun einmal stand. Zuletzt reclamirte er seine österreichische Unterthanenschaft beim kaiserlich österreichischen Botschafter, durch dessen Kanzlei ihm die von ihm erbetenen Eröffnungen über seine in Böhmen befindliche Familie und sein mütterliches Vermögen zukommen sollten. Der strenge geregelte Gang des ganzen römischen Lebens jedoch, diese sich überall dort (wie in einem weitläufigen Palast, wo uns an jeder Treppe von Schildwachen eine strenge Zurückweisung zu Theil wird, wo uns jede Thür ihre 100 feierliche Aufschrift und ihr drohendes Wappen entgegenhält) beklemmend und angsterweckend gebende Geschäftsform verwies ihn immer wieder auf seine Kaserne, die nicht fern vom melancholischen Forum lag, unter den Trümmern der denkwürdigsten Vorwelt, nahe an jenen epheuumwucherten großen Thermen, die man nicht sehen kann, ohne an die grausamen Zeiten zu denken, wo unter dem Namen der Gladiatoren Hunderttausende in abgesteckten Lagern erst kostbar gemästet wurden, um dann als Fraß für die wilden Thiere oder, waren es Prätorianer, für den nicht endenden grausamen Krieg und die noch größere Grausamkeit der anstrengendsten Fußmärsche und Seereisen – von Indien nach Britannien – zu dienen. Oft kam ihm zwischen den einsamen weidenbewachsenen Hügeln, beim Fernblick auf die blauen Gebirge, beim Ahnen des hinter ihnen aufwogenden Meeres, der Gedanke an Selbstmord, an Flucht, Desertion; zuletzt schreckte ihn selbst der gewaltsame Tod durch die strafende Kugel nicht mehr.

Da erlöste ihn von dem ihm immer qualvoller werdenden Schicksal der Monotonie, der Abhängigkeit im Dienstzwang und des unbefriedigten Ehrgeizes ein neuer Unfall. Nicht das Bedürfniß nach Vertiefung seines regen Geistes war es, das ihn Augenblicke des wildesten Einsetzens seines ihm verhaßten Lebens leicht achten ließ; nur vorzugsweise der gebundene Ehrgeiz, nur die gebundene Leidenschaft tobte sich aus, als er zum zweiten mal ein Unglück zu Roß erlebte und, von einem für unbezähmbar geltenden Neapolitaner abgeworfen, für todt auf dem Platze blieb. Sein Wagemuth war durch Umstände herausgefordert, die fast an die Zeiten seines Kunstreiterthums erinnerten. Die Schweizertruppen hatten sich 1821 ausgezeichnet bei Unterdrückung der Aufstände des Montserrat und Piemont. Don Tiburzio Ceccone, der jüngere Sproß einer Familie der Nobili, war als Vorsitzender der Prevotalhöfe gegen die carbonarischen 101 Verschwörungen in kurzer Zeit zur höchsten Würde, zum Cardinalat, gelangt. 1819 war er, wie eine dunkle Sage ging, wie Holofernes von Judith, so von einem fanatischen Bürgermädchen Namens Lucrezia Biancchi beinahe ermordet worden und 1823 saß bei einem Besuche, den der Allgewaltige der Reitbahn der Schweizer-Lanciers zur Anerkennung ihrer geleisteten Dienste machte, neben ihm ein Kind von vier Jahren, bildschön – wie es hieß, seine »Nichte«, wie Andere sagten, sein eigenes, das Kind – eben jener Lucrezia Biancchi, die im Kloster der »Lebendigbegrabenen« noch leben sollte –! Neben beiden in angemessener Entfernung, doch nahe genug, um auf keine Anrede des stolzen, üppigleidenschaftlichen, noch jugendlichen Herrn im schwarzen Kleide mit rothen Strümpfen die Antwort schuldig zu bleiben, saß, zwar nicht mehr in erster Jugendblüte, aber immer noch mit dem Schönheitsausdruck römischer Imperatorenmütter und wie eine gekrönte Heroine, die Herzogin von Amarillas, eine frühere Sängerin Fulvia Maldachini. Ringsumher Würdenträger des römischen Hofes, auf einer mit bunten Teppichen belegten, mit Blumen geschmückten Estrade zuschauend den Reitkünsten der Arena. Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen würde bei dem Anblick gesprochen haben: »Offenbarung Johannis 16: Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Thiere und sie war bekleidet mit Scharlach- und Rosinfarbe und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen und hatte einen Becher in der Hand, voll Greuel, und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu –.«

