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XII. Die Person.

»Ich bin nicht wider das Selbstgefühl. Wer nicht im Geiste
und in der Wahrheit sagen kann: ich, wie kann der sagen: du, er, wir, sie?«

Hippel.

»Dann glaube ich, daß jede einzelne, ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die größte Menschengesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der größte Staat ist ein Menschenwerk, der Mensch ist ein Werk der unerreichbaren großen Natur. Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls, aber der Mensch ist ein notwendiges Wesen; und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig als durch die Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, nur ein Gedankenwerk; aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst und der Schöpfer des Gedankens.« Schiller.

»Gewöhnliche Naturen zahlen mit dem, was sie leisten, edle Menschen mit dem, was sie sind.« Schiller. Um gut, gescheut und glücklich zu sein, muß man vor allen Dingen erschaffen sein; und um sich für die Gesellschaft, für die Geschichte, für die Ideen verleugnen, um im Weltleben aufgehen zu können, muß man ein kompaktes Ich, muß man eine Eigenart haben, die man verleugnen kann; und diese Eigenart muß aus dem zähsten Leben bestehen, wenn sie nicht vom immerwährenden Verbrauch erschöpft werden soll.

Eigenart, Persönlichkeit gelten mir wenig ohne Vernunftbildung; wenn aber diese Vernunft die meinige sein soll, so muß sie mir eingefleischt, so muß sie konkret mit meinem Ich polarisiert sein. Ohne eine intensivste Persönlichkeit gibt es für den Menschen keine konkrete, intensive, lebendige Vernunft und ohne diese nur eine bestiale Eigenart. Wie die Weltvernunft es macht, daß sie Person, daß sie Eigenart, daß sie Herz, Gemüt, Liebe und Heiligung wird, ist eben das Wunder der Menschenkultur; aber in dem Glauben an die Inkarnation Gottes in Christo ist das Wunder der Versöhnung aller Lebensgegensätze zum europäischen Weltbewußtsein gekommen, also die Mißachtung des persönlichen Lebens eine Absurdität. Außerdem aber ist es ein Erfahrungssatz, den alle Biographieen bedeutender Männer erhärten, daß die eigenartigsten Menschen auch wiederum die normalsten sind, und daß die Versöhnung von Eigenart und Norm das Genie herausgibt.

»Das delphische Orakel tat den Ausspruch: ›Schauet in euch selbst, haltet euch an euch selbst. Sammelt und sparet euren Verstand und Willen, die sich anderwärts verzehren und verflüchtigen für euch selbst. Ihr ergießt euch, ihr verbreitet euch; haltet euch zusammen; drängt euch ineinander, daß man euch nicht verrate, zerstreue, euch selbst entführe. Dich ausgenommen, o Mensch,‹ sprach der Gott von Delphos, kennt jedes Wesen zuerst sich selbst und seine Kräfte; nichts ist so leer als du, der du das Weltall umfassen willst.‹« Montaigne.)

Die Persönlichkeit ist es, welche den Handlungen wie den Kenntnissen, den Künsten und allen Lebensäußerungen die Bedeutung gibt und das Mysterium der Harmonie oder der Disharmonie der Kräfte enthält. Es kann ein Mensch durch exzentrische Tugend und fanatische Frömmigkeit ebenso ein Ungeheuer sein als durch Laster und Gottlosigkeit. Der Witz und das gute Herz können einen Menschen zum Narren, die Toleranz kann ihn zum Waschlappen, der Fanatismus ihn zum Propheten, die Geschäftigkeiten können ihn zum Taugenichts, die humoristische Landstreicherei kann ihn zum Weltweisen, der Mut zum Abenteurer machen, sobald das Mysterium des Maßes, der Mischung und Akzentuation getroffen und sobald noch das unbekannte, innere Agens, das Prinzip hinzugetreten ist, welches mit einem Zauberschlage Harmonieen und Dissonanzen hervorbringt, welches Tiefsinn in Wahnsinn und Wahn in Prophetie übersetzt. Schon die Chemie lehrt uns, daß Wasser- und Sauerstoff nicht eher zu Wasser werden, als bis der elektrische Funke das Wunder der Vereinigung der Elemente vollbringt. In der Ökonomie des geistigen und sittlichen Lebens gibt es auch Magnetismus, Wärme, Licht und Elektrizität. Liebe, Glaube, Lebenslust und Begeisterung bringen Licht oder Finsternis in die Seele; Schmerz und Sorge reifen erst das Menschengemüt, oder sie machen die edelsten Eigenschaften herbe und unschmackhaft. Was will überhaupt eine gute oder böse Eigenschaft, eine Beschränktheit oder eine Fakultät sagen, wenn sie nicht in einer Person verwirklicht wird?

