Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVIII. Die Deutschen und Franzosen in Parallele gestellt.

Zur allgemeinen Charakteristik.

»Zu den Schattenseiten des französischen Charakters gehört ein grenzenloser Leichtsinn, welchem Übermut und Grausamkeit nicht ferne liegen, sehr verschieden von dem Ernste und der Ruhe des Deutschen. Übrigens zeigen der Norden und der Süden von Frankreich wie auch die einzelnen Provinzen auffallende Verschiedenheiten. Der überfeinerte Pariser kontrastiert gewaltig mit dem frommen, aber rohen Bewohner von Poitou, der quecksilberne Gascogner mit dem plumpen Auvergner, der zweideutige Normanne mit dem treuherzigen Burgunder.«

»Die eingebornen Mexikaner Pflegen zu sagen: » un Frances tiene education«, Spanisch: Der Franzose besitzt Erziehung. d. h. dem Sinn nach: der Franzose weiß eine Verbeugung zu machen, aber er ist flatterhaft und seine Grundsätze taugen nichts; der Engländer (fahren sie fort) hat gute Grundsätze, aber keine guten Manieren, und der Yankee besitzt weder die einen noch die andern. Im ganzen sind noch die Deutschen am meisten beliebt. Sie stehen in dem Rufe, mehr Erziehung als die Engländer und mehr Charakter als die Franzosen zu besitzen.«

*   *   *

Der Deutsche hat mit dem Juden den Individualismus, den Humor und die Familienzärtlichkeit, er hat mit dem Engländer und Polen das Herz, den Sinn für Freundschaft, die natürliche Empfindung, die Liebe zur Landwirtschaft und patriarchalischen Lebensart gemein. Der Berührungspunkt zwischen Italienern und Deutschen ist die Phantasie, der Naturalismus, die bildende Kunst und die Musik. Der Spanier ist dem Deutschen durch die melancholische Grundstimmung, durch Genie und Charaktertiefe, durch die Energie seiner Leidenschaften, durch seinen brütenden Idealismus verwandt. Russen und Türken treten dem Deutschen durch Naturliebe, Phlegma, patriarchalische und konservative Tendenzen nahe; nur die Franzosen und die Deutschen bilden den tiefsten Kontrast durchweg, wenn man nicht hervorheben will, daß sie den Scharfsinn, die Lebhaftigkeit des Geistes, die Spottsucht und eine Vorliebe für den Schematismus in der Staatsverwaltung miteinander gemein haben. Näher geprüft, stellt sich an diesen Ähnlichkeiten eben die tiefste Heterogenität beider Volksrassen heraus. Dem Franzosen ist der Schematismus, der Mechanismus und jeder Stil ein letzter Zweck und eine absolute Satisfaktion. Dem Deutschen sind Schematismus, Stil und Methode ein Mittel zur Zügelung der Leidenschaften, der Willkür, der Persönlichkeit, und zwar im Interesse der Religion, welche den Naturalismus, den alten Adam bekämpft haben will. Der Deutsche liebt aber nichtsdestoweniger Natur, Phantasie und Leidenschaft. Die Liebe ist ihm eine Naturreligion und der Humor die Maske für seine tiefsten Herzenssympathieen, die er nicht unverhüllt zur Schau stellen mag. Der Franzose dagegen kennt die Scham so wenig als tiefe Leidenschaft und Humor. Er hält das Natürliche in Kunst und Literatur für eine Barbarei und Unanständigkeit, während ihm in dem Verkehr mit dem andern Geschlecht das Schamlose und Zweideutige als das Anständige erscheint. Der Deutsche zügelt dagegen im persönlichen Verkehr mit Fremden und Frauen seine Natürlichkeit durch eine Konvenienz und revangiert sich dafür in der Poesie wie in den schönen Künsten durch Phantasie und Leidenschaft, durch eine Naturheiligung, aus welcher die Romantik hervorgegangen ist.

