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II. Die deutsche Sprache und die deutschen Sprüchwörter.

a) Die deutsche Sprache.

»Wer seine Muttersprache, wer die süßen, heiligen Töne seiner Kindheit, die mahnende Stimme seiner Heimat nicht liebt, der verdient nicht den Namen Mensch.«

Herder.

»Ich frage nicht sowohl: was ist Vernunft, als: was ist Sprache?«

Hamann an Jacobi. Der Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819).

»Welche Sprache darf sich mit der deutschen messen, – welche ist so reich und mächtig, so mutig und anmutig, so schön und so mild als unsre? Sie hat tausend Farben und warme Schatten. Sie hat ein Wort für das kleinste Bedürfnis der Minute und ein Wort für das bodenlose Gefühl, das keine Ewigkeit ausschöpft. Sie ist stark in der Not, geschmeidig in Gefahren, schrecklich, wenn sie zürnt, weich in ihrem Mitleid und beweglich zu jedem Unternehmen. Sie ist die treue Dolmetscherin aller Sprachen, die Himmel und Erde, Luft und Wasser sprechen. – Was der rollende Donner grollt, was die kosende Liebe tändelt, was der lärmende Tag schwatzt und die schweigende Nacht brütet; was das Morgenrot purpurfarben, gold und silbern malt, was der ernste Herrscher auf dem Throne des Gedankens sinnt; was das Mädchen plaudert, die stille Quelle murmelt und die geifernde Schlange pfeift; wenn der muntere Knabe hüpft und jauchzt und der alte Philosoph sein schweres Ich setzt und spricht: Ich bin Ich – alles, alles übersetzt und erklärt sie uns verständlich, jedes anvertraute Wort überbringt sie uns reicher und geschmückter, als es ihr überliefert worden ist. Der Engländer schnarrt, der Franzose schwatzt, der Spanier röchelt, der Italiener dahlt, nur der Deutsche redet.

»Die Sprache ist die Scheide der Tat; – wir erheben das umhüllte Schwert und erringen unblutige Siege.« Börne.

Das deutsche Wort ist ein »Logos«, Griechisch s.v.w. »Wort« oder »Vernunft«. In der Philosophie, der Griechen bezeichnete »Logos« die »Weltvernunft«, in der jüdisch-alexandrinischen den Weltgedanken Gottes, den sogen. Sohn Gottes, den Mittler zwischen Gott und Welt; und diesen Begriff hat der Evangelist Johannes benutzt, um Christi Verhältnis zu Gott darzustellen. Hier allgemeiner s.v.w. »geheimnisvolle, wirkende Kraft«. der als ein Evangelium der Vernunftbildung in den Kulturgeschichten aller europäischen Völker prozessiert und allen zur geistigen Wiedergeburt hilft.

In der deutschen Sprache atmet die deutsche Seele, die Mitleidenschaft mit aller Kreatur, schlägt das deutsche Herz, zuckt der deutsche Nerv, wird Vergangenheit und Zukunft, Welttiefe und Weltoberfläche, wird Scherz und Todesernst, Vernunft und Torheit ineinsgebildet. Nur in der deutschen Sprache und in den Sprachen ihres Stammes wird das leiseste Gefühl und die Raserei der Leidenschaft, werden Himmel und Hölle, alle bösen und guten Geister, alle Flüsterstimmen der Liebe und Natur, die Mahnungen der Ewigkeit und des Gewissens, wird das leiseste Zucken der Lippen, der Blick des Auges, wird die Hieroglyphensprache der Geschichten, die göttliche Bilderschrift der ganzen Natur zur Rede gestellt! Nur in einer so tief und so reich gebildeten Sprache wie die unsrige erfährt der menschliche Verstand zugleich mit dem Herzen eine Fortbildung, eine Veredlung, eine unablässige Wiedergeburt; und umgekehrt sind es wieder nur die Deutschen und die verschwisterten Engländer, welche ihre Sprachen aus der Phantasie, aus dem Gemüte, dem Gewissen, den Vernunftanschauungen heraus prozessieren. Mundartlich s.v.w. prozedieren, hervorgehen, sich entwickeln lassen.