Wie anmuthig aber, wie freundlich, wie unschuldig machte sich alles das in Wirklichkeit! Lachen und fröhliche Lust auf den Mienen, ganz so rein wie der tiefblaue Himmel über ihnen, wo nur wenige rosige Wölkchen wie kleine Montgolfieren 102 schwammen! Die Trompeten schmetterten. Das störte eine Nachtigall nicht, die sich nebenan in den Syringenbüschen einsam glaubte unter ringsum liegenden zertrümmerten alten Säulenschaften. Wie schwatzte man durcheinander! Im Kreise gingen Sorbets, die der Koch Ceccone's bereitete, dann und wann mit seiner weißen Tellermütze hervorlugend hinter einem improvisirten, teppichbehangenen Verschlage. Terrassenartig stiegen rings die Hügel hinan und aus Villa und Kloster und hinter alten Tempelsäulen und Thermenbögen guckte die abgesperrte Neugier in das tieferliegende Bild der Arena, der schnaubenden Rosse und einer Quadrille, ausgeführt von den besten Lanzenreitern auf Rossen, die zu tanzen schienen. Neue kleine goldene Scudis waren geprägt worden mit dem Bildniß des Stellvertreters Christi, zierliche kleine Halbdukaten, auf der Reversseite mit beziehungsreicher Inschrift für den neuen Triumph der Ordnung und des Glaubens. Eine Büchse voll davon rüttelt die kleine Olympia, wie die vierjährige Nichte genannt wurde, und plaudert und plaudert, wie viel das Kriegsministerium jedem als buona manchia verabfolge, der jetzt die schöne Quadrille zu Pferde tanze. Kein Sirocco weht. Leichte milde Frühlingsluft nach langem Regen. Ein Duft ringsum, wie hergefächelt aus den Gärten der Hesperiden. Und nun macht sogar Ceccone ganz ungeistliche Witze und spricht, wenn die Rosse sich nicht nach Sitte aufführen, zu einem Mitglied des diplomatischen Corps – von »Hesperidenäpfeln«. Frägt dann rasch die Frau des spanischen Gesandten ihren Mann: Qu'est-il qu'il a dit? so citirt Eminenz selbst mit graziös lächelnder Miene und so, wie eben auch nur ein Cardinal lächeln kann, einen Vers aus Guarini's Schäfergedichten. Luft, Sonne, Licht, Farbe – Glück und Wonne ringsum – aber Wenzel von Terschka's Solo mislang. Sein Neapolitaner war nicht so leicht gebändigt, wie die Revolution General 103 Pepe's. Der kühne Reiter liegt auf dem Boden und alle halten ihn für todt. Dort heraus ragt das Coliseum, wo in solchen Fällen ruhig die alten Opfer aus den Schranken hinausgetragen wurden und der Römer gleichgültig zur Tagesordnung, einem neuen Kämpfer, überging. Jetzt entsühnt ein Kreuz die wilde Stätte und – was schuldigst du auch nur ewig Rom so ungebührlich an, greise waldensische Herrin von Castellungo! – das Carrousel – hört sogleich auf. Man trägt den für todt Erklärten in das Ospizio de Benfratelli. Vorläufig wird die halbe Büchse voll Paolis für ihn allein bestimmt. Die andere Hälfte der buona manchia erhalten die andern ohne weitern Gladiatorenkampf. Die Herrschaften brechen auf und fahren von dannen. Ecclesia abhorret sanguinem – »Die Kirche will kein Blut.«

Wie wurde der Instructor der Reitbahn bemitleidet! Man erfuhr: Drei Rippen waren ihm gebrochen, das Uebrige zur Besinnungslosigkeit that die Erschütterung. Nun hörte man vollends noch, der Unglückliche trüge einen adeligen Namen. Die besonderste Obhut nahm ihn nun in Schutz.