*   *   *

»Der Deutschs bedarf ebensosehr der Methode im Handeln als der Unabhängigkeit im Denken.«

»Der Franzose hingegen betrachtet die Handlungen mit der Freiheit der Kunst, die Ideen aber mit der Knechtschaft der Gewohnheit.«

( Frau von Staël Vgl. S. 142, Anm. 2. über Deutschland.)

Der Deutsche ist im Denken und Dichten frei und im Handeln ein Pedant, der Franzose ein Stilist und Mechaniker im Dichten und Denken, im Handeln aber gar zu oft ein Narr und Phantast. Die große Nation ist stolz auf ihre rigorosen Begriffe von Grammatik und Klassizität in der Literatur, aber sie findet sich durch die fortwährende Säkularisation aller Sitte und Religiosität keinmal geniert.

Die Franzosen gleichen Weibern; sie sind inspiriert, solange sie mit Leidenschaft handeln, aber hölzern und zeremoniell, Wenn sie reflektieren. Sie wollen um ihrer Wetterwendigkeit und Zerfahrenheit willen tyrannisiert und zentralisiert sein. Der Deutsche besitzt ein Zentrum an seinem Selbst, während der nach außen zentralisierte Franzose im Innern ohne Kern ist. Der Deutsche bewährt sich als Virtuos und Mann im ideellen Leben und wird zaghaft, wenn er loshandeln soll. Er ist aber nur so in den ersten praktischen Versuchen, weiterhin findet er Dreistigkeit, Charakterentschiedenheit und Konsequenz. Umgekehrt ist's bei Weibern, Franzosen und Berauschten: sie fangen mit Inspiration und Enthusiasmus, mit Rhythmik an, werden in der Mitte übermütig, konfuse und närrisch und verwildern, versumpfen am Schluß.

Verglichen mit den andern Nationen, ist im deutschen Charakter das weibliche und männliche Element am vollkommensten abgewogen; den romanischen wie den slawischen Nationen gebricht dagegen die männliche Grammatik, Vernunft und Theorie. Den Engländern fehlt die slawische und romanische Grazie, die geistige Elastizität, die Flüssigkeit; das männliche Prinzip ist in jenen Insulanern bis zur Karikatur ausgeprägt. Der Deutsche allein versteht spröde und elastisch, fest und flüssig, männlich und weiblich, vernünftig und sinnlich, versteht ein ganzer Mensch zu sein.

*   *   *

Der Franzose ist in allen Augenblicken ein undurchdringlicher, ein naiver Egoist. Er ist überall in allen Lagen und Schicksalsversuchungen nur er selbst; ein unzerstörbares, quecksilbernes Subjekt, das in jedem Atomchen noch ein politischer, ein sozialistischer Wetterhahn und Krähhahn verbleibt. Man kann Quecksilber, Narren und Franzosen im Mörser zerstoßen, und sie bleiben, was sie sind. Ein Franzose ist eine fix und fertig abgerundete, auf den momentanen Witz gestellte Individualität; er bleibt mit Menschen und Dingen so arrangiert, daß er sie nur für das nimmt, was er in jedem Augenblick von ihnen braucht und sieht. Was darüber hinausgeht, das schneidet er wie einen überflüssigen Klunker, wie eine Überwucherung fort. Was einem in Aktion begriffenen Franzosen unter die Hände fällt, wird vollkommen harmlos mit gewissenloser Naivetät so beschnitten, frisiert, gestutzt und frikassiert, wie er's braucht.