In der Persönlichkeit, in der Eigenart, im Genius geschieht es, daß die Tugenden zu Schwächen und die Schwächen zu Liebenswürdigkeiten werden. »Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe«; und wenn sie dasselbe dichten, denken und ins Werk richten, so ist es noch weit weniger einerlei. Die weibliche Art und Weise ist am Manne ein Schimpf und die männliche am Weibe eine garstige Natur. Männer sind aber untereinander so verschieden wie die weibliche von der männlichen Natur, und mit der Persönlichkeit der Frauen ist es dasselbe Rätsel von Harmonie und Disharmonie. Um zu begreifen, wie der Verstand zum toten Rechenexempel und Einfalt zum himmlischen Witz werden, wie der Idealismus eine Wirklichkeit und der Realismus ein Nihilismus sein kann, muß man gewisse poetische und materielle Naturen als Repräsentanten jener Lebensarten und Vorstellungsweisen sehen. Dieselben Exzentrizitäten und Widersprüche, welche den einen Charakter dem Irrenhause zuführen, stempeln den andern durch das unergründliche Mysterium des persönlichen Lebens, des Charakters zum Genius und Helden, der alle Herzen und alle Geister gefangen nimmt. Dem Gesunden ist alles gesund. Im harmonisch gebildeten Menschen reimt sich alles zur Harmonie, während im Narren auch die Weisheit zum Aberwitz wird. Persönlichkeit ist das Geheimnis der Gottheit, der Natur, der Poesie und Religion. Durch die Persönlichkeit wird entschieden, was gut und böse, dumm und gescheut, schön und häßlich, heilig und unheilig ist. Da aber bedeutende Persönlichkeiten und Charaktere eine Seltenheit sind, so konnte der großen Masse nichts willkommener sein als die moderne Antipathie vor dem Genie, der Krieg gegen die Autoritäten und die Parole von der »Objektivität«, unter welcher man eine Unpersönlichkeit versteht, die in leidenschaftlichen Augenblicken (schon aus Gründen der Reaktion) zur herzlosesten Selbstsüchtigkeit wird. Wie sich übrigens die Begeisterung für Freiheit, welche doch nur in der Person und im Genius Bedeutung und Realität gewinnt, mit der Schwärmerei für Unpersönlichkeit und Objektivität zusammenreimen läßt, wissen die modernen Propheten allein.

Ehre beruht auf der Tatsache von der Freiheit und Würde der Person. Der Mensch wird durch die Verhältnisse bestimmt, sie haben Einfluß auf ihn, damit er nicht außerhalb der Natur und Weltgeschichten stehe, aber diese Geschichten fleischen sich auch in dem Menschen ein, und er beherrscht sie so weit mit seinem vernünftigen Willen, daß er sich nicht ohne Gewissensbisse für eine Blase des Schaumes vom Lebensmeer halten darf.

Die Welterscheinungen erklärt der Verstand aus einer Ursache, ohne zu bedenken, daß die göttliche Ursache eine absolut primitive, eine ewige sein muß; daß also auch in den Geschöpfen und insbesondere im Menschen eine absolute Selbstbestimmung und Kausalität liegen muß. Die menschlichen Willensakte, Entschlüsse, Gedanken, Gefühle und Handlungen sind also nicht nur das Produkt der Naturgeschichten und Verhältnisse, sondern auch der göttlichen Ursprünglichkeit, der Selbstbestimmung und Persönlichkeit.

Wer nun an die Freiheit und Würde des Menschen glaubt, der wird die Persönlichkeit ausgezeichneter Menschen, der Propheten, der Helden und Reformatoren, der großen Dichter, Denker und Künstler aller Zeiten als eine Macht empfinden, die auf seinen eignen Willen und Glauben einen Einfluß haben darf. Auf dieser natürlichen Verehrung, auf dieser Heiligung des Göttlichen in den Autoritäten der Geschichte und Gegenwart ruht der Begriff der Pietät, beruht die Möglichkeit einer Jugenderziehung durch die Alten, eines Regiments in Kirche und Staat. Ist es nichts mit der Pietät, so ist auch unsere Würde und Ehre, unsre Freiheit und Göttlichkeit ein leerer Schall. Hat aber die Person eine absolute Bedeutung und Realität, so kommt sie auch der Weltgeschichte zu und einem Regiment, das auf Autoritäten und Pietät gegründet ist; ohne Pietät gibt es keine Würde und Ehre in der Welt.