Drei lange, traurige Monate lag Terschka bei den Benfratellen und war endlich geheilt. Er erklärte, kein Roß mehr besteigen zu können und keines mehr besteigen zu wollen. Er erbittet seinen Abschied und erhält ihn. In der That schleicht er siech und elend zu Roms Gassen am Stabe dahin. Aus Böhmen hatte Wenzel von Terschka die Kunde erhalten, daß schon vor Jahren die Verlassenschaft seiner Mutter in Concurs gerathen war; eine Feuersbrunst hatte ihr unversichertes Eigenthum entwerthet. Uebrigens dachte er auch nicht mehr gern an Verwandte, die Bäcker waren. So voll Ehrgeiz steckte er, daß es ihn ärgerte, als der Laienbruder der Benfratellen, der ihn spazieren führte, an dem kleinen deutschen Friedhofe, der dicht an der Peterskirche liegt, sagte: 104 Sehen Sie nur, Herr, fast alle Deutsche, die hier begraben liegen, sind Bäcker gewesen! Das Backen haben die Römer erst wieder aus Schwaben und Baiern gelernt! Alle diese alten Bilder an den Grabmälern sind deutsche Bäckermeister!Thatsächlich. Terschka sah kaum hinüber. Er blickte nur hinauf zu den Zimmern des Papstes, zu den Zimmern des Cardinals Ceccone, der im Vatican ein Stockwerk höher als der Papst wohnte. Den Priestern, die im Hospital dienen, erklärte er endlich. als er völlig geheilt war, und mit zagender Schüchternheit, daß er Lust verspüre, in den geistlichen Stand zu treten.

Der Orden der Jesuiten war noch nicht lange wiederhergestellt und besonders zu diesem zog es Terschka, da er sich bei alledem die Kraft zu einem still beschaulichen Leben nicht zutraute. Nun war er vierundzwanzig Jahre alt und hatte nicht viel gelernt, außer ein paar lebenden Sprachen. Aber sein Geist war mächtig entwickelt gleich seinem Körper – er, der zwei Monate zu früh ins Leben gekommen! Sein Wunsch war ein Wagniß, das ihm mislingen konnte; aber er zeigte sich listig. Er hatte den Muth, an die kleine Olympia zu schreiben und ihr in dem schnell erlernten Italienisch durch ein Sonett zu sagen: »Du süße himmlische Kleine! Sei mein Schutzengel! Erwirke mir die Sporen des heiligen Georg, die mich nicht wieder, wie die irdischen, im Stich lassen sollen! Ich will für dich beten bei Ignazius von Loyola, der ja auch ein invalider Krieger war und jetzt der Gottesmutter so nahe steht! Hilf mir auf diesen Weg, du süßer Engel!« . . . Olympia, die Tochter jener Lucrezia Biancchi, die ihre Tugend opferte, um den »Haß des Menschengeschlechts«, wie den obersten Richter der Prevotalhöfe die Carbonari nannten, zu tödten, hüpfte mit diesen Zeilen zur 105 Herzogin von Amarillas, ihrer Erzieherin, ihrer Hofdame, wie man sagen konnte – Tiburzio Ceccone lebte auf fürstlichem Fuß und erzog die Tochter der im Kloster der Vivi sepulti gefangen und als »irrsinnig« lebenden Mutter, die den Tod verwirkt hatte, wie seine eigene – was gab es da nicht alles zu verschweigen, was nicht mit Schleiern zu bedecken –! Sogar den Proceß hatte man der neuen Judith nicht machen können – eben deshalb nicht, weil sie durch einen Priester Mutter geworden war. Abends beim Thee zeigte die Herzogin dem Cardinal die in leidlichen Versen vorgetragene Bitte des jungen Schweizerlanciers; der Cardinal mit seinem feurigen Cäsarenkopf lachte und Wenzel von Terschka, dessen Antecedentien man noch nicht vollständig kannte, klopfte eines Tages – an die Pforte des Collegio al Gesù.