Personen und natürliche Verhältnisse werden dabei ganz so mechanisch wie tote Dinge und Fabrikate traktiert. So oft der Franzose in fremden Landen wirtschaften durfte, hat er bereits in den ersten Tagen, Wochen und Monaten jede Stadt und jeden Staat bis inklusive der Universitäten nach französischen Schablonen zugeschnitten. Nur die Unmöglichkeit, dem lebenden Menschen den Leib aufzuschneiden und das Eingeweide umzufleien, Umzuordnen. hat der französischen Naivetät, Mechanik und Geschäftigkeit eine natürliche Grenze gesetzt. Was sich irgend an Menschen und Geschichten, am Leibe, an der Seele, an der Religion und Sitte, an allen Heiligtümern der Natur und Übernatur entstellen, korrumpieren und profanieren läßt, das haben Franzosen verfratzt, verfälscht, säkularisiert und prostituiert. Die französischen Weiber malen sich in der neuesten Zeit Augenbrauen, Augenlider, Augenwinkel (damit mandelförmig chinesische Augen herauskommen) und das ganze Gesicht. Das junge Weib und die Braut des Arbeiters, die Landfrau in der Nähe von Paris und der großen Provinzialstädte verkauft ihr Haar nicht nur, um mit dem Erlös den ersten Grund zu einem kleinen Betriebskapital zu legen, sondern um einen großen Spiegel, einen Fauteuil, ein Prunkkleid anzuschaffen, oder was sonst der Luxus befiehlt, der heute bis zu den Einrichtungen der Chiffonniers Lumpensammler. gedrungen ist.

Da der gebildete Franzose an seinem Körper, seiner Seele, an der Sitte und dem Glauben seiner Väter selten ein Heiligtum bekennt, so versteht sich von selbst, daß er mit der Welt und Naturgeschichte, daß er mit seinen Empfindungen und Gefühlen nicht so verwickelt sein kann wie der Deutsche, bei welchem Seele und Verstand, Wissen und Gewissen, Witz und Leidenschaft in nie rastender Wechselwirkung begriffen sind. Der Deutsche ist so, weil er allen Dingen auf den Grund geht, in allen den göttlichen Zusammenhang und ein übernatürliches Mysterium bekennt, »weil er die Natur im Geiste und den Geist in der Natur bewegt«, weil er den Herzpunkt zu einer Weltperipherie ausdehnt und alle Lebenskreise zu einem Herzpunkt konzentriert, weil er ein historischer, ein weltbürgerlicher, ein kosmischer Mensch, weil er ein Bürger zweier Welten ist.

*   *   *

»Der französische Geist denkt nur angesichts des Publikums, er ist niemals allein und frei vor dem Objekt seines Nachdenkens. Das Publikum ist beständig anwesend, rät ihm, inspiriert ihn, modifiziert die Entwicklung oder den Ausdruck feines Gedankens. Er sieht stets die Wahrheit nur durch das Prisma der öffentlichen Meinung. Wir Franzosen sind Leute der Disziplin im Denken wie in der Schlacht. Unsere Denker wie unsere Soldaten begeistern sich unter dem Applaus der Menge. Der helle Tag der öffentlichen Meinung ist die wahre Studierstube unserer Philosophen, selbst wenn sie tun, als schlössen sie sich in ihre Mauern ein, um nachzudenken. Der französische Geist hat das mot d'ordre Französisch: Losung. im Munde, in den Tagen revolutionärer Trunkenheit wie in denen der konservativen Narrheit. Er gibt die Parole nicht, er empfängt sie. Die Cartesius sind sehr selten, die Spinoza unmöglich. Viele Schriftsteller und wenig Denker, bewundernswerte Klarheit, mäßige Originalität der Bücher.«

(Positivs Metaphysik von Vacherot Der französische Gelehrte und Politiker Etienne Vacherot (1809–97) wurde 1837 Studiendirektor der Normalschule in Paris. Der genaue Titel des von Goltz zitierten Werkes lautet »La metaphyisique et la science«; es erschien 1858 in zwei Bänden. – ehemaligem Direktor der Pariser Normal-Schule.)

Ein Sozialismus ohne die Grundlagen der Geschichte und Religion, hervorgegangen aus den abstrakten Begriffen der Schulvernünftigkeit, muß eine Monstrosität bleiben; eine solche haben die Franzosen seit der Revolution von 1789 verschuldet. Dazu kommt noch, daß der Franzose eine lebhafte Sinnlichkeit, eine oberflächliche Bonhomie und Artigkeit, aber gleichwohl keine tiefe Naturempfindung, keine Herzensenergieen, keine dauernden Herzenssympathieen, keine tiefere Herzensbildung, keine Seelengeschichte – daß er also kein Gemütsleben im deutschen Sinne besitzt.