George Forster Vgl. S. 20, Anm. 1. war es, der nichts von der Persönlichkeit gehalten, der die Personen nur für die vorübergehenden Momente, das Genus aber für die Realität und Wahrheit, für den Zweck der Naturgeschichten erklärt hat; und die modernen Literaten haben die Forstersche Weltanschauung schlechtweg adoptiert. Daß Leibniz die Individualität zum Prinzip seiner Philosophie und Monadenlehre gemacht, daß Jakob Böhme und Swedenborg Vgl. S. 14, Anm. 4. in ihrem Ich die Mysterien der physischen und sittlichen Weltordnung als die reellste Realität erfaßten, daß Goethe und Schiller, Wilhelm von Humboldt, Hippel und J. Paul, daß nicht nur Kant und Fichte, sondern Luther die Person als den Mittelpunkt der Schöpfung, als das Prinzip und die Realität des sittlichen wie religiösen Lebens gefühlt und begriffen haben, Gute und fromme Werke machen niemals einen guten, frommen Mann; sondern dieser die guten Werke. Böse Werke machen niemals einen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke; also daß immerhin die Person zuvor muß gut und fromm sein, und gute Werke, gehen hervor aus der guten und frommen Person.

(Luther. mag ignoriert werden, weil alle diese Autoritäten möglicherweise weniger ins Gewicht fallen können als Forsters Autorität. Zwingend ist aber die Tatsache, daß die Juden vermöge ihres Individualismus, ihres entwickelten persönlichen Lebens den persönlichen Gott fanden, daß Christi Lehren von der Liebe und Hingebung an eine Autorität, vom reinen Herzen, von der persönlichen Würde und Fortdauer, von der göttlichen Kümmernis um einen reuigen Sünder, wie um jedes Haar, welches von unserm Haupte fällt, nicht nur mit jenem jüdischen Individualismus, mit dem Glauben an einen persönlichen Gott übereinstimmen und die natürlichsten Konsequenzen des jüdischen Individualismus bilden, sondern daß auf der christlichen Lehre die Tugend und Ritterehre, die Pietät und Herzensdelikatesse, die christliche Liebe und Glaubenskraft beruht, in welcher unsere deutschen Väter die Sprache, das Recht, die Dichtung, die Künste und Sitten zeugten, von deren Mark wir heute leben und als Staat, als Kirche bestehen. Gewissensüberzeugung für alle, die ein deutsches und christliches Gewissen haben, muß es sein, daß ohne den Glauben an die weltewige Bedeutung der Person keine wahrhaftige Genugtuung, keine Begeisterung und Selbstverleugnung in den Massen, also kein durch und durch sittliches Leben, sondern nur ein Staats- und Religionsschematismus möglich wäre; daß mit der geglaubten Lehre von der absoluten Bedeutung der Geschlechter und Arten, mit der Lehre von der ewigen Vernichtung und Nichtsbedeutenheit der Personen jede Kraft des Herzens, des Gemüts wie des Glaubens gebrochen und verzehrt werden muß. Gleichwohl leuchtet unsern unpersönlichen Reformatoren und Stoffgläubigen das Gegenteil ein. Sie kämpfen in den Reihen der Freiheitsmänner, ohne zu bedenken, daß die Freiheit nur einen Sinn für einen solchen Staat haben kann, der aus Personen, aus Charakteren im alten Sinn besteht. Man fordert große Charaktermenschen, man schwärmt für die großen Männer der Geschichte bis zur Monumentenmanie, läßt sich aber zu gleicher Zeit belehren, »daß Seele und Geist so aus dem Gehirn ausgeschieden werden wie aus den Nieren der Urin«, und daß nach Forster »die Persönlichkeit eigentlich das Unmächtige und Nichtsbedeutende am Menschen ist; daß Poesie und Liebe in einer geistigen Selbstschändung bestehen«. Man will nicht begreifen, daß der Charakter, den man heute so schmerzlich vermißt, nur die Summe aller Energieen und Selbsterhaltungen des persönlichen Lebens sein kann, gegenüber der Tyrannei des sozialen Schematismus, der Schule und aller andern Kulturmechanik, von welcher sich das persönliche Leben und die Freiheit absorbiert sehen.