Kommt ihr niederwärts vom ehemaligen Capitol und lasset zur Rechten jene Kapuzinerkirche, wo eine kleine hölzerne Figur, in die Gewänder eines Wickelkindes eingeschlagen, »Bambino« genannt, als Jesuskind gegen alle Anfechtungen des Lebens angerufen, ja sogar in Procession aus der Kirche abgeholt wird zu Sterbenden oder Wöchnerinnen, so steht ihr an einem kleinen Platz vor einer Kirche, der reichsten in Rom, nicht der geschmackvollsten. Die Façade, die innere Ausschmückung gehört der Kunstepoche Bernini's an. Wagen über Wagen rollen bei ihren Stufen vor, Bettler in langen Reihen berühren die seidenen Gewänder der vornehmsten Damen und reißen den Eintretenden große lederne Decken auf, welche die Vorhänge der Thüren bilden. Drinnen empfängt dich ein mystisches Dunkel, Weihrauch, Lichterglanz, eine stickige Luft von Tausenden. Nirgends wird so laut gebetet, so sicher gesungen, so feurig gepredigt in Rom wie hier. Marmor und Gold sind verschwendet, Grabmäler stehen mit Statuen von großen Meistern geschmückt, 106 kostbare Kapellen laufen ringsum; sie haben die bequeme Einrichtung, daß sie unter sich durch Thüren zusammenhängen und als trauliche Winkel dienen, in denen man hinter einem Pfeiler flüsternd verweilen oder einer im Schiff laut daherschallenden Kanzelrede in aller Stille folgen kann. Am östlichen Ende liegt eine kleine Ausgangsthür. Sie führt den Durchgehenden auf steinernem Fußboden in einen Nebenausgang – man sieht einen düstern Hof, in welchen Fenster eines großen todtenstillen Gebäudes hinausgehen, das sich dicht an die Kirche anlehnt. Kein Gefängniß ist es, obgleich die Fenster vergittert, ja theilweise mit Bretern vernagelt sind; es ist das Collegium der Jesuiten.

Terschka's Anmeldung wurde durch die Empfehlungen des Cardinals erleichtert. Ein Oberer empfing ihn, legte ihm Fragen vor und – wiederholte diese Fragen noch einmal, nachdem sie schon beantwortet waren. Sonderbar, er fragte sogar nach Dingen, die in vollem Gegensatz zu dem standen, was er soeben aus Terschka's Antworten gehört hatte. Terschka sagte dann auch befremdet: Ehrwürdiger Vater, ich hatte bereits bemerkt –! Ein andermal: Wenn ich schon gestand, keine todte Sprache zu kennen, so kann ich doch nicht griechisch verstehen –. Terschka ging. Der Obere nickte ihm freundlich nach.

Niemand ließ sich aber wieder bei ihm sehen. Er wohnte noch immer bei den Benfratellen. Er war vergessen; wochenlang. Tag um Tag verging. Terschka gerieth außer sich. Die Benfratellen klärten ihn auf. Der Obere hat Ihren Charakter prüfen wollen! Sie sind ungeduldig! Nur deshalb stellte er sich Ihnen vergeßlich und schwachsinnig, um zu sehen, ob sich bei Ihnen eine heftige Selbständigkeit Ihres Wesens zeigen würde. Terschka verstand jetzt das Benehmen des Obern. Voll Verzweiflung über sich selbst wollte er wieder an die kleine Olympia schreiben. Thun Sie das ja nicht! hieß es allgemein. So geh' 107 ich noch einmal zum Obern! »Er wird Sie abweisen! Warten Sie in Geduld!« Vier Wochen wartete Terschka. Dann rief man ihn in der That wieder. Er hatte »Geduld« bewiesen.

Ein anderer Oberer erschien und lobte Terschka, daß er sich beherrscht und nicht gemahnt hätte. Auch er fragte vielerlei und Terschka antwortete schon ruhiger und mit größerer Vorsicht. Nur als der Obere sagte: So bleiben Sie denn jetzt sogleich hier! und Terschka erwiderte: Aber, mein ehrwürdiger Vater, ich habe erst meine Sachen zu ordnen! da veränderten sich die Gesichtszüge des Examinators. Wieder hatte Terschka nicht bestanden. Wieder hatte er einen andern Willen als man vorausgesetzt. Er ging, nunmehr schon seine wiederholte Verkehrtheit ahnend.

Und neue vier Wochen verstrichen, die er warten mußte! Der Novize seufzte, aber er war demüthig geworden. Sehnsüchtig ging er an dem Collegio vorüber, sah zu den Fenstern des riesigen Gebäudes auf; jede Wallung, anzuklingeln und sich zu Erinnerung zu bringen, unterdrückte er, und als man ihn dann endlich wirklich rief, schlich er ruhig und ergeben in das ihm angewiesene Zimmer.