Au den heiligsten Gerechtsamen und Vorzügen des deutschen Volkes, deren es sich mit Würde und Kraft bewußt ist, gehört das deutsche Wort. Mit ihm zeugt nicht nur die menschliche Vernunft ihre Weltweisheit, die deutsche Liebe und Frömmigkeit ihre Dichtkunst und Theosophie und der deutsche Genius seine Kulturgeschichte: in der deutschen Sprache kommt die europäische Menschheit zum vernünftigen Selbstbewußtsein, verkörpert sich der Heilige Geist der Welt.

Von den Mysterien der Liebe, des Glaubens, der Natur wie der Übernatur spricht zart und würdig, spricht wahrhaftig und in lebendigster Mitleidenschaft nur ein deutsches Herz, ein deutscher Mund und der beseelte Verstand des Deutschen in deutscher Junge!

Nur am deutschen Worte hängt noch der Blutstropfen, mit dem es sich vom Herzen losgerungen hat, und doch fügt es sich zu einer Ordnung, in der sich nicht nur das Naturgesetz widerspiegelt, sondern die göttliche Vernunft! Es ist ein Wunder der Wunder, mit welcher Hörigkeit die deutsche Sprache auch der leisesten Intention des Geistes nachzukommen vermag; mit welcher Ätherflüssigkeit sie sich jeder Stimmung anschmiegt, mit welchem Witz sie das Abstrakte verkörpert und das Körperliche vergeistigt, indem sie es in den Gedanken übersetzt.

Auch den zartesten Ton, den lindesten Hauch, den Geistesduft, jede Bebung im Seelengrunde, jeden Pulsschlag des Herzens, die Kraft und Spannung des Charakters, selbst die Verschlingungen, die Metamorphosen und Nebelbilder der Verhältnisse – und dann wieder ihren komplizierten Mechanismus geben die deutschen Worte und Wendungen symbolisch und buchstäblich wieder. Wir erleben es an unsern Poeten und Philosophen von Wort zu Wort, wie der beseelte Verstand sich von der Sprache einen Geisterleib erbaut.

Dieses Fleischwerden des Genius im Worte, die Selbstzeugung des Geistes im redenden Verstande, auf der brandenden Uferwelle des Lebens, mit dem Sabbat auf der hohen See, in der sich die Sterne spiegeln; das hehre äthergewobene Geistergewand einer keuschen Sprache, die wie Sternenlicht vom Himmel zur Erde fährt, das ist Prophetenstil, das ist eine Schreibart, unsterblicher Wesen würdig; so schreibt und spricht der Deutsche, wenn er dem Genius seiner Wundersprache folgt.

Dem deutschen Vollblutstil der deutschen Sprache unsrer großen Männer in allen Schichten unseres Volkes fühlen wir es an, daß es eine Sprache in der Sprache gibt, und daß sich die Deutschen nicht nur im Verstände, sondern auch in der Seele verständigen. In der Ökonomie der Worte, der Redefiguren, Wendungen und Gedankengruppen; in der sprachlichen Taktik und Strategie, also im deutschen Stil, der bei jedem echt deutschen Dichter und Denker ein individueller ist, wirkt eine wundersame Macht, eine Symbolik, die das Gegenteil von dem andeuten und aussagen kann, was buchstäblichermaßen ausgedrückt ist.

Von allen Menschen in der Welt spricht und liest wohl keiner so sinnig zwischen den Zeilen wie der Deutsche; denn kein anderer besitzt und bildet so viel transzendenten, so viel beseelten, symbolischen und poetischen Verstand. Wer dies Zeugnis nicht aus unsrer Sprache und Literatur, aus unsern Redensarten, Sprichwörtern, Märchen und Liedern entnimmt, der hat eben keinen deutschen Verstand.

Die deutsche Sprache gibt den Maßstab für die Physiognomie des deutschen Verstandes; sie ist philosophisch, symbolisch, poetisch und dialektisch, sie ist ehrlich, seelenvoll, präzise, keusch und wortselig zugleich, hell und dunkel, durchsichtig und mysteriös.