Die nächste Folge von dieser Widernatürlichst muß die Seelenlosigkeit seines Verstandes sein. Der Franzose ist ein tüchtiger Chemiker, Mathematiker, Anatom und Chirurg; aber er überträgt eben deshalb seine analytische Virtuosität auf die sittliche Lebensordnung; er ist in der Moral, in der Pädagogik, in der Politik und Philosophie, selbst in der Ästhetik, Religion und Poesie ebenfalls ein Mechaniker, Mosaikarbeiter und Schablonenfabrikant. Die neuerdings hervorgehobene Frömmigkeit des Landvolks erscheint ganz so gedankenlos, leer, zeremoniell wie in Italien und nur in wenigen Provinzen mit sehr bigotten und verpuppten Gefühlen getraut.

Der Grundirrtum des heutigen Frankreichs ist und bleibt der, daß man den Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Sitte, ja daß man Tugend, Religion, Poesie und Glückseligkeit ex adrupto fabrizieren könne, falls man nur das richtige Rezept zu jenen guten Dingen besitzt (stehe z. B. Montholonsche Tugendpreise Der Verfasser meint den Monthyonschen prix de vertue, gestiftet 1782 von Jean Baptiste Baron de Monthyon (1733–1820), dem Begründer einer großen Zahl von Wohltätigkeitsanstalten in Paris. ec.). Selbst der französische Philosoph weiß nicht, daß die Ideen von der Geschichte ganz so rektifiziert werden wie die Geschichte von den Ideen, daß erst in diesen gedoppelten Prozessen von Theorie und Praxis, von Expansion und Konzentration, von individualisierender und generalisierender Bewegung, von Zentrifugal- und Zentripetalkraft die konkrete Weltvernunft und die naturgemäße Sozietät bestehen.

Der Franzose hat weder einen lebendigen Begriff von der Geschichte noch von der Religion, weil er die Seelengeschichte und die Gemütszustände desavouiert. Die französische Leichtfertigkeit lebt weder in poetischen Erinnerungen noch in solchen Antizipationen der Zukunft, die man Philosophie und Religion nennen darf. Der Franzose verspottet die deutsche Wehmut und Sehnsucht als Melancholie, als Mystik und Sentimentalität. Er lebt wie jeder flache Naturalist dem Augenblick, kennt also nur eine Augenblickspraxis, eine Verstandesphilosophie, welche die Probleme von Geschichte und Religion abzulösen versucht und an den natürlichen Dingen die Seele wie den Konnex und Kontakt mit der sittlichen Welt ignoriert. Da nun aber die Gegenwart eine Neutralisation von Vergangenheit und Zukunft ist, da in den Augenblicken die verhüllte Gottheit und die enthüllte Geschichte gefaßt werden müssen, so liegt die Unfähigkeit des Franzosen auch für die tiefere Beurteilung der Gegenwart am Tage. Ihm gebricht nicht nur der Verstand und die Pietät für die Geschichte, das tiefere Organ für die Religion, sondern es fehlt ihm eben deswegen auch an dem tiefern Verständnis der Natur. Franzosen kann man nicht ohne eine Anwandlung von Ironie, ohne komische und doch herzbeklemmende Gefühle von romantischen Naturszenen okkupiert sehen.

Die französische Landschafterei wird durch verhältnismäßig wenige Künstler vom ersten Range repräsentiert. Die französische Gartenkunst ist so Verschnitten ungeheuerlich und forciert wie die romantische Poesie von Eugen Sue. Vgl. S. 213, Anm. 2

Wenn man den Franzosen ein inspiriertes Verständnis der Natur zugestehen soll, so muß man die Engländer, die Deutschen, die Irländer und die Polen für Indianer und diese für Affen ansehen.