Man gab ihm ein Neues Testament, den Thomas a Kempis und Rodriguez über die Gesellschaft Jesu. Er konnte kein Latein. Er mußte dies und überhaupt alles von vorn an erlernen – in seinem vierundzwanzigsten Jahre! Aber alle Besuche, die er von zwei zu zwei Stunden bald von diesem, bald von jenem Ordensgliede empfing, verließen ihn mit dem Zeugniß, das sie den Oberen ablegen konnten, der junge Novize besäße Geist und seltene Welterfahrung. Außerordentlich schien er gefallen zu haben. Nach acht Tagen erhielt er ein gedrucktes Examen, das er schriftlich beantworten mußte. Er konnte es deutsch oder italienisch thun.

108 Schon in dieser Aufforderung zur vollständigen Darlegung seines Lebens lag für ihn ein Anlaß zu mancherlei Besorgniß. Sein Leben enthielt so gefahrvolle Dunkelheiten. Das Mal am linken Arme. Sein erster Beruf der einer schnöden Schaustellung seiner Person. Wie konnte er auf eine künftige Priesterweihe hoffen. Er verzweifelte; zum Erfinden von Ausreden und Verschleierungen der Wahrheit verlor er in diesen Mauern ganz schon den Muth. Auch war es ihm fast, als käme man hier immer am siegreichsten durch, wenn man sich in allen Lagen ein für allemal auf Gnade und Ungnade ergab und sich ganz so nackt und so bloß darstellte, wie man wirklich war.

Schon glaubte der Novize am Ziel seiner Wünsche zu sein, als er in dem gedruckten Formular auf eine Stelle stieß, wo es hieß, daß er noch sechs Monate außerhalb des Hauses der Gesellschaft leben müßte und erst sechs verschiedene anderweitige Proben durchzumachen hätte! Er traute seinen Augen nicht. Wieder ein halbes Jahr seines Lebens verloren! Von jetzt an – es war zur Zeit der Sommermitte – bis zu Weihnachten wieder in einen nur halben Zustand zurückversetzt, wieder auf sich selbst angewiesen, auf die Unruhe und Ungeduld seines Herzens? Er hoffte auf Erlaß dieser Bedingung und hielt sie für eine nur gewohnheitsgemäß beibehaltene, aber außer Uebung gekommene alte Förmlichkeit. Man holte das Blatt ab. Drei Tage vergingen. Schon nahm er am gemeinschaftlichen Mahle theil, schon hatte er sich manches einzelne Ordensmitglied, das ihm zusagte, herausgefunden, da wurde ihm mit freundlichster Miene angekündigt, daß er auf sechs Monate seine Zelle wieder zu verlassen hätte: einen Monat sollte er bei den Schülern des Collegium germanicum wohnen, einen Monat in San-Michele Kranke pflegen, einen Monat sich als Wallfahrer kleiden und in Rom auf zehn Meilen in der Runde seinen Unterhalt durch 109 Betteln suchen; dann zurückkehrend sollte er im Collegium täglich einen Monat lang die Stuben reinigen, im fünften Monat aber in einer entfernten Kirche der Vorstadt Knaben in den Anfangsgründen der Religion unterrichten und im sechsten Monat allen Predigten beiwohnen, deren in den hundert Kirchen Roms drei oder vier täglich und zu verschiedenen Zeiten gehalten wurden, und darüber Referate liefern und bei allen diesen Proben zu gleicher Zeit auch noch die lateinische Sprache lernen.