Wie sinnig, wie tiefsinnig und zartsinnig unsre Sprache ist, kann man nur an ganz bestimmten Beispielen zeigen: Unter »Wörtern« verstehen wir Elemente der Sprache in grammatischer Geltung, »Worte« aber sind Wörter mit sittlicher Bedeutung, z. B. »Drei Worte nenne ich euch inhaltsschwer.« – »Denk' an deine Worte!« Dagegen heißt's nicht Wortebuch, sondern Wörterbuch. Sagen ist in Übereinstimmung mit Sage ein Sprechen mit sittlicher Bedeutung, z. B. ansagen, absagen, zusagen, versagen, aussagen, besagen, vorsagen ec. ec. Sprechen ist in Übereinstimmung mit Sprache: die Veräußerung der innerlichen Prozesse ohne Rücksicht auf Zeichen und Form, also auch eventualiter die unmittelbare Verlautbarung des Innern, die bloße symbolische Andeutung oder die Ausdeutung der Intentionen der Natur (Natursprache). Reden ist in Übereinstimmung mit Rede das in Worten vermittelte, verständig geordnete, zu einem bestimmten Zweck förmlich eingerichtete Sprechen. Leichnam ist der tote Körper schlechtweg; Leiche ist der Körper, dem unlängst die Seele entfloh (der Schuß machte ihn zur Leiche), der also noch in Beziehung zu den Lebenden, als Gegenstand ihrer Pietät gedacht wird. Die Leiche hat ein Gefolge, bekommt eine Leichenrede; der Leichnam wird aufs Rad geflochten, kommt auf die Anatomie.

Wieviel dem Deutschen eben an seiner Seele gelegen ist, und mit wieviel Nachdrücklichkeit er den Begriff der Seele entwickelt hat, zeigen die nur der deutschen Sprache eigentümlichen Doppelworte: Mühseligkeit, Saumseligkeit, Habseligkeit, Armseligkeit, Holdseligkeit, Redseligkeit, Leutseligkeit, Glückseligkeit, Traumseligkeit ec. Mit wieviel naivem Witz hat der Deutsche in diesen Worten seine Lieblingsschwächen und seine charakteristischen Tugenden mit der »Seele« zusammengereimt, und welch ein himmlischer Witz liegt darin zutage, daß nicht etwa aus dem schulgelahrten Geiste, sondern aus der Seele die Seligkeit produziert wird! Der Verfasser schrieb »Müh seeligkeit« u.s.w. und kommt durch diese Schreibart zur Ableitung von »Seele«. Jedoch hat das Eigenschaftswort »selig« sowie die Endung »-selig« mit dem Dingwort »Seele« nichts zu tun. Ersteres bedeutet »beglückt, gesegnet«, letzteres dagegen »das Innerste (das innerste Wesen) eines Dinges«. Beide Wörter haben verschiedenen Ursprung. Die mit »Mut« zusammengereimten Worte könnten diejenigen, die nicht recht wissen, was sie mit dem Begriff »Gemüt« anfangen sollen, überzeugen, daß der deutsche Mensch von sonst in seiner Wortbildung die Geschichten seiner Seele und seines Geistes niedergelegt hat. Nur ein moderner, abstrakter und säkularisierter Verstandesmensch kann meinen, das in Worten wie Anmut, Unmut, Wehmut, Wankelmut, Demut, Mißmut, Gleichmut, Übermut, Schwermut, Großmut, Hochmut, Langmut, Kleinmut, zumuten, anmuten, vermuten, sein Mütchen kühlen, gut zumute sein, Gemütlichkeit ec. nichts weiter als ein Wortspiel enthalten sei.

Das Studium der Grammatik, der Redensarten, der Sprichwörter und des Wortschatzes, die Geschichte der deutschen Prosa und Poesie zeigt uns mehr wie eine andre Sprache den Dualismus und die Metamorphosen des Menschendaseins; Vergeistigung und Verkörperung, Vermittlung und Lebensunmittelbarkeit, Licht und Schatten, Verhüllung und Enthüllung, ein Symbolisieren und eine Buchstäblichkeit, einen verneinenden und affirmativen, einen bindenden und lösenden, einen schematisierenden und elementaren Geist; Mehrung und Minderung, Ebbe und Flut, Expansion und Kontraktion, Dynamik und Mechanik, Polarisation und Neutralisation; Blüte, Reife und ein Abfallen der Frucht vom Baume des Lebens, der Erkenntnis Gutes und Böses, mit neuem Samen und neuem Gedeihen!