Wenn es aber einem Volke an divinatorischem Instinkt, an einem Herzen für Natur, für Religion und Geschichte gebricht, dann darf man kein Prophete sein, um zu wissen, was aus seinen politischen, kirchlichen und sozialen Experimenten herauskommen wird.

In einem Staate, der aus lauter komplizierten Formen, Gesetzen, Gewohnheiten, Rechten, Konvenienzen und künstlichen Lebensarten, aus einem Rattenkönig von Kämpfen des Geistes und der Geschichte mit der Natur besteht, in einem solchen Staat ist die Idee einer absolut freien Arbeit, mit dem Appendix von freiem Handel, Wandel und Worte, von freiem Glauben, Heiraten, Assoziieren ec. ein barer Unsinn; gleichwohl ist dieser Unsinn das Lieblingsthema Proudhons, Vgl. S. 258, Anm. 3. des Propheten der französischen Sozialphilosophie.

In dem Organ für Geschichte, für Religion und Natur besteht aber eben die tiefgreifende Verwandtschaft der Engländer mit den Deutschen, besteht dieses Brudervolkes Bedeutung, Würde und Mission.

Poesie ist vor allen Dingen eine Geschichte, d. h. eine unmittelbar angeschaute und im Herzen empfundene Genesis, ein Sonderleben in der Fülle und Mitleidenschaft des allgemeinen Lebens und getragen von ihm, – eine Welt in der Welt.

Wo der deutsche Mensch auf keinem historischen Untergrunde weiterbauen, wo er keine Zukunft vorbereiten kann, da gibt es für ihn keine erfüllte konkrete Gegenwart, kein Gemütsleben und keine Poesie. Umgekehrt ist dem Franzosen nicht leichter und lustiger zumute, als wenn er seine Sozietät von Natur und Geschichte, von der Religion abgelöst und von einer modernsten Kulturschablone, einer Mathematik und Mechanik abhängig gemacht weiß.

*   *   *

Die Geschmacklosigkeit der Franzosen besteht aber nicht nur im Zentralisieren, im Mechanisieren und Schematisieren des Verstandes, z. B. der Sprache, sondern der Empfindungen und Gefühle, z. B. in dem falschen Klassizismus, im Schematismus, der nicht nur auf den Staat und auf das gesellschaftliche Leben, sondern auf die Poesie und die Künste angewendet wird. Die französische Geschmacklosigkeit geht also aus dem seelenlosen und mathematisch-mechanischen Verstande des Franzosen hervor – der Franzose verhält sich zu keinem Dinge pathologisch wie der Deutsche. Die Geschmacklosigkeit des Deutschen ist umgekehrt das Produkt seines intensiven Seelenlebens, seines Gemüts, seiner Phantasie, seiner entwickelten Persönlichkeit, seiner Fähigkeit, für sich selbst eine Welt zu bedeuten, die ihn zum Individualismus und Partikularismus treibt. Da nun der deutsche Partikularismus und die in ihm wurzelnde Geschmacklosigkeit ein Gegengewicht braucht, so darf man sich nicht wundern, wo die deutsche Förmlichkeit und die in ihr begründete Pedanterie, d. h. das andere Extrem der Abgeschmacktheit, herkommt, dessen Sublimierung sich wieder im geleckten Stil und seinen Konvenienzen darlegt. Was aber der Franzose in der Geschmacklosigkeit zu leisten vermag, davon gibt uns Riehl Der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 97). in seiner vortrefflichen Schrift »Musikalische Charakterköpfe« die nachstehende ergötzliche Notiz: »In einer ›Symphonie phantastique‹ will uns Berlioz das Leben eines Künstlers durch bloße Orchestermusik zeichnen. Beim vierten Satz (› Marche au supplice‹) Französisch: Gang zur Hinrichtung. soll sich Hörer laut Vorschrift des Programms folgendes denken: Der Künstler wird inne, daß seine Liebe unverstanden geblieben, er vergiftet sich mit Opium. Die Dosis ist aber zu schwach; statt ihn zu