Aufschreien hätte Wenzel von Terschka mögen vor Verzweiflung, aber schon band er sein Bündel und schickte sich an, ruhig die Vorschrift zu erfüllen. Sein Auge blinzelte; er hatte bereits bemerkt, daß, wie beim Opfer Abraham's, hier der Wille zuweilen für die That genommen wurde; er hatte bemerkt, daß man allmählich auch unter dieser strengen Disciplin abzuhandeln und abzumarkten versteht. Und in der That, man ließ ihn zwar aus seiner Zelle schreiten, wies ihn aber doch nur zwei Stockwerk höher, um ihn zu jenen deutschen Knaben und Jünglingen gelangen zu lassen, die in Rom zu Priestern erzogen werden. In dem mächtigen Gebäude war auch für diese Platz. Ein Rector empfing ihn, lächelte seines Alters, sprach ihm Muth zu und alles das in deutscher Sprache – Pater Xaver war aus dem Innviertel. Ein rothes Kleid mit einem schwarzledernen Gürtel mußte Terschka anlegen, wie seine Genossen. Um fünf Uhr mußte er aufstehen, das Sakrament in einer Kapelle besuchen, dann in einer Zelle Betrachtungen lesen, sie auswendig lernen, hierauf zur Messe gehen und erst um acht Uhr ein leichtes Frühstück nehmen, zu dem noch Matutine und Laudes aus dem Brevier zu sprechen waren; so ging es von Stunde zu Stunde weiter bis zur neunten des Abends, wo im Nu sämmtliche Lichter des Hauses erloschen sein und alle Schüler auf hartem Lager sich dem Schlaf empfohlen haben mußten. So zuerst acht Tage lang. Dann 110 aber wurden die Vorschriften leichter. Glückliche Hoffnung, die ihn beseelte, er würde die fünf übrigen Monate erlassen bekommen! Sie erfüllte sich theilweise und in erfreulichster Art. Er brachte sie sämmtlich bei den deutschen Jünglingen zu, deren Unterricht er zu theilen hatte. Schon die Scham, unter Knaben ohne Bart verweilen und von vorn Latein beginnen zu müssen, beflügelte seinen Lerneifer. Er, der das Leben schon in allem kannte, was ungestüm der natürliche Mensch zu fordern pflegt– saß hier auf der Schulbank; sein Kleid und sein physischer Bau ließen ihn dabei äußerlich so jung erscheinen wie die neunzehnjährigen.

Seltene, aber glückliche Stunden waren es, wenn die rothgekleidete Schar in den ihr eigenthümlich angehörenden Weinberg wandern durfte, um dort einen Nachmittag, meist ballschlagend und wettlaufend, zuzubringen. Dieser Weinberg lag nicht weit von Terschka's ehemaliger Kaserne, auf den Höhen des Monte Cölio, dicht an einer Kirche, die von außen die merkwürdigste, von innen die abschreckendste aller römischen Kirchen ist. Gerade den deutschen künftigen Priestern hat man die Rotunde des heiligen Stephanus gewidmet, einen alten, denkwürdigen Bau, der mit Bildern grauenhafter Art geschmückt ist. Ausschließlich scheint sie dem Martyrium gewidmet. Da liegt die vom Henker abgerissene blutige Brust der heiligen Agathe auf der Erde; ein Tiger krallt seine Tatzen in das Fleisch eines nackten Jünglings; der heilige Hippolyt wird, mit seinen Füßen an flüchtige Pferde gebunden, dahingeschleift – es ist eine blutige Anatomie, eine Morgue, in deren Anschauung gerade die deutschen Jünglinge in Rom Erholung finden sollen! Wahrhaft erquickend war da der zuweilen gewährte Besuch in den Gärten des Heiligen Vaters auf dem Quirinal. Die blauen, gelben, grauen Jesuitenschüler erfreuten sich damals dieser Gunst öfter noch, als die 111 rothen; jetzt lernt man auch die Bedeutung dieser rothen Jünglinge schätzen. Wie berauschend, wie ewig an Rom fesselnd, bei Sonnenglut in diesen herrlichen haushohen kühlen Boskets von geschnittenen Myrten zu wandeln und da ein Kegelspiel, Trucco genannt, zu spielen! Unter dieser Fülle von Oleandern, blühenden Aloes und Cactus! Unter diesen zahllosen Orangenbäumen, deren Blüten die Luft mit berauschendem Duft erfüllen! Ringsum tobt und wogt das lärmende Rom, die Wagen fahren, die Brunnen schäumen – aber auf diesem hochgelegenen Hügel verbirgt sich hinter einer chinesisch absperrenden hohen Mauer, dicht an dem Palast der zweiten Residenz des Heiligen Vaters (der Lateran, die dritte, ist ein Stiefkind der Päpste geworden), ein stiller Garten, geschmückt mit allen Reizen der Natur. So dicht gezogen und beschnitten sind die edelsten Platanen, daß es unter ihnen bei glühender Mittagshitze kühl ist, Springbrunnen plätschern, die Lacerten schleichen unter den großen, bis zum Boden wuchernden Feigenblättern dahin, Marmortische und Sessel laden zur Ruhe in den erquickendsten Schatten, den jene zwei Stockwerk hohen geschnittenen engen Myrten- und Ligusterhecken hervorbringen helfen – die Wege sind so schmal, daß man nur fast allein, nicht im Selbander durch sie hindurchschreiten kann. Hier reinigte die balsamische Luft alle vier Wochen einmal die Brust vom erstickenden Schulstaub. Terschka, der Mann, der schon auf einer ansehnlichen Höhe des Lebens Angekommene, der mit Erinnerungen schon für ein halbes Leben Ausgestattete, konnte hier eine Weile vergessen, daß er wieder zum Kinde geworden, konnte die marmornen Hermen bewundern, die, rings umschlossen von Epheu und Myrte, in den Boskets standen und Frauenbilder der alten Römerzeit von seltener Schönheit darstellten. Zwei dieser Hermen erklärte er, wie in still unterdrückter, noch nicht abgeschworener Liebesglut, für die Herzogin von Amarillas und das künftige 112 Jungfrauenbild der kleinen Olympia. Sie sind noch jetzt von jedem zu finden vor dem kleinen Casino des Papstes, dicht in der Nähe der Treibhäuser, unter Gruppen von Aloes, zwei weibliche Köpfe voll Starrheit, Verwegenheit und jener Sphinxschönheit, die Terschka in seinem spätern Leben nur zweimal wiedersah, bei jener Angiolina in Dalmatien und bei Lucinden – unter den Offizieren in Kiel sagte er's damals.

Nachdem Terschka, nach zweijährigen Studien unter den deutschen Schülern, wieder ins Collegium hinuntergezogen war, gaben seine Generalbeichten mancherlei Anstoß. Sein vergangenes Leben widersprach den Ansprüchen, welche die Kirche an die Unbescholtenheit ihrer Priester macht. Sie duldet keine Entstellung des Rufes wie des Körpers, keine schwächlichen, krankhaften Gestalten, nichts, was irgendwie dem Makel der Welt verfallen ist und etwa dem Geist das Uebergewicht verleiht – auch Pater Sebastus hatte noch nicht die Weihen empfangen. Aber Wenzel von Terschka bot alles auf, sich Erhöhung zu verschaffen und die Vergessenheit der Jahre, wo er als Kind und Knabe unter Räubern und Gauklern lebte, durchzusetzen. War doch mancher vornehme römische Prälat verdächtigem Gesindel der Sabinerberge entstammt. Und eine thatkräftige Natur muß zu einem Ziele, das sie sich einmal gestellt hat, irgendwie hindurch. Sie bereut vielleicht später die Anstrengungen, die sie machte, des nicht befriedigenden Lohnes wegen; aber den Werth des Lohnes, ahnt man auch schon seine Geringfügigkeit, erwägt derjenige nicht, dem eine Laufbahn Mühen macht und der Kopf voll Ehrgeiz steckt. Selbst den ihn außerordentlich gravirenden Anstoß des Brandmals auf seinem Arm, das durch nichts hinwegzutilgen war, das jeder chemischen Beize, jeder blutigen Operation widerstand, überwand seine Geduld, sein inbrünstiges Bitten, zuletzt seine Intrigue; denn so unmöglich es fast war, außerhalb des Collegiums einen Briefwechsel zu 113 unterhalten, Terschka übersandte wieder einen Brief an die Herzogin von Amarillas und dichtete wieder ein Sonett an Olympia Maldachini.

Die Kleine, die als Italienerin von sechs Jahren schon so entwickelt und willensstark war, wie eine Deutsche von zehn, setzte ihrem heiligen Georg Schild und Lanze durch. Die Väter lächelten und schienen eigenthümliche Pläne zu haben. Terschka erhielt die Sottane, den schwarzen Leibgurt, die schwarzen Strümpfe und Schuhe, sein Haupthaar wurde geschoren. Ecco un nuovo fratello! rief eines Tages bei Tisch der Novizenmeister den übrigen Novizen zu.

Gräfin Erdmuthe hatte mit ihrem Ausruf, als sie zum ersten mal Terschka's ansichtig wurde, Recht gehabt. Terschka war Jesuit.


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