Die Schule, die Sitte, die Kirche, der Staat, das Recht, das Weltregiment und der ganze Kulturprozeß bestehen zwar in einem Schematismus, d. h. in einer Methode und Uniformität, in einer Norm, durch welche der Naturalismus mit seinen Sondergelüsten inhibiert werden soll; auch ist es richtig, daß der deutsche Individualismus und Partikularismus unsere politische Zerkrümelung und Unnationalität verschuldet haben; daß unsere wuchernde Eigenart und störrige Persönlichkeit der Grund des Mangels an Grazie, Leichtigkeit, Liebenswürdigkeit und sozialen Talenten sind; aber dieser deutsche Individualismus, dieser tiefe Naturalismus ist auch die Pfahlwurzel unseres Lebens, unser Herzblut, unsere Herzensfrische, unsere Bildkraft, Zeugungskraft und Phantasie. Wer uns die Persönlichkeit, die ererbten Sympathieen und Antipathieen des Herzens abschwächen will, wer uns die Herzenshumore, die Romantik, die Vertiefung des Gemütslebens, die Mystik (nämlich das Ineinander und Außereinander von Persönlichkeit und Weltleben) inhibiert, indem er uns das natürliche Leben oder den Geist, den Individualismus oder den Schematismus, die Persönlichkeit oder die sittliche Norm als das Unmächtige und Böse darlegt, der verfälscht uns die Weltökonomie, die Kulturgeschichte, welche in dem deutschen Wesen Peripherie und Herzpunkt besitzt.

Es fehlt uns Deutschen so wenig am Schematismus als am Naturalismus, so wenig an der Ambition für korrekte Lebensart, für Stil und Klassizität als an romantischen Gelüsten und Leidenschaften oder an Humor; aber es gebricht uns an der Versöhnung von beiden Prozessen, an der Neutralisation der entgegenstehenden Fakultäten, an der Ineinsbildung und Balance von Natur und Geist, von Sinnlichkeit und Vernunft. Der deutsche Humor scheint nun recht eigentlich diese wünschenswerte Versöhnung gehindert zu haben; er hat es aber schlimmstenfalls in der Romanpoesie getan, denn im wirklichen Leben verspürt man schon sehr lange verzweifelt wenig altvaterischen Humor. Abstrahiert endlich davon, daß die differenzierenden Momente ganz so zum vollständigen Kulturprozeß gehören als die Neutralisation, so muß daran erinnert werden, daß man die Vermittlung der Gegensätze nicht schlechtweg im kürzesten Prozeß durch Abschwächung erzwingen darf, und daß auch die Versöhnung selbst in der Weltgeschichte nicht fixiert gedacht werden kann, wenigstens nicht in uns Deutschen.

In der Person konzentrieren sich die Mysterien Gottes und der Welt. Sie ist der lebendige Witz und die Kraft der Kräfte; sie ist die Inkarnation des allgemeinen Lebens, die Verwirklichung der Wahrheit durch Liebe, Glaube und Glückseligkeit. Die Person ist das Alpha und Omega des Lebens, das Abbild und der lebendige Begriff der Gottheit.

Am Anfange war die göttliche Person, sie mußte der Tat wie dem Gedanken vorangehen; sie ist die absolute Mystik, nämlich die Identität und die Polarität von Anfang und Ewigkeit, von Ursach' und Wirkung, von Subjekt und Objekt, von immanenter und transzendenter Kraft, von Freiheit und Notwendigkeit, von Wort und Schöpfung, von Materie und Kraft. Persönlichkeit ist die erste und letzte Genugtuung, ohne sie ist alles ein Nichts. Künste und Wissenschaften, Recht und Unrecht, Erlebnisse, Bildungsprozesse und Beschäftigungen, welche nicht Charakter, nicht Person werden, bleiben Mathematik, Abstraktion und toter Stoff.

Ein Mensch, der heute ein Landgut kauft, ist weder morgen noch binnen Jahr und Tag ein wirklicher Gutsbesitzer, d. h. ein Mensch, in welchem der Landbesitz und die Ökonomie Seele und Leib, Witz und Gemüt geworden sind. Dasselbe gilt vom Kaufmann, von dem Professionisten, dem Dichter, dem Künstler, dem Rechtsgelehrten, Geistlichen, Soldaten, Lehrer und vom Publizisten. In diesem Einfleischen, in dieser Personifikation einer Kunst und Hantierung liegt das Wesen jeder wahren Virtuosität. Der Schematismus des Dilettanten läuft der Seele und Persönlichkeit nur parallel, oder der Dilettant bringt es zu weiter nichts als zu einer herausgewendeten Subjektivität ohne Methode, Norm und Stil. Der wahre Künstler versöhnt aber das allgemein Menschliche mit seiner Persönlichkeit, das Weltobjekt mit Seele und Verstand, den Schematismus der Schule mit der Natur.

Das Geschäft, die Wissenschaft, die Kunst und Musik muß mit dem ganzen Menschen so verwachsen, daß sie von ihm gar nicht getrennt werden kann: dann ist er Meister und Virtuos. Ohne Herz und Persönlichkeit gibt's aber nur Marionetten, gleichwie ohne Stil und Methode sich die Narrheit etabliert.

Der Menschenkenner kann es weder mit den Gebildeten noch mit den Ungebildeten, nicht mit den Klugen und nicht mit den Einfältigen halten, ihm genügen die weisen Alten so wenig als die jungen Toren, wenn er nicht sieht und weiß, wie die Weisheit, wie Jugend und Alter eingefleischt sind. Das Rätsel der Menschenbildung, das Wunder der Versöhnung und Verschmelzung entgegengesetzter Eigenschaften und Kräfte wird nur in der Person gelöst. Sie allein ist es, welche das Maß, die rechte Art und den lebendigen Impuls für alle Situationen, Tätigkeiten und Prozesse in sich trägt; welche dem Charakter die Liebenswürdigkeit, Akkommodation und der Entschiedenheit die Milde zubringt, indem sie fest und flüssig, spröde und elastisch zu sein vermag. Die Person ist es, welche Geschmack und exzentrische Begeisterung, Takt und rücksichtslose Wahrhaftigkeit, Humor und heiligen Ernst, Vernunft und Sinnlichkeit, Herz und Verstand in eins zu bilden und doch zu polarisieren, welche das Ausgeglichene in die rechten Akzente zu setzen versteht. Von diesen Gesetzen der Lebensökonomie, von den Mysterien der Expansion und Kontraktion, wo der Punkt zur Weltperipherie gedehnt und die Vernunft zu einem Herzen verdichtet wird, begreift der schematisierende Schulverstand und die sublimste Wissenschaft nur die Formeln, die Mathematik, aber nimmermehr das Fleisch, die Seele und den Geist. Kräfte und Formen, welche der abstrakte Verstand für unverträglich erklärt, stellt die Person nicht nur als vollkommen versöhnt, sondern durch die Macht des Kontrastes und der Polarität in ungeahnetem Effekt und Lebenszauber dar. Es ist eben das Wunder einer originellen und tiefen Persönlichkeit, daß sie den Generalnenner für solche Bruchteilchen im Leben bildet, die durch nichts zu lösen sind als durch den Witz und das Mysterium der Inkarnation. Der Genius ist es, in welchem sich die Gottheit spiegelt, welchem Lebensharmonie in ungeahneten Fernen aufgeht; Scheidewände verschwinden, und die Ökonomie des Universums prozessiert im Herzen und im Hirn.

Man muß ein Mensch mit einem Herzen voll Pietät und Hingebung sein, einen Menschen von ganzer Seele geliebt und ihn verloren haben, man muß ein alter Mensch geworden, mit seinen Künsten und Wissenschaften unter einer neuen Generation zurückgeblieben sein, um zu begreifen, daß an der Person alles gelegen ist; daß uns alle Kultur und Geschichte, die ganze Welt, wenn sie in einer Nuß zu haben wäre, nicht eine Person ersetzen kann, die uns durch ihren Genius, durch ihren Verein von Kraft und Liebe, von Charakter und Anmut, von Hingebung und Selbstständigkeit, von Verstand und schöner Schwärmerei, von Witz und Phantasie das Problem der Lebensgegensätze faktisch gelöst hat.

Wir lernen und lehren, wir beräsonnieren und bereisen die ganze Welt, wir überklettern unsre Persönlichkeit mit einer abstrakten Dialektik, um uns zuletzt ins transzendente Nichts, oder wie Faust in einen Sinnengenuß zu stürzen, für den uns die Don Juan-Natur gebricht. Wir sind bunt durcheinander: Theoretiker, Praktikanten, Buchstabenmenschen und Symboliker, Radikalsten und extrafromme Christen, Gemeinderäte, Spießbürger, Staatsbürger, Weltbürger, Einsiedler, Ästhetiker, Auswanderer, Schwärmer und blasierte Egoisten, um zuletzt oder mitten im Prozeß an dem Verluste eines geliebten Menschen, an dem Verlust von Weib und Kind inne zu werden, daß der Mensch ein bloßes Kulturphantom bleibt, wenn sich diese Kultur und Humanität nicht in seinem Herzen inkarnieren. Der Mensch muß mit einem zweiten Menschen in Liebe und Freundschaft verschmelzen, er muß eine kleine Welt in der großen, ein Familienleben, einen Heimatsort, ein Vaterland haben, wenn seine Brust nicht der Sarg seines Herzens werden soll.

Wenn man die Person nicht leiden will, weil sie nur ein einziges Entwicklungsmoment der Gattung in monströser Selbstschweigerei und probierter Tyrannei gegen alle andern Personen aufzeigt, so kann man konsequenterweise die Freiheit nicht mehr zur Weltparole machen; wenigstens darf man unter Freiheit nicht mehr das Ausleben und die ungehemmte Entwicklung der Individualität oder die Garantie der persönlichen Rechte verstehen. Wer die Person mißachtet, dem darf die Freiheit in nichts anderem als in der Verleugnung des individuellen Lebens für das Gattungs- und Geschlechtsleben, für das Gesetz der Welt und Menschheit bestehen. Da aber dies Gesetz und dies Gattungsleben tatsächlich am vollkommensten im gebildeten Genius zur Erscheinung kommt und das persönliche Leben doch in irgend welchen' Individuen konserviert und repräsentiert bleiben muß, so wäre eben in einer Zeit der Unpersönlichkeit, der Nivellierung und des Verrufs der Autoritäten der Kultus des Genius die natürlichste Reaktion. Mir scheint's, wenn der rechte, berufene Prophet und Held erscheinen sollte, wird man sich ihm als einem Welterlöser mit doppeltem Eifer in die Arme werfen. Sind doch schon Vogt Vgl. S. 143, Anmerkung. und Moleschott Der Physiolog Jakob Moleschott (1822 – 93), bekannt als Vorkämpfer der materialistischen Auffassung aller Lebenstätigkeit und Hauptvertreter der Lehre von der unzertrennlichen Einheit von Kraft und Stoff. für halbe Propheten angesehen.

Als reelle Welterlöser gelten heute nur Genies von dem Prinzip und Gepräge wie Lessing, George Forster und Fichte. Der Himmel weiß aber, wie man den Kultus dieser Männer mit dem Despekt gegen die Persönlichkeit zusammenreimt. Unsere modernen Publizisten, Naturforscher und Radikalisten, scheint es, können nicht begreifen, daß die Person und die Persönlichkeit so zusammengehören wie Feuer und Rauch, wie Geist und Materie, wie Geist und Leib, wie die Positivität und die Negativität, wie Kunst und Unmacht, wie Engelei und Teufelei, wie Recht und Unrecht, wie Weisheit und Narrheit, wie Sein und Nichtsein, wie Leben und Tod. Wahrscheinlich lebt man obenein des Glaubens, daß Forster und Lessing, ganz so wie die alten wasserhellen und objektiven Griechen (d. h. die Literatur-Griechen), nur die abstrakte Einfleischung derjenigen Gesetze, Willenskräfte und Vorstellungen darstellen, in welchen die Gattung, der Genius der Menschheit der Weltgeschichte und der souveräne Volksgeist bestehen. Wohl bekomme es dir, lieber Kultus der unpersönlichen Persönlichkeit und abstrakten Inkarnation! Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens, aber um so gewisser dann, wenn die Dummheit zur öffentlichen Meinung geworden ist und sich schlechtweg für die Gottheit halten darf.

Selbst die gebildeten Leute haben keinen essentiellen Verstand, keinen solchen, der komplizierte Probleme, Geschichten und Verhältnisse rasch resümiert, indem er sie auf die einfachsten Formen reduziert. Nur das gebildete Genie, welches die Erbschaft der Kulturprozesse von vielen Generationen angetreten und sich der Sprache mit Geistesüberlegenheit bemächtigt hat, gibt uns von seinen Studien wie Erfahrungen den Likör, den Saft der Frucht, ohne uns mit Blättern und Holz zu langweilen. Die Masse der Gelehrten renommiert mit Apparaten, Schablonen und Maschinerien.

Charakteristisch aber ist nicht nur für die modernen Gelehrten, sondern für alle modernen Gebildeten das immer mehr zunehmende Ungeschick, sich einander die Persönlichkeit in unmittelbarster Weise und doch mit so viel natürlicher Legitimation zu behändigen, daß kein Protest eingelegt wird. In dieser Kunst, seine Persönlichkeit im raschesten Prozeß nicht nur akzeptabel, sondern verständlich, gemütlich und beliebt zu machen, bestand sonst der Takt, der Mutterwitz, der Humor und der konversationelle Instinkt. Heute gibt es nicht einmal Originalcharaktere, und doch fehlt den Leuten der Witz, auf die abgeschliffene Persönlichkeit und Tournüre, auf das glatte Gesicht und die glatten Phrasen rasch die gewünschten Valuta zu beziehen. Herz und Witz sprachen sonst blitzschnell zum Herzen wie zum Verstande, heute aber tut es weder das Nivellement, noch der Gemeinsinn, noch die Weltbürgerlichkeit.

Die Leute, deren durchsichtiger Stil und durchsichtiger Charakter so gelobt wird, kommen mir wie Fensterscheiben vor. Menschen sollen nicht wie Glas sein. Ein Charakter ist selbst das reellste und interessanteste Objekt; er soll sich keineswegs herabwürdigen, das vollendetste Medium und Vehikel für andere Dinge oder der bloße Träger und das Organ für moderne Ideen zu sein. Wo wir solche Organe finden, da fehlt eben die Charakterwürde, die Charaktertiefe und Energie, da fehlen die Mysterien des individuellen Lebens, da fehlt die Person. Der Charakter kann zu kompliziert, zu dunkel werden; aber ein rechter Mensch muß Schatten, muß eine Komplikation, ein Mysterium und eine gewisse Undurchsichtigst haben, oder ihm fehlen Natur und Gemüt. Die Salonkonvenienz mag immerhin das Ideal der Bildung in einer Physiognomierosigkeit ersehen, die, ähnlich dem guten Wasser, weder Farbe noch Geruch besitzt oder irgend einen Stoff herausschmecken läßt; aber ein Mensch und ein Charakter soll eben ein guter Wein und kein elementares nüchternes Wasser sein.

Wir haben nur die Wahl, zu viel Akzent auf unser persönliches Leben oder auf das Gattungsleben zu legen. Wir riskieren entweder ein närrisches, selbstschwelgerisches Herz mit Träumen und Schäumen oder die Unterbindung dieses Herzens und seine Vertauschung gegen ein Vernunftphantom, welches der Sinnlichkeit, den Natur- und Kulturgeschichten gleichwie der Weltpraxis auf die kurioseste Weise widerspricht. Die Sinnenmenschen halten sich ohne innern Zwiespalt an ihren tierischen Instinkt, den sie mit so viel Gewohnheit und Arbeitsmechanismus versetzen, daß ihnen die wilde Bestie nicht mit dem Lebensfuhrwerk durchgehen kann; die gebornen Schulmeister aber, oder die Schülermenschen, halten sich an die Schulvernünftigkeit und werden dafür um so zynischer und unliebenswürdiger in allen ihren sinnlichen Funktionen sein. Eine Naturgeschichte, aus welcher Schule und Konvenienz den vernünftigen Geist extrahiert haben, muß einer Getreidemaische gleichen, von welcher der Spiritus herunterdestilliert ist. Wir Menschen sind Samenkörner, die nicht vermahlen, verbacken oder verdestilliert, sondern in ein Erdreich gesäet werden sollen, um daselbst, im Kerne zerstört, zu keimen, zu grünen, zu blühen und in der Blüte wieder denselben Fruchtsamen anzusetzen, der im Beginn des Prozesses zerstört worden war. Ob nun die modernen Kultur- und Selbstverleugnungsprozesse einem Vermahlungs-, Maisch- und Destillationsprozeß, oder ob sie einer himmlischen Garten- und Feldökonomie, einer menschlichen Naturgeschichte ähnlich sehen, mag jedermanns Beurteilung überlassen bleiben.

Wie unfehlbar die Leidenschaften den Verstand verdunkeln und sogar die geschmackvollen Leute zur Abgeschmacktheit verführen, sieht man heute an dem allgemein eingerissenen Gebrauch, bei keiner Gelegenheit mehr von »Personen«, sondern immer nur von »Persönlichkeiten« zu sprechen und zu schreiben.

Bis dahin verstand man vollkommen richtig unter der »Persönlichkeit« nur die Eigenart oder die Summe der spezifischen Eigenschaften einer Person, also ihre Sympathieen und Antipathieen, ihre garstigen und guten Angewohnheiten wie Humore, ihre Schwächen wie ihren schöpferischen Witz. Das Wort »Person« bezeichnete sonst bei Gelehrten und Praktikanten den ganzen konkreten Menschen, seinen Charakter und seine Erscheinung in Fleisch und Bein.

Heute sprechen und schreiben die dümmsten wie die sprachgelehrtesten Leute mit einer an Narrheit grenzenden Affektation, und wie wenn sie eine sublimere Psychologie in Umlauf bringen wollten, von »der Anwesenheit oder erwarteten Ankunft berühmter Persönlichkeiten«, »von ihrem Begegnen mit einer bekannten oder unbekannten Persönlichkeit«, ferner »wie eine Persönlichkeit den Ausschlag gegeben oder Begeisterung erregt habe« ec. – Wie man von einer bekannten Persönlichkeit sprechen, wie sie eine Genugtuung gewähren kann, liegt wenigstens im Bereich des Begreifens und der Menschenmöglichkeit; wie man aber von dem Erscheinen unbekannter Persönlichkeiten sprechen kann, geht über meine Begriffskonsequenz. »Personen«, d. h. Menschen in Fleisch und Bein, kann jeder mit seinen Sinnen wahrnehmen; aber die »Persönlichkeit«, d. h. die Eigenart eines Menschen muß man erst kennen lernen, wenn man zum alten Schlage gehört. Sonst sagte man: »es sind Persönlichkeiten ins Spiel gekommen«; »es kam zu Persönlichkeiten«, d. h. zu Menschlichkeiten und Anzüglichkeiten, zum Ausspielen von Schwächen, Antipathien und Eigenarten; heute aber »erscheinen distinguierte Persönlichkeiten« in Schuhen und Strümpfen mit dem chapeau-bas (persönliche »Großkreuze«), sind äußerst complaisant und nobel, denken aber natürlich nicht daran, Charaktere, Helden, Propheten oder kompakte Figuren in Muskeln, Knochen und Naturelleigenschaften zu sein, weil sich diese reellste Erscheinung für moderne »Persönlichkeiten« nicht gut schicken würde.

Diese Persönlichkeiten des modernen Rede- und Schreibestils dürfen wegen der herrschenden Antipathie vor leiblich und geistig robusten Personen nur die abstrakt objektiven Schemen und Echos ihres Geschlechts, oder vielmehr nur die geschlechtslosen, unpersönlichen Kulturphantome, die persönlichen Paradigmen der öffentlichen Meinung und Naturwissenschaft in Hosen und Frack bedeuten.

Wie diese abstrakten Leidenschaftlichkeiten und Unpersönlichkeiten der Literaturleute mit dem modernen Materialismus zusammenhängen, begreift freilich jeder schnell genug, der das Gesetz der Reaktion und die Phrase Napoleons von der Berührung der Extreme und das »du sublime au ridicul« Französisch: Vom Erhabenen zum Lächerlichen (ist nur ein Schritt). ec. in Erfahrung gebracht hat. Es lag in dem Hochmut und der Tyrannei der alten Genies und Autoritäten nie so viel leere, widernatürliche, abgeschmackte und herzlose Patzigkeit als in diesen modernen Narren einer affektierten Persönlichkeit, welche gleichwohl die Inkarnation des objektiven Weltverstandes, des absoluten Weltgeistes sein soll. Zu diesem Wunder sind weder Genie noch Mutterwitz noch Glaube, Liebe und Zeugungskraft nötig; es wird alles durch sublimierte Makulaturphrasen, d.h. in Kraft des modernen Literaturstils, vollbracht. Wem diese Literaturmiseren behagen sollen, der muß eben ein von dem Literaturgewerk geknechteter Literaturtagelöhner sein.


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