Es ist schwer, zu sagen, ob die Integrität des deutschen Gemüts, ob Scham, Gewissen und Prophetie durch die Sprachentwicklung in Literatur und Weltleben mehr gewonnen oder verloren haben. Man kann anführen, daß jede Kraft und Wesenheit sich in der Verneinung potenziere und am andern zur Selbstanschauung, zur Einkehr in das individuelle Lebensprinzip gelange. Aber an der Masse der deutschen Literaten und Sprachkünstler merkt man mehr die Säkularisation als die Erhöhung und Mehrung des sinnlichen Gemeingefühls, des Mutterwitzes oder des Gemüts. So trösten wir uns denn mit dem Glauben, daß den Segen der Sprachbildung und der Literaturen der Genius des ganzen Volkes profitiert, und daß die Wiedergeburt des Geistes der Menschheit mit der Entwicklung der Sprachen gleichen Schritt behält. Verglichen mit Luthers Sprache in seiner Übersetzung der Heiligen Schrift, hat unser moderne Stil die alte Naivetät und Einfalt, hat er Mannheit, Bildkraft, Treuherzigkeit, Anschaulichkeit, Herzenswitz, treffende Kürze, noble Derbheit und das gesunde Korn eingebüßt.

Unsere Altvordern hatten ein Gewissen von der Heiligkeit und Unheiligkeit des Wortes, das uns entwichen ist; sie achteten auf Segen und Fluch; sie beschworen Geister und Krankheiten mit Zauberworten, und derselbe Schatz, den das rechte Wort sichtbar werden läßt, versinkt tausend Klafter tief bei dem ersten unheiligen und überflüssigen Wort.

Bei den Vorvätern galt ein Wort einen ganzen Mann, und Wort halten, hieß ein Mann sein. Heute halten die Worte einander keinen Augenblick über Wasser, geschweige denn ihren Mann, oder der Mann seine Worte!

Es gab eine Zeit, da war das deutsche Wort ein »Logos«, heute ist es eine Logomachie. Griechisch: »Wortkampf« oder »Kampf der Vernunft«. Goltz gebraucht es im Folgenden bald in der einen, bald in der anderen Bedeutung. Vgl. auch S. 27, Anmerkung.

Leute von überflüssigem Geiste, ästhetische Naturen, die ein besondres Talent für schriftlichen und mündlichen Ausdruck haben, finden sich durch die Sprache, durch die Phrase, durch den Stil mit allen ihren Schwächen und Sünden ab. Sie sagen sich und andern in schön oder pikant stilisierten Worten die Wahrheit, sie fassen ihre Verschuldungen wie die Miseren der Welt in die angemessensten oder in die witzigsten und frappantesten Formeln und haben damit ihrem Gewissen ein Spielzeug gemacht, mit dem es sich beruhigt. Es gehört zu den Mysterien zur Naturgeschichte des Wortes, daß es so leicht an die Stelle der Gedanken, Prozesse, der Gefühle, der Handlungen, der Erlebnisse, an die Stelle des wirklichen Lebens, des ganzen Menschen tritt. Die geschickten Redner sind nur zu oft die schwächsten Menschen in der Tat! Die Sprache ist ein so behender, leichter Aushelf für Gefühle und Gedanken, und diese Gedankenprozesse sind bereits so unendlich bequemer und unterhaltender als die langsam reifende Werktüchtigkeit, daß den Virtuosen des Worts zuerst die Empfindungen und zuletzt die Willens- und Tatkraft abhanden kommt. Im Bewußtsein dieser Unmacht wird den Sprachkünstlern die Wirklichkeit und Lebenspraxis ein Greuel, wenigstens eine Trivialität und Unbequemlichkeit. Aus diesen inwendigen Geschichten erklären sich die Grundschwächen des »redseligen« Deutschen. Die eminente Begabung für das Wort hat nicht nur den Gelehrten wie den gebildeten Ständen die Tiefe und Wahrheit der Empfindung, das Herz, die Mitleidenschaft geschädigt, sondern zerfrißt auch die Willenskraft, den Mutterwitz und die Werktüchtigkeit.

Die Worte und Redensarten jeder Sprache sind gute und böse Geister, Engelchen und Teufelchen; die Schreib- und Redekunst erfordert also nichts weniger als einen Zauberer, der alle die Geister zu beschwören und zu bannen vermag.

Die deutschen Redensarten sind aber die Lebensarten des Deutschen ganz und gar. Die deutschen Worte sind Herzpulse, Losungen, Lebensakzente, Rhythmen, Worte des Lebens, des Todes, des Tiefsinns, des Unsinns, Elemente der Tollheit, der Weisheit, des Segens, des Unheils, der Gotteslästerung, des Gebets, der Verzweiflung, des Entzückens, des Gewissens, der Reue, des Glaubens, der Religion!

Aus seiner Sprache allein lernt der deutsche Genius, lernt jeder deutsche Mensch Sitte und Gottesfurcht, Theosophie, Metaphysik, Narrheit und Weisheit, Leben und Lieben, Sterben und Verderben.

Aus deutschen Worten saugt das deutsche Menschenkind unmittelbar Gift und Honig, Tugend und Laster, Leben und Tod; denn nur der Deutsche ist mit seiner Sprache so ganz und gar aus einem Geist und einem Stück. Minder durchgeistigten Völkern läuft die Sprache mehr parallel.

Die deutsche Sprache ist der andre Baum des Erkenntnisses: »Gutes und Böses«. Ihre Früchte geben das Leben und bringen den Tod. »Ökonomie in Lebens- und Redensarten ist eine Kardinaltugend für alles Volk und alle Zeit«, so lehrte Georg Hamann seinen Sohn, und den Deutschen tut diese Lehre mehr not als einer andern Nation!

Der Weise wird immer weiser von dieser deutschen Sprache, immer närrischer der Narr; immer besser und gescheuter der gescheute und gute Mensch; immer leerer und machtloser ein Phrasenmacher, ein Schulfuchs und ein Wicht.

Die deutsche Sprache ist vor allen andern Sprachen wie die Natur selbst: sie gebärt, sie ernährt und verzehrt, sie vergiftet und heilt, sie gibt und nimmt alles. Sie raubt den Rest von Verstand und Mutterwitz, von Seele und Leib demjenigen, der bereits auf den kleinsten Teil davon herabgebracht ist; und sie schüttet das Füllhorn ihrer Gaben über das Haupt und in den Schoß dessen, der von Natur etwas Rechtes ist und hat. Die deutsche Sprache nährt und erhöht allmächtig eine tiefe und kräftige Menschennatur, sie entmannt den unmännlichen, verbildeten und von der Natur abgekommnen Geist; sie verharzt und vertrocknet den Formenmenschen, den Pedanten, und sie belebt, sie hebt den kräftigen Sohn der Natur über sich selbst empor. Sprache ist der Geist selbst, ist der essentiellste Verstand und nicht sein bloßes Bild; somit braucht die Sprache zum Gegengewicht die kräftigste Natur; und nur seiner tiefen Natur wie seinem Gemüt und Gewissen verdankt es der Deutsche, daß er bei seiner angestammten »Redseligkeit« nicht ein aberwitziger Narr und ganz und gar ein Wortmacher und Wortklauber geworden ist.

Am Menschen liegt es, an seinem guten und bösen Genius, ob er durch die Sprache ein Zungennarr, ein Sprechaffe oder ob er ein Redner, ein Prophete, ob er ein Verderber oder ein Erlöser seiner Mitmenschen werden will!

Wer sich auch nur als Dilettant mit Hegels Philosophie beschäftigt hätte, wer dieses Mannes Gegner in allen Grundanschauungen, im Prinzip wie in der Methode wäre, darf, wenn er einmal vom Genius der deutschen Sprache verhandelt, jenen letzten gewaltigen Denker und dessen dämonische Überlegenheit über das Wort und über die mit demselben bis dahin verknüpften Begriffe nicht übergehn. Wenn deutsche Dialektik und Beredsamkeit einer Geisterschlacht verglichen werden kann, so muß noch hinzugefügt werden, daß sie durch die deutsche Sprache zu einer Hunnenschlacht vergeistigt wird, in welcher die Geister der Gefallenen über den Wolken fortkämpfen. Anspielung an die Schlacht auf den katalaunischen Feldern (451) zwischen den Westgoten und den Hunnen unter Attila, in welcher nach Sage und Dichtung die Geister der Erschlagenen in der Luft den Kampf weiterführten.

Wer die Geschichte der Philosophie von Hegel, wer seine Phänomenologie, seine Logik in Angriff nahm und gleichwohl nicht inne wurde, daß er sich im Getümmel einer Geisterschlacht befinde, der lasse sich gesagt sein, daß er kein Philosoph κατ' εξοχήν, Griechisch: »vorzugsweise«, »im eigentlichen Sinn des Wortes«. daß er kein Metaphysiker, kein für die Mysterien der Sprache bevorzugt organisierter Genius, daß er kein Jünger Hegels ist, der von des Meisters Geiste Zeugnis reden darf.

Man kann mit Grunde von den Härten und Eckigkeiten, von den Schiefrigkeiten, den souveränen Bizarrerien, den tyrannischen Reformen und Kapricen der Hegelschen Ausdrucksweise; man kann von dieses Meisters naiven Ungeschicklichkeiten im Periodenbau, von den ärgerlichen Nachlässigkeiten und Willküren in allerlei mechanisch-stilistischen Präzisionen, in der Gedankengruppierung; man kann von den Fehlern der taktischen Aufstellung, der Verwendung und Betonung einzelner Argumente wie Formeln und über was immer sonst räsonieren: und doch, doch ist diese Hegelsche Sprache und Dialektik ein imponierendes, den Geist überwältigendes, ein unerhörtes, ja fast zu sagen: ein unausdenkbares Wunder von Gedankenevolutionen aus Vernunftanschauungen heraus; von Gedankenprozessen und Formeln, die aus dem Kampfe zwischen der unendlichen Bewegung des übersinnlichen Geistes mit dem sinnlichen Verstande hervorgehn. Von den Verdiensten Goethes, Schillers und Lessings um die deutsche Sprache wird in der Charakteristik dieser Männer die Rede sein.

Diese Sprache Hegels ist unendlich mehr als Rede und Stil; sie ist schlechtweg Metaphysik und reinster Verstand; sie ist eine Geschichte und Genesis, eine Bildkraft des menschlichen Geistes, wie sie in dieser Konzentration und Expansion keine Nation der Welt, von den ältesten bis zu den neuesten Zeiten, aufzuzeigen hat. Sie ist die im Geiste anschaubare Geschichte, wie sich der immanente Geist (der Verstand) mit dem transzendenten Geiste (der primitiven und relativen Vernunft) ins Gleichgewicht zu setzen und zu einem absoluten Geiste (zu der Vernunft κατ' εξοχήν) zu potenzieren versucht.

Diese Sprache Hegels zeigt den Prozeß eines Verstandes, der sich ohne Aufhören zu Vernunftanschauungen rektifiziert, die fort und fort wieder zu Verstandeskristallen, zu endlichen Figurationen anschießen. Die Hegelsche Sprache allein von allen in der Welt gewährt das fabelhafte Schauspiel, wie der Menschengeist den Gedankenprozeß vollkommen mit der Ökonomie von Worten, Redefiguren und Formeln decken, wie er sie durch den Sprachprozeß unmittelbar und reell verwirklichen kann. Hegel ist der erste Sterbliche, welcher das Widerstrebende, das Gemachte und Mechanische, kurz alles Endliche und Nichtseiende mit dem Gegensatze des Unendlichen, des Seienden, des Organischen und Dynamischen in der Weise identifiziert, daß er alle Gegensätze Augenblick um Augenblick ineinander übergehn und doch auseinander gehalten werden läßt.

Die Argumentation, welche man bei diesem tiefsten und schärfsten, diesem sprachgewaltigsten aller Erdendenker in den Zeilen wie zwischen den Zeilen lesen kann, ist die, daß, wenn Geist und Materie, Tod und Leben, Weltanfang und Uranfang, wenn Schöpfer und Geschöpf, Zeit und Ewigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, wenn Gottespersönlichkeit und Gottesvernunft, wenn das Menschen-Ich und die Welt sich de facto Lateinisch: »tatsächlich«. zusammenreimen; wenn sie also keine Antinomien, sondern nur Verstandesgegensätze und, wie Hamann erklärt, sprachliche Mängel und solche Mißverständnisse sind: daß dann auch Sein und Nichtsein, Denken und Sein, Sprechen und Denken, Sprache und Philosophie, Logik und Metaphysik, Wirklichkeit und Vernunft, Wortformeln und Sachprozesse, daß die Schranken der Sprache und des sinnlichen Verstandes keine absoluten, sondern fort und fort verschwindende Gegensätze, ja, daß sie die gleichberechtigten Faktoren des absoluten Lebens, der Geschichte des Geistes, der absoluten Wissenschaft sind; daß man den Unterschied von Sprache und Wissenschaft, von Sprechen und Denken, von Sein und Denken, von Endlichem und Unendlichem nicht fixieren darf; daß es ebensowenig ein schlechtweg Endliches als ein solches Unendliches gibt, welches zugleich ein Positives und Erscheinendes ist oder zu sein vermöchte.

Nur die Summe aller Lebensfaktoren, Polaritäten und Neutralisationen, die Summe aller Geschichten und die Urkraft, aus deren Schoß sie von Ewigkeit zu Ewigkeit hervorgehn, ist absolutes, ist unendliches Leben, befaßt also die absolute Wahrheit, Schönheit, Güte und Heiligkeit (die Integrität) in sich und kennt so wenig einen Zwiespalt von Materie und Geist, von Wirklichkeit und Vernunft, von Natur und Geist, von Ich und Welt, von Schöpfer und Geschöpf, als der Mensch selbst einen Widerstreit zwischen seiner Sinnlichkeit und seinem Geiste empfindet, bevor er ihn durch seinen freien Willen erzeugt.

b) Die deutschen Sprüchwörter und Redensarten.

Wen diese deutschen Sprüchwörter nicht durch und durch erbauen, der hat kein deutsches Gewissen und keinen deutschen Witz.

Was ist das alles rund und reinlich, wie heil verständig aus der Lebensmitte gegriffen und wie gutmütig gesagt; so tief und durchsichtig wie die See an den Bahama-Inseln, wo der Schiffer über einem grünen Abgrunde von tausend Klaftern schwebt.

Und gleich dem Meere werfen auch die deutschen Sprüchwörter Muscheln, Perlen, Bernstein mit eingeschlossenen Insekten, manchmal auch Ungeheuer an den Strand.

Wie fromm ohne Scheinheiligkeit, wie ehrbar und tugendbeflissen ohne Sittlichkeitsziererei, wie gewissenhaft ohne Gewissenszwang sind diese deutschen Lebensregeln! Heilig und in sich selbst begründet wie die Natur, einfältig und doch grundgescheut, klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben; von aller Weltempfindung getragen, sind sie doch immer an ganz bestimmte Gegenstände und Geschichten angeknüpft; das nennt man Theorie und Praxis in einem Puls und auf einen Hieb.

Aus diesen deutschen absoluten Worten, die so wahrhaftig und doch so liebenswürdig, so billig und strenge, so anspruchslos und doch so herausfordernd in voller Manneskraft, so gesetzmäßig und so ungebunden sind, blicken uns die deutschen Augen an mit ihrer ehrlichen Schelmerei, der deutsche Freimut mit seinen treuherzigen und schämigen Gebärden, der deutsche Tiefsinn mit seinem herzigen Spaß, das deutsche Gemüt mit seiner von Zukunft und Vergangenheit bewegten, von Natur und Gott erfüllten Seele. Jedes dieser Worte ist ein deutscher Herzschlag, ein deutscher Handschlag, ein deutscher Mann.

In diesem sprüchwörtlichen Redewitz, der flüssig und feste ist, voll Blutes und aus einem Fleische, das von markigen Knochen zusammengehalten, von einer festen Haut umschlossen wird: da haben die Deutschen der Sprache einen lebendigen Körper gegeben, welchen der deutsche Mutterwitz und das deutsche Weltgefühl beseelt.

In dieser Volksweisheit halten sich Theorie und Praxis, Vernunft und Sinnlichkeit, Welt- und Spießbürgerlichkeit, Geschichte und Gegenwart, Geist und Materie, Zeit und Ewigkeit, Verstand und Einbildungskraft, Scherz und Ernst und alle Lebensgegensätze unzertrennlich umschlungen. Hier ist eine durch und durch heile, eine rundum fertige Bildung und Existenz; hier deckt das Wort die Sache und die Sache das Wort; hier zieht jedes Wort wie eine Schraube, sitzt jedes wie Hieb und Schuß.

Diese deutschen Lebens- und Redensarten treffen überall und in jeglichem Augenblick dem Nagel auf den Kopf, während die leidige Schulweisheit die Dinge nur zu oft auf den Kopf stellt und die halbe Weltgeschichte an einen einzigen Nagel hängt, d. h. an eine Idee!

In den Sprüchwörtern und Redensarten ist nichts geschieden, was Gott zusammengefügt hat.

Der deutsche Tiefsinn und der kerngesunde Menschenverstand sind in diesen Volksworten so wohnlich und zu Hause wie die Seele in ihrem Leibe und der Leib in seiner Haut.

Das Wort ist in diesen Sprüchwörtern so schmuck und schön wie ein Bräutigam, es schickt sich zu seiner Sache so ganz und gar wie der Mann zum Weibe. So gedeiht denn die Wahrheit zwischen beiden lustig und zeugungskräftig, wie Umarmung und Kuß, wie Rede und Geist, so ehrbar und getreu wie Mann und Frau. Von diesem Sprüchwörterstil gibt's also eine Nachkommenschaft und einen Segen im Verstande, in allen Herzen, in allen Schichten und im Schoße des deutschen Volks.

In diesen Sprüchwörtern und sprüchwörtlichen Redensarten ist alle deutsche Kraft und Art verkörpert; sie sind das Herz und der Witz der Sprache, die Zisternen und unversiegbaren Brunnen des gelehrten Schreib- und Redewüstensandes, welcher bald zu viel und bald zu wenig vermittelt, am unrechten Orte schwunghaft und zur ungelegenen Zeit statarisch ist. Die Sprüchwörter sind der ewige Born des Menschenverstandes, »aus dem nicht nur diejenigen schöpfen, die keinen eigenen Verstand haben«, sondern auch, die zu viel davon haben, denn sie lernen vom Sprüchwort, wie man die Rede körperlich, beseelt, einfältig, kurz und gemeinverständlich macht.

Die deutschen Sprüchwörter sind das Vermächtnis des deutschen Genius an jedweden Deutschen ohne Unterschied des Geistes, der Erziehung, der Lebensverhältnisse, des Alters und Geschlechts – eine Norm für Sitte und Lebensart, für Handel und Wandel und jeglichen Verkehr, sei's mit Menschen, mit Dingen, mit Natur oder mit Gott dem Herrn.

Diese Sprüchwörter und Redensarten sind eine lebendige, in allen Geschichten wurzelnde, eine ewig sprossende, blühende und fruchtende, eine auf den Gassen verkehrende Weisheit, für alles Volk und alle Zeit, wie die Heilige Schrift, aber stetig vermehrt und neu aufgelegt in jedem deutschen Gemüt. Sie sind das zirkulierende Kapital des deutschen Geistes, Zins auf Zins häufend, wuchernd in allen Fakultäten bei Mann und Weib, in Kindern und Erwachsenen, in Gelahrten und Laien, in Staat und Familie, in Schule und Haus!

Das Köstlichste ist noch, wie bei Wasserquellen, Volksliedern und Märchen: der Schatz ist unversiegbar da, und niemand präsentiert sich als Schatzmeister oder Autor. Man verdankt niemandem etwas als dem Genius des Volkes, und man nimmt die Lehre ohne Neid und Widerspruch, mit unbefangenem Gemüte an, weil man keiner einzelnen Person verpflichtet und von keiner beherrscht ist.


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