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XIX. Mystifikationen des deutschen Volkes durch literarische Phantasmagorie und Taschenspielerei.

A. Der Deutsche ein Gemütsmensch, d.h. eine wiederkäuende Kreatur.

Der Deutsche gehört zum Geschlechte der Wiederkäuer. Das deutsche Gemüt hat zum mindesten sieben irdische und himmlische Instanzen, und wenn es nur die irdische Zeit erlaubte, so würde die deutsche Justiz sicherlich sieben Appellationen und Restitutionen in integrum Vgl. S. 236, Anm. 2. eingerichtet haben. Wer sich aus eigner Erfahrung auf das deutsche Naturell versteht, der weiß, daß der Deutsche ein prädestinierter Altflicker ist. Im Neumachen, im Schneiden aus dem Vollen, im Schaffen ist für den historisch gearteten Germanen nicht die Gemütssatisfaktion, nicht die Herzenspoesie wie in den Arbeiten und Prozeduren, durch die ein dem Hades bereits verfallenes Ding noch ein letztes Mal dem Leben wiedergegeben wird. In den zärtlichen Redensarten des Deutschen: »Mein alter Junge, mein Alterchen, mein altes Haus« ist die Vorliebe für das Alte, das deutsche treue Gemüt aufs rührendste ausgedrückt. Das deutsche Herz verwächst mit seinen Gewohnheiten und Arbeiten, mit allen kleinsten Situationen und Dingen, mit Kleidern und Gerätschaften; der Deutsche repetiert an ihnen, an seinen gewohnten Arbeiten und Redensarten, auf allen Wegen und Stegen, an alten Strauchzäunen, Dächern und überhangenden Giebeln die alten Stimmungen und Gedanken. So geschieht es, daß ihm alle Dinge und Beschäftigungen, alle Verhältnisse und Formen zu einer lebendigen Symbolik, zu einer Bilderschrift werden, in welche das nie rastende deutsche Gemüt Perspektiven hineingräbt, bis die Wachträume sich einen ätherischen Leib zubilden und mit der Wirklichkeit so verschmelzen, daß der deutsche Idealist nicht mehr Ding und Vorstellung auseinanderhalten kann, daß er nur mit den eingelebten Formen, mit den gewohnten Umgebungen und Naturszenen seines Geistes mächtig bleibt. Und so geschieht es, daß er nur zu oft den Charakter aufgibt, wenn er das Vaterland verliert.

Eingelebte Formen und Vätersitten, eine bleibende Naturszenerie, ein gewisser Mechanismus in der Haus- und Lebensordnung wie im Staate, ein festes Dogma in der Kirche, das sind die Fundamente des deutschen Lebens, die endlichen Bedingungen der deutschen Kultur. Das Volk zumal braucht eine Schablone und ein unwandelbares Ziel, um desto freier von innen heraus seine Träume und Gedanken wuchern zu lassen. Der Deutsche ist eins von den rankenden Gewächsen, welches Spaliere oder kolossale Waldbäume, d.h. zum Himmel gipfelnde Ideen und theosophische Systeme zum Anhalt gebraucht. In der Religion und Philosophie wachsen diese Waldbäume, und sie geben die Masten für die Lebensschifflein her, die eben aus den Gewohnheiten, den Schablonen der Schule und Konvenienz zusammengezimmert sind. Der Deutsche kann und soll nicht anders: er folgt so den Gesetzen seiner Geschichte und Natur. Er braucht für seinen himmelstürmenden Idealismus das Gegengewicht einer festen Methode, einer Norm, eines durch Formen gebundenen Lebensstils, der den Deutschen in den Ruf des Pedantismus gebracht hat; aber diese Pedanterie bildet gleichwohl das feste Gerüst für die deutsche Naturwucherung und Träumerei.

Der nie rastende kritische Verstand des Deutschen und dann wieder seine Phantasterei und Abergläubigkeit haben das natürliche Gegenmittel und Gegengewicht, nämlich die Orthodoxie und die Pietät für Autoritäten, für Geschichte und Herkommen, für das Rokoko in Kirche und Staat, hervorgerufen. Die Neudeutschen haben diese Zentripetalkraft unserer Natur den deutschen Zopf getauft; dieser Zopf verhindert aber eben, daß wir den Kopf zu lebhaft hin und her drehen, statt auf den Weg vor uns zu achten. Man hat uns in Stelle der Zöpfe und Autoritäten nagelneue Ideen empfohlen; die alten deutschen Ideen sind aber naturgemäß mit den deutschen Autoritäten zusammengetraut und dürfen von ihnen nicht geschieden werden. Mit der Pietät gibt das deutsche Volk seine deutsche Natur und Seele, seine deutsche Geschichte auf.

Der Deutsche muß so zopfig sein, weil er so neubegierig und assimilationskräftig ist, daß er aller Welts Literaturen, Künste und Sitten verdaut. Die Metamorphosen und Verdauungskräfte gehören aber mehr der Sinnlichkeit und dem Verstande; das deutsche Herz verleugnet sich in keiner Reformation. Alle proklamierten »überwundenen Standpunkte« sind solche keinmal im Gemüte, keinmal in der heimatlichen Lebensordnung und am wenigsten in den Augenblicken, wo die Leidenschaft erwacht ist. Es geht uns allen wie jener in Wehen liegenden, auf höhern Töchterschulen gebildeten Jüdin, welche mit » ah mon dieu« zu wehklagen anfängt, aber mit » ai wai« ihr Kind zur Welt bringt und mit einem Gebete zu Adonai, dem Gott Mosis und Abrahams, schließt. Daß im deutschen Volke von überwundenen Standpunkten nicht schlechtweg die Rede sein kann, hat jeder begriffen, der überhaupt etwas begreifen kann und will; dessen nicht zu gedenken, daß eben die überwundenen Momente die Jahresringe und der konkrete Inhalt des Menschengemütes sind. Wie aber selbst in den deutschen Gelehrten die überwundenen Standpunkte immer wieder zu überwindenden Mächten werden, das kann man am erbaulichsten an den Literaturhistorikern ersehen.

Es gibt auch unter den Wiederkäuern edle und graziöse Kreaturen, z.B. den Hirsch und die Wüstengazelle; aber der deutsche Literaturhistoriker ist ein gelehrtes Kamel, welches die Literaturwüste mit demselben Gleichmut und denselben gemessenen Schritten durchschreitet als die Oasen. Ob die Kamele durch fata morgana vexiert werden, weiß man nicht, daß aber die deutschen Literaturkamele noch mehr mit Illusionen zu kämpfen haben als die Literaturlaien, das beweisen sich die Literaturgelehrten untereinander. Jeder desavouiert den Enthusiasmus seiner Vorgänger, und jeder zahlt seinen Zoll von Luftspiegelungen an einer andern Stelle. Bei dieser Gelegenheit habe ich es aber nur mit dem Wiederkäuen zu tun. Ob es dem Vieh eine größere Wollust verursacht als das erste Zerschroten des Futters, kann der Physiologe nur vermuten; wie wollüstig aber dem deutschen Literaturhistoriker zumute wird, während er den aufgewärmten Literaturfraß durch alle sieben gelehrten Mägen bewegt, das entnimmt man unzweifelhaft daraus, daß dem gelehrten Wiederkäuer nur zu oft die gesunden fünf Sinne und der gesunde Menschenverstand vergehen. Was jeder Ungelehrte mit Händen greifen kann, das müssen die deutschen Gelehrten a priori konstruieren, und was von diesen Herrn als ein Wirklichstes und Natürlichstes traktiert wird (wie zum Beispiel die absolute Wissenschaft, die absolute Schönheit und Sittlichkeit, die Philosophie der Weltgeschichte, die Kontinuität und Realität der Ideen, die Kontinuität der Wahrheit und des Rechts, die Versöhnung der Lebensgegensätze, nämlich des Geistes und der Natur, der Sinnlichkeit und der Schulvernünftigkeit zu einer göttlichen Vernunft in Kirche und Staat; die Weltgerechtigkeit, der Weltfortschritt, die überwundenen Standpunkte, die Gewissensfreiheit der Welt) – von alledem vermag das Publikum nicht früher etwas zu begreifen, als bis es vom Literaturmiasma mit angesteckt und vom Büchermagnetismus somnambul geworden ist. Wer dafür Beispiele im kleinen haben will, muß Abhandlungen über altdeutsche Poesie oder über die Antiken lesen und beide Gegenstände aus eigner Praxis kennen. Wo hier der eine in Gesichten liegt und Geistererscheinungen hat, da sieht und empfindet der andere nichts und umgekehrt. Aber in der Wollust des Wiederkauens kommen alle Archäologen und Literaturhistoriker überein.

B. Die überwundenen Standpunkte, die Geschichte und der politische Fortschrittsprozeß.

Sylvestre de Sach Vgl. S. 177, Anmerkung. sagt ergreifend wahr: »Ein Land ohne Urkunden, ohne Altertümer ist für das Gemüt eine dürre, trostlose Wüste.« – –

»Ebenso ist die Ehrlichkeit ein Ding, das sich nicht aus dem Stegreif machen läßt; sie ist die Frucht der Generationen.

Kein abstraktes, weder religiöses noch philosophisches Prinzip hat die Macht, einen ehrlichen Mann zu schaffen [die Geschichte muß es tun]. In der Ordnung der Geisterwelt sind viele und vortreffliche Dinge jung; nicht also in der Ordnung der sittlichen Welt. Hier ist nichts zu erfinden, nichts zu entdecken. In der Moral ist das Alte das Wahre, denn das Alte ist das Ehrenhafte, das Alte ist die Freiheit. Hinweg also mit dem Wahne, daß die Revolution von 1789 uns der Mühe überhebt, tiefer in die Vergangenheit der Menschheit einzudringen! Die Revolution verführt anfangs durch ihren stolzen Gang, durch jenen großartigen, leidenschaftlichen Zug aller geschichtlichen Bilder, die sich auf der Straße entrollen. Lange, sagt Renan, Der berühmte Verfasser des »Lebens Jesu«, Ernest Renan (1823 bis 1892), hat in der Schrift »Die Reform des Geistes und der Moral« auch politische Themen behandelt. hat sie auch mich verblendet; wohl sah ich die Mittelmäßigkeit des Geistes und die geringe Bildung der Männer, welche die Revolution machten, und dennoch steifte ich mich, ihren Werken große politische Tragweite beizulegen. In der Folge aber kam ich zu der Erkenntnis, daß, mit wenigen Ausnahmen, die Männer jener Zeit ebenso naiv in der Politik wie in der Geschichte und Politik waren. Da sie nur wenige Dinge übersahen, so merkten sie nicht, welch eine komplizierte Maschine der Mensch ist, und wie die Bedingungen seiner Existenz und seines Glanzes von unmerklichen Schattierungen abhängen. Die tiefere Kenntnis der Geschichte ging jenen Männern völlig ab. Eine gewisse geschmacklose Emphase stieg ihnen zu Kopf und setzte sie in die dem Franzosen eigentümliche Trunkenheit, welche oft Großes vollbringt, aber alles Voraussehen der Zukunft wie einen nur über das Gewöhnliche erweiterten politischen Blick unmöglich macht.«

Daß man nicht aus einem katzenwilden Tscherkessen vom Kaukasus, auch wenn man ihn von der Mutterbrust weggeholt hat, einen Salonlöwen, einen Kammerherrn oder gar einen Professor der Ästhetik großziehen kann; daß sich aus neuholländischen Wilden und Fidschi-Insulanern, aus Botokuden oder Buschhottentotten durch alle Kulturmittel der Schule und Sitte, auch noch in der dritten Generation, nicht die christlich-deutsche Humanität von Spener und Schleiermacher oder die christlich-antike von Schiller und Goethe entwickeln läßt; daß sich die Kluft zwischen der elementaren Menschennatur und dem kultivierten Menschengeiste nicht im ersten Anlauf durch Gedächtnisübungen, durch Formenwitz, durch idealen Schematismus, durch Grammatik und Dialektik, kurz durch Schule und Phraseologie überbrücken läßt; daß die Historie, die alles verwandelnde Zeit, eine Macht ist, die sich durch keine Methode und Prozedur, durch keinen Menschenwitz ersetzen und um ihre irdischen Rechte betrügen läßt; daß endlich alles »Machen« in der Welt mit einem natürlichen »Wachsen« verbunden sein muß: dies geben alle gebildeten Leute im allgemeinen zu; aber vor den Konsequenzen dieser Wahrheit aller Wahrheiten scheuen sie in ganz bestimmten Fällen sofort zurück, wenn diese Konsequenzen im Widerspruche mit der öffentlichen Meinung, mit dem Volksbewußtsein, mit dem modernen Gewissen, d.h. mit den Zeitschwächen und Zeitrenommagen stehen. Der moderne Irrtum und die Lüge der Zeit bestehen aber eben darin, daß man historische Tatsachen und Prozesse, wo sie unbequem sind, ignorieren oder abschneiden, daß man die Zeit um ihre Dauer und die Natur um ihre Mysterien betrügen, daß man eine unendliche Reihe von langsamen Entwicklungsmomenten überspringen und künstlich überbrücken, daß man Seelenleben und Charakterenergieen mit Verstandesschablonen ersetzen, daß man schnell-kultivieren, daß man Natur und Geschichte um ihre Gesetze und Mysterien betrügen, daß man tausend Dinge und Geschichten »machen« will, welche langsam wachsen müssen. Unsere Volksmassen sind allerdings keine Tscherkessen und keine Hottentotten, aber sie sind gleichwohl, nach vielen Seiten hin, zu barbarisch und beschränkt, um das Experiment zu riskieren, sie mit gemachten Rebellionen, mit demokratischen Wühlereien, mit republikanischen Stichwörtern (z.B. von überwundenen Standpunkten, von Ideen in Stelle der Autoritäten), um sie mit Leitartikeln, mit Journaltheologie, mit Sozialphilosophie, mit der Tagesphilosophie von »Stoff und Kraft«, mit national-ökonomischen Wissenschaften, mit Meinungsöffentlichkeiten und Geschwornensitzungen allein zu einer Volkssouveränität reif machen zu wollen, und zwar binnen einem Menschenalter oder am liebsten binnen Jahr und Tag. Die Renommage zumal »mit den überwundenen Standpunkten« ist eine ebenso schamlose als blödsinnige Scharlatanerie. Eben der Gelehrte, der Geschichtsforscher weiß am besten, daß und warum in den Fortschritten auch die Rückschritte und in den Zähmungen die Widernatürlichkeiten und Charakterschwächen gegeben sind. Alle Gebildeten wissen und fühlen, daß es ihnen nimmer gelingen will, Seele und Verstand, Vernunft und Sittlichkeit, Natur und Geist, Kraft und Anmut, Glaube und Wissen, Wissen und Gewissen, Kritik und Naivetät, Kritik und Glückseligkeit, Gesetz und Freiheit, Divination und Willenskraft, Materialismus und Gottesscham und alle die Gegensätze der modernen Bildung zu versöhnen. Nur der freche, ungeduldige Profanverstand der Volksführer, der Verächter der Geschichte, der Dilettanten des neu erfundenen Sozialismus ist es, der jenen langsamen und mysteriösesten aller Prozesse, in welchem die Jahrhunderte Jahre bedeuten, für einen einfachen und absolvierten erklärt.

Mit welcher Stirne melden also die modernen Propheten dem Volke uralte Sitten, Vorstellungen, Glaubensartikel, Gewissensfühlungen und Herzensgewohnheiten »als überwundene Standpunkte« an; mit welchem Gewissen wollen sie dem unwissenden Volke abstrakte und phantastische Ideen an Stelle selbst derjenigen Autoritäten setzen, welche ihnen die vaterländische Geschichte, die heilige Schrift und die Landessitte gegeben hat?

Nicht nur können lebendige Wahrheiten absterben und versteinern, wie die vorsündflutlichen Bäume sich in Steinkohlenlager verwandelt haben, sondern Irrtümer und Erfindungen der Phantasie können sich durch die lebendige Kraft des Glaubens, der Liebe und Einbildungskraft mit Fleisch und Blut bekleiden, können einen neuen, idealen Verstand im alten materiellen, toten Philisterverstande erzeugen, wie wir an der muhammedanischen Religion ersehen, welche in vielen hundert Millionen apathischer Asiaten einen Heldengeist, Künste und Wissenschaften, eine Kulturgeschichte, ein ideales Leben hervorgerufen hat.

Mit welchem Rechte, mit welcher Dialektik, welchem Mute wollen sich nun die Eintagsklüglinge an die Kritik und Zerstörung solcher Sitten und christlichen Glaubensartikel machen, in die sich das deutsche Volk kaum eingelebt hat, geschweige daß es die selben mit seinem Geiste überholt und überwunden haben sollte?

Es gibt keine ganz überwundenen Standpunkte und Autoritäten weder in der Weltgeschichte noch in der Sitte noch in der Philosophie. Es kann keine absolut überwundenen Standpunkte, d. h. keine ausgeschiedene Lebensprinzipe und Kräfte in der Naturgeschichte geben. Es verschwindet weder ein Atom der Materie noch eine Form und eine Kraft ganz und gar aus der Welt.

Somit gehört unendlich mehr Witz und Verstand, mehr Physik und Metaphysik dazu, als das Volk besitzt, um zu begreifen, in welchem Sinne, in welchem Maß und bei welchen Gelegenheiten der Mensch einen Standpunkt, eine Weltanschauung, einen Glauben, eine Sitte und eine Herzensgewohnheit für antiquiert erklären darf. Tagesparolen aber, welche man nicht cum grano salis zu interpretieren und mit überlegenem Geiste in Anwendung zu bringen vermag, sind ein Messer in des Kindes Hand.

Nicht nur die Ehrlichkeit ist eine Potenz, die von Generation zu Generation forterben, die in der Rasse, in der ganzen Geschichte eines Volkes wurzeln muß, wie die Politesse im französischen Volkscharakter und in der französischen Kultur, sondern alle zeugungskräftigen Tugenden und Talente, alle lebendige Intelligenz und Herzensbildung, alle Eigenschaften, welche die Kraft haben sollen, Geschichte und Glückseligkeit zu zeugen, müssen der Natur und Geschichte entstammen, in Saft und Blut verwandelt werden und ihren Weg durchs Menschenherz nehmen, müssen mit der Seele und den Sitten verschmolzen, eine Religion und ein Gemüt, ein Gewissen geworden sein. Auch die beseelte Intelligenz ist ein Ding, das nicht in der ersten Generation erzeugt werden kann. Der vollbeseelte Verstand muß ein Erbe nicht nur von Eltern, sondern von Großeltern und Ureltern sein, die einer kultivierten und nobeln Rasse angehören. Unter Botokuden oder Jakuten und Kaluschen kommen keine ästhetischen Genies, keine Raffaele und Mozarte, keine Schiller und Goethe oder Herder und Lessing zur Welt.

Die christlichen Lehren und Sitten, welche man den amerikanischen oder afrikanischen Wilden ein ganzes Menschenalter hindurch eingepflanzt hat, gehen in wenigen Jahren spurlos verloren, sowie die Bekehrten wiederum ihrem elementaren Leben zurückgegeben werden. An Russen, Türken, Tataren und Arabern hat man dieselben Erfahrungen in anderer Gestalt gemacht.

Wer ein Landwirt ist, der wird wissen, daß nicht einmal Klee und Gerste auf frischem Dünger wachsen wollen, daß vielmehr Humus, d. h. alte zersetzte Dungkraft, zum Gedeihen jener Pflanzen notwendig ist.

Wie kämen denn also Künste, Wissenschaften, Tugenden, Einsichten und Lebensmysterien, wie kämen edle Charaktere und gebildete Herzen dazu, auf dem frischen Dünger von Zeitungen und Journalstänkereien oder von Stoff- und Kraftenzyklopädieen und von Jurygeschichten zu gedeihen? Wenn es eine Kulturgeschichte geben soll, so muß freilich für dieselbe ein Anfang gemacht werden, und dieser Anfang kann nicht einzig und allein ein natürlich organischer, sondern er muß auch ein mechanischer und schematischer sein. Jeder kräftigen Kulturgeschichte geht freilich der Brach von Natur und Geist voraus; die selbstbewußte Initiative des Geistes, seine Herrschaft über Sinnlichkeit und Instinkt, kann nur ein Schematismus und kein akzentuierter Seelenprozeß sein. Das sind Wahrheiten, die niemand vor mir so präzis und nachdrücklich ausgesprochen hat, aber eben darum, weil dies Kulturgesetz besteht, so dauert es Generationen, bevor sich der Verstandesschematismus in Herz und Seele umwandeln, bevor er Natur werden, sich einen Leib und eine Historie zubilden kann. Und weil das alles so ist, darum sollen sich Individuen wie Nationen nicht kopfüber und ohne Not in neue Kulturprozesse stürzen, und noch weniger sollen sie eine Schablonenwirtschaft, sollen sie Hadesgeschichten und Durchgangsprozesse für fertige Kulturgeschichten, für eine lebendige, zeugungskräftige Intelligenz halten und eine Volksreife, eine Volkssouveränität proklamieren, während die gebildeten Schichten noch in der trostlosesten Mauser begriffen sind, so daß man nicht einmal erkennen kann, ob den »Zukunftsmenschen« Haare oder Schreibfedern wachsen, und ob das neue Blut und Fleisch vielleicht aus Tinte und Makulatur bestehen wird. Es gehört mehr Weisheit dazu, als die modernen Propheten und Verächter des Mittelalters besitzen, dessen letzte Elemente und Formen sie absorbiert haben wollen, um einzusehen, daß und warum die besten und zeugungskräftigsten Tugenden und Glückseligkeiten des Volkes im Instinkte, in Divinationen, in erblichen Vorurteilen und Traditionen wurzeln, daß es ohne dieselben kein Glauben, kein Lieben, kein Heiligen, keine Naivetät und keine Liebenswürdigkeit gibt; daß die auf die Tagesordnung gesetzte Kritik alle Natur, alle Lebensunmittelbarkeit, alle Naivetät und plastische Kraft, allen organisatorischen Instinkt, alle Charakterenergie, allen sittlichen Rhythmus, allen Segen der Geschichte und den Kern der Volkskraft, der Tugend des Volkes, seine Pietät und seine Glückseligkeit zerstört.

Das deutsche Volk inkliniert überdies von Natur zu einer krittelnden, grübelnden und klugkosenden Lebensart: wird der Same dieser deutschen Teufelei und Narretei, welcher unter den deutschen Fürsten durch die ganze Geschichte als unheilbares Parteiwesen und als Partikularismus spukt, methodisch großgezogen, so kann an eine Einheit Deutschlands immer weniger zu denken sein. Kritische Kräfte, Analysen und Charaktere haben von Anbeginn die deutsche Eintracht selbst da zerstört, wo sie sich einmal aus dem deutschen Gemüte herausgestaltet hatte, wie in dem gemeinsamen Kampfe gegen das napoleonische Joch.

C. Die Literatur, eine Krankheit der Deutschen.

Man sieht aus der heutigen Literatur, wie mechanisiert und schablonisiert, wie zentralisiert und ausgehöhlt das Menschenleben sein muß, wenn ein einziger Literat, ein Zeitungsschreiber, ein Feuilletonist, der nie mit dem wirklichen Leben in praktische Berührung kam, der kein Handwerk, kein Gewerbe lernte und betrieb, der nie eine feste und förmliche Stellung in der Gesellschaft einnahm, der nicht einmal ein gründlich gebildeter Gelehrter, sondern sehr oft ein aus Literaturgas und Kulturschaum zusammengefahrener Homunkulus ist, wenn ein solches Subjekt das Publikum mit Erfolg leitartikeln, es politisch und kosmopolitisch maßregeln, ihm die moderne Lebensordnung und Medizin verschreiben und ihm tausendjährige Kulturgeschichten mit einem Federstrich zu Wasser, zu einer Literaturflut, zu einer Sündflut von Tinte machen darf. Die Literaten, die Zeitungsschreiber, die Publizisten sind die modernen Noachiden; wer in ihrem Schifflein schwimmt, der ist geborgen, dem wird verziehen. Alles altmodige, literaturobstinate Gesindel muß unter Wasser gurgeln oder ersaufen. Eins ist bei dem heutigen Verhältnis von Literatur und Leben nur möglich: entweder sind die Skribenten und modernen Propheten gescheut und in ihrem Rechte, dann hat das reelle Leben, das Volk und der gesunde Instinkt der Menschheit bereits Bankerutt gemacht; oder die Leute sind bloß in Masse durch all' die Schreiberei verdutzt, verpuppt und übertölpelt, dann ist's Zeit, daß die Welt lieber untergeht, als daß ihre Wiedergeburt aus Literaturwitz statt aus Naturkräften und von Gottes Gnaden vonstatten geht. Die Literatur ist eben die überwucherte Kultur und deren entartetes Organ; durch ihre Rektifikation kann also das verlorne Gleichgewicht zwischen Natur und Geist nicht hergestellt werden.

Wenn man den Tonangebern unserer Literatur glauben wollte, so dürfen wir den Staat schon deshalb nicht durch Familien- und Religionsmysterien begründen, ihn nicht aus Sittengeschichten auferbauen, um den Publizisten, den Organen des Zeitgeistes, nicht zu kompliziert, zu originell, zu »knifflich«, zu schwer konstruierbar zu sein.

Die Naturwissenschaftler, die Herren von »Stoff und Kraft«, die Kritiker des Geistes, haben schon eine Hauptdemonstration im Interesse der Mechanisierung, der Vereinfachung und Zentralisation des deutschen Lebens exekutiert: sie haben die Seele auf das Gehirn zurückgeführt; die modernen Philosophen und Literaten haben ihrerseits, mit Ausnahme ihrer notabeln Persönlichkeiten, das persönliche Leben als das schlecht subjektive desavouiert und an Stelle der alten Autoritäten die neuen Ideen zusamt der Blaustrumpfliteratur in Weltszene gesetzt.

Die altmodigen Heimats- und Vaterlandsgefühle gehen durch Eisenbahnen flöten; die letzten echt deutschen Volksindividualitäten, Schwaben und Hessen, wandern nach Amerika im Interesse der Weltbürgerschaft aus. Die mittelalterlichen Vorurteile, die Standes- und Bildungsunterschiede reißt die enzyklopädische und die Journalliteratur nieder; die alten Religionsgespenstereien und Teufeleien verschwinden vor dem Leucht- und Stinkgas der Lichtfreundlichkeit ( similia similibus), Lateinisch: ähnliches durch ähnliches. und so ist denn allem Individuellen, Originellen und Partikulären durch Zentralisation, durch Weltbildung und Weltliteratur ein Ende gemacht. An eine Weltsprache hat man ebenfalls schon gedacht, und es bleibt nur die »Bewegung« im Interesse des menschlichen Genus, der Idee der Menschheit, also die geistige Mechanik und Mathematik. Auf Individuen, Charaktere und Autoritäten, auf Familie, Heimat und Vaterland, auf aparte, originelle Lebensart, und was sich darauf gründet, kommt's in dieser nivellierenden Zeitgeschichte und öffentlichen Meinung nicht mehr an, weder auf Seele und Fortdauer noch auf einen persönlichen Gott, sondern auf – man weiß noch nicht recht, worauf [auch der Staat gehört zu den überwundenen Standpunkten], also auf Sozietät, d. h. auf Nationalökonomie, auf Eisenbahnen, Technologie, Realgymnasien, Weltkultur, d.h. auf Weltindustrie und Industrieausstellungen, auf Lebensmathematik, damit die Weltliteratur, welche alles konstruieren und rektifizieren muß, nicht durch Querköpfigkeit der Individuen und andre verwickelte Probleme in Verlegenheit gerät.

Der Schlüssel zu allen modernen Demonstrationen, Manövern und Eskamotagen ist der Witz, welcher alle naturgemäßen Vorstufen, alle kleinen Lebenskreise überspringt, den organischen Entwicklungspunkt nur den Dummköpfen am Muten ist und von vorneherein mit einem Weltkreise beginnt, wenn derselbe auch nur aus einem Faden besteht, der aus dem Hirn gesponnen und um die wirkliche Welt gezogen ist.

Vorzeiten glaubte und lehrte man: Wer nichts auf Schulen gelernt hat, wird sicherlich nichts auf Universitäten profitieren; wer sich nicht um seine Achse drehen, seine Persönlichkeit und mir zu Gefallen seinen Dummkopf entwickeln will, kommt nicht um die Himmel; wer nicht dienen und arbeiten gelernt hat, der versteht nicht zu befehlen, denn er weiß nicht, wie dem Diener und Arbeiter zumute ist, oder wie ihm Vorteile an die Hand zu geben und Erleichterungen zu beschaffen sind.

Sonst glaubte man, die generelle Bildung, die Weltbildung setze die individuelle, die materielle und spießbürgerliche voraus; heute muß man ein Weltschuster sein, um zu wissen, wie man einem Weltgänger die auf der Erdkugel schiefgetretenen Absätze wieder geradeflicken kann. Schade, daß man überhaupt noch in einer Haut stecken und auf zwei Beinen umherlaufen muß, daß man nicht wenigstens mit allerlei Portativen Dampfinstrumenten, mit weltbürgerlichen Apparaten, mit kleinen Dampfrädern unter den Füßen oder mit Dampffedern an den Händen zur Welt kommt, um alles für alle sehen, beschreiben und konstruieren zu können! Es wäre köstlich, wenn alle alles dächten, dichteten, repräsentierten, besäßen und täten. Alle alles überall! Alle für jeden und jeder für alle; und in allen das Weltall auf Zehntausend Jahre idealiter vorauskonstruiert, das müßte ein genial-lichtfreundlich radikales Leben sein! Schade, daß der Mensch noch immer so trivial und natürlich aus dem Mutterschoße zur Welt kommt: ihm müßten diese langsamen, unintelligenten und altmodigen Mysterien erspart sein. [Die Gebärungsschmerzen werden den Müttern bereits durch Chloroform Vertrieben.] Was würde z. B. so ein Ungeborner auf Erden leisten, der direkt aus der elementaren Materie, z. B. durch elektromagnetische Kräfte und Künste aus der Flasche zur Welt käme und in 24 Stunden groß dastünde! Was könnte der von seinem Mutterelemente referieren, wie könnte ein solcher den populären Naturforschern unter die Arme greifen und über den Kopf wachsen! Mit der altmodigen natürlich-übernatürlichen Art aber bleibt jedes Projekt, mit Siebenmeilenstiefeln um die Erde zu laufen, immer noch Zukunft und bloßer Leistenzuschnitt: an den wirklichen Zauberstiefeln fehlt's bis zu diesem Tage; aber den Literaten schadet es nichts, die haben die Siebenmeilenstiefel im Kopf!

Die garstigen Lügen, die Affektationen und Widersprüche unsrer Kulturfabrikation müßten uns heute zur Verzweiflung bringen, wenn uns dazu das Gewissen und die Kraft übriggeblieben wäre. An einem Ende Materialismus, am andern Ideologie; Schwärmerei für immanenten Verstand und transzendente Ideen in einem Atem. Hier Deklamationen von gesunder Natur, von glücklicher Selbstbeschränkung (à la Mirza Schaffi »Lieder des Mirza Schaffy« (1851), von Friedrich von Bodenstedt.), das Lob der Antike, »die nicht mit der Welt verwickelt ist«, die eine auf sich selbst gestellte Individualität ausdrückt, und vis-à-vis weltbürgerliche Ambitionen, ein Streben nach enzyklopädischer Bildung, ein Schöntun mit Allerweltsförmlichkeiten, Konvenienzen und Phrasen. Bei ganzen Schichten eine Familiarität mit dem Weltheilande, zugleich aber ein garstiger, liebloser Hochmut und Profansinn in jedem bestimmten Fall; Askese und Üppigkeit, christliche Liebe und Haß gegen alle, die einer andern Schattierung und Sekte angehören. Einmal eine Schwärmerei für energische, eisenfeste Charaktere, und dann wieder eine Verachtung des Genies, der Persönlichkeit, der Originalität; eine affektierte Ambition für durchsichtig objektive Bildung, versöhnte Gegensätze und für geschmackvolle Form; ein Ekel vor dem Derben, Treuherzigen und Elementaren. Wir ersticken an diesen kompliziertesten Gegensätzen und Widersprüchen, wir stinken vor Lüge und Affektation.

Alle sollen alles haben, sein und wissen; das ist Absurdität! Es soll das Diskrepanteste versöhnt werden, und der viel belamentierte Riß wird klaffender wie je. Die neunundneunzig klugen Leute wollen heute alles gewinnen und nichts riskieren. Sie wollen materiell und geistig, unpersönlich und charaktertief, sie wollen modern und antik, christlich und naturalistisch, rechts und links in einem Atem sein, dabei aber nicht einmal eine Dummheit, Derbheit und Narrheit riskieren. Uns fehlt nicht nur der Glaube an ein Ideales und Ewiges, sondern der Glaube an uns selbst. Uns fehlt Natur wie Übernatur, frisches Herz, Mutterwitz, plastischer, körniger, naiver Sinn und Verstand, dazu jede poetische Illusion. Unsre Versöhnungsversuche und Phrasen sind gelogen und abgeschmackt. Es wird nichts mit dem Profanverstande allein versöhnt und nichts mit bloßen Redensarten bezwungen, am allerwenigsten aber wird das Wissen mit dem Gewissen, werden die modernen Ideen mit den uralten Gottesfühlungen, mit den alten deutschen Tugenden, mit der Gottesfurcht, Demut und Ergebung unserer Vorväter versöhnt. Schöne Künste und Tugenden gedeihen nur bei naiver Seele, sie fordern Charakterbildung und Zeugungskraft, eine poetische Grundstimmung, Divination und ein volles Herz. Wir Modernen lassen keine Illusionen mehr an uns kommen, denn die Redensarten, Literaturen, Kritiken und Reflexionen haben uns schal und kahl, irre und wirre und wurmstichig gemacht. Uns fehlen die uralten, derben, gesunden Gegensätze von Natur und Geist, Natur und Übernatur, Volk und Gelehrten, von Idealismus und Realismus, Religion und Zeitlichkeit in der Sozietät und im Staat; sie fehlen uns in der Wissenschaft und Kunst. Der dümmste Patron und die unwissendste, flachste Liese ist mit Lektüren, mit Ideen und Bildungsambitionen beglissen, die Gescheuten sind um Mutterwitz, alle um das fröhliche Herz geprellt. Wir haben alle Gegensätze mit Redensarten verkleistert, uns um Licht und Schatten, um den Kontrast, um die Polarität gebracht, in welcher allein frisches, plastisches Leben möglich ist. Wir möchten natürlich und doch fein gebildet, originell und geschmackvoll, allseitig und weise beschränkt wie die alten Patriarchen, wir möchten oriental und okzidental, Charaktermenschen und salongebildete Tausendkünstler, möchten liebenswürdige Tausendsakermenter, fromme Helden und Märtyrer, obenein aber Dialektiker und Ästhetiker sein. Unsere Ideen sind von Hause aus gelogen und gemacht. Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Natur und Übernatur, Divination und Verstand, Form und Wesen, Idealismus und Realismus, Person und Staat, Charakterenergieen und Geschmacksfeinheiten, Wissen und Gewissen, Vielseitigkeit und Tiefe, Politur und Originalität werden sich nie versöhnen, sollen sich nicht versöhnen; und namentlich sollen die Massen einseitig und derb bleiben, aber unsere Literatur vernarrt und verdirbt das Volk in den Grund.

Uns könnten nur ungeheure Geschicke retten: die Lüge, die von der Literatur radikal ausgeht, stinkt zum Himmel. Je mehr sich diese Leserei und Ideenrederei, diese Fortschrittsaffektation verbreitet, desto mehr wird dem Volke die Seele aus dem Leibe fortdestilliert. Das städtische Volk hat bereits keine Natur und keine plastische Kraft.

Ich kenne die Entgegnung der gebildeten Versöhnlinge und Beschwichtiger, ich sehe ihre selbstgefälligen, sichern Mienen, ihre empörten Nasenflügel, die Wachsfigurenaugen mit den pfeffergroßen Pupillen, die abstrakt verkniffenen Mundwinkel. Die welthistorische Zensur lautet höflichstenfalls: »Das sind Exzentrizitäten, geschmacklose Übertreibungen.« Es sind aber nur schwache Andeutungen, blasse Farben, verzweifelte Schattenrisse gegenüber der Wirklichkeit! Man muß die Gewissenlosigkeit, die Seelenlosigkeit, die Charakterunmacht, das eingeweidlose, herzlose, profane Treiben und Leben, den hartgesottenen Egoismus, die Schamlosigkeit, den absoluten Profansinn der Wortführer, der modernen Bildungs- und Zukunftspropheten kennen gelernt, man muß sie in ihrer inwendigen Nüchternheit und Mittelmäßigkeit, in ihrer auswendigen Phrasenwirtschaft genossen haben, um zu wissen, wie es mit dem großen Troß dieser modernen Aufklärer der Massen, dieser Literaten aussieht, welche die Kultur fabrizieren und die Weltgeschichte a priori konstruieren. Von der Zeit cm, wo die Literaten mit der Literatur, mit dem Literaturbewußtsein, mit der Nationalität, der Nationalliteratur und ihrer Geschichte, mit der Sozietät, ihren Rechten und Bedürfnissen kokettieren; wo sie im kürzesten und direkten Prozeß national, volkstümlich, sozial-modern-objektiv, literaturgroß und literaturgerecht zu werden trachten; wo sie sonika Kurzerhand, ohne Umstände. in die National- und Weltliteratur eintreten, die Zukunftliteratur vorbereiten und mit Bewußtsein präparieren: da gebe ich für mein Teil Literatur und Kunst verloren. Gewiß stehen Literatur und Leben, Literatur und Politik, Literatur und Nationalbewußtsein wie Nationalstolz im tiefsten Zusammenhange; gewiß ist der Unterschied von innerer und äußerer, von subjektiver und objektiver Literatur, von Volksleben und gelehrter Bildung kein absoluter Dualismus, sondern eine lebendige Polarität, deren Pole stetig ineinander übergehen; gewiß kennt die Natur den Unterschied »von Kern und Schale« nicht so, wie ihn der Bauer oder der Schuljunge macht, aber die moderne Literaturphilosophie übertreibt die Identifikation der natürlichen Gegensätze ebensosehr wie der ordinäre Verstand den Scheideprozeß. Kern und Schale, Literatur und Leben sind nicht nur einerlei, sondern auch zweierlei, wie Idee und Wirklichkeit. Der Literat und Künstler soll das Volk als das Erdreich und Klima seiner Seele betrachten, als Wurzel und Mutterseele; aber Kunst und Literatur entbinden sich gleichwohl so von. der Natur und Volksbasis wie die Intelligenz von der Sinnlichkeit. Die Persönlichkeit, die Entwicklung und Vertiefung unserer Eigenart gibt uns erst den Witz, den Impuls und die Zeugungskraft. Die Ambition, von vorneherein generell, literaturgerecht, objektiv, sozial und national zu sein, tut es nicht.

Es ist das Elend der Literatur, aber das Glück und die Kraft der Geschichten, daß die Charaktermenschen, die Helden und Propheten nicht schreiben. Wenn sich das Leben eines Volkes in der Literatur, in den Künsten und Wissenschaften genugtut, so bleibt ihm kein Impuls und keine Bildkraft für die Geschichte.

Eine enzyklopädisch und populär gewordene Literatur richtet aber nicht nur die Zeugungskraft und Divination des Volkes, sondern sich selbst zugrunde, indem sie den natürlichen Gegensatz, den trägen, aber nachgiebigen und passivbildsamen Stoff verliert, den sie an den naturwüchsigen Massen besitzt. Wenn diese einmal das ABC gelernt haben, so mögen die Herren Schulmeister und insbesondere die Literaten, die Kolporteure der Künste und Wissenschaften und der Politik zusehen, wo sie bleiben. Wo alle alles verstehen und treiben, gebricht allen die Illusion, die Lust und die Kraft; und was soll vollends aus dem Dilettantismus hervorgehen als Unmacht und Konfusion?

Wislicenus Der freireligiöse Prediger Gustav Adolf Wislicenus (1803–75). sagt in seiner kurios-priesterlichen Broschüre »Ob Schrift, ob Geist?«: »Was die Gelehrten wissen, soll auch das Volk wissen ec.« »Was ins Ohr gesagt ist, das soll von den Dächern gepredigt werden ec.« Das sind aber tönende Bravaden. Die Sache steht so und stand immer so, daß die Gelehrten selbst nichts Solides von übersinnlichen und sublimsten Dingen wissen, daß das Volk von der konkreten und beseelten Dialektik des Poeten und Philosophen nur abstrakte Räsoniersüchtigkeiten profitiert, und daß es wiederum Abstraktionen wie handgreifliche Dinge fassen und traktieren will.

Am schädlichsten, am widerlichsten und empörendsten wirken die naturforscherlichen Lehren auf alle Schichten des deutschen Volkes ein. Durch die »Kraft- und Stoffphilosophie« werden wir für dieselben Miseren, dieselben Schamlosigkeiten und Entartungen aller Art präpariert und infiziert, von welchen wir die Individuen wie das soziale und das politische Leben der Franzosen depraviert und zerfressen sehen.

Die Versicherungen der Naturforscher, die Naturkunde führe aus dem Materialismus heraus, sind abgeschmackt mit Rücksicht auf die Unfähigkeit des Volkes, die Masse der Einzeltatsachen mit überlegnem Geiste zu beherrschen, d. h. zu vergeistigen, und das Sinnliche zum Symbol von Geistesprozessen und Gottesgedanken zu erheben.

Die modernen Naturforscher lehren uns: Unsere Erde steht nicht in der Mitte des Weltalls, der Mensch nicht im Mittelpunkt der Natur, er dürfe diese nicht absolut auf sich, seine Ideen, Zwecke und Interessen beziehen. Der Mensch sei nicht vollkommener als die Tiere organisiert. In der Natur seien alle Wesen und Dinge gleich vollkommen organisiert, denn jedes Ding und Wesen entspreche vollkommen der großen Ökonomie der Natur. Die Stufenleiter sei eine Absurdität, ebenso die Idee der Zweckmäßigkeit. Die Natur als Ganzes aufgefaßt zeige nichts von Wertunterschieden und Stufenleitern der Vollkommenheit. Gott sei kein Mensch, der sich allmählich vervollkommnet hätte. Die Lebensprozesse, heißt es, ihre Formen und Geschöpfe haben Naturnotwendigkeit, aber nicht Zweckmäßigkeit; die Tiere haben nicht Beine oder Flügel, damit sie gehen und fliegen können, sondern sie gehen und fliegen, weil sie Beine und Flügel haben, und diese selbst ergeben sich aus der Lebensökonomie ec. Die Natur ist nicht mehr wegen der Menschen geschaffen als der Mensch im Interesse der Natur. Es gibt nur relative Vollkommenheiten und keine absoluten ec.

Wie vertragen sich nun mit diesen Lehren die Lehren und Geschichten des Christentums? Die spezielle Kümmernis Gottes um den Menschen, um die Juden, um jedes Haar, das vom Haupte fällt, die Herrschaft der Menschen über die Tiere, seine Ebenbildlichkeit Gottes, die Bekämpfung des Naturalismus, Erlösung, Gnade, Wunder, Unsterblichkeit, letzte Weltzwecke, Vorsehung, Menschenbestimmung, Sünde und Tod? Auch Herr Fischer lehrt den alten naturforscherlichen Trost: die Materie, die Ideen und Gesetze sind unvergänglich, nur die Individuen vergänglich, und auf sie kommt nichts an.

Wie soll der gemeine Mann oder der Gebildete, der noch ein Herz im Leibe hat, Mut zur Arbeit, zur Sorge haben, wie soll er eine Begeisterung, eine Liebe fassen, wenn er den Naturforschern glaubt, daß es keine absoluten Wertunterschiede, keine Stufenleiter, keine absoluten höchsten Zwecke gibt, daß der Mensch nicht vollkommener organisiert ist wie das Tier? Also hat er auch keinen vollkommneren Geist und keine vollkommnere Seele, denn Geist und Seele erbauen sich den Körper und wirken auf ihn zurück. Wenn an der individuellen Form nichts gelegen ist, woran denn? Das Ganze ist nur konkret mit und im Individuellen; und wie summt diese Lehre mit Fortdauer, Erlösung, Tugend. Strafe und Lohn? Wo sollen Liebe, Glaube und Begeisterung herkommen, was soll die Weltgeschichte, die Freiheit, die Ehre, die Treue wert sein, wenn an bestimmten Individuen nichts liegt? Allerdings zeigt sich in der Natur mehr Notwendigkeit und Gesetz als Freiheit und Willkür, als eine Geschiedenheit von Mitteln und Zwecken. Allerdings fallen im Naturprozeß Mittel und Zweck zusammen. Aber das Geistesleben des Menschen und seine Geschichte zeigt deutlich den Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit, von individuellem und generellem Leben, von Mitteln und Zwecken, von Idee und Stoff. Der Mensch muß seine Vernunft, seinen Trost, seinen Glauben aufgeben, wenn er nicht an absolute Zwecke, an absolute Wertunterschiede und an seine absolute Würde glauben soll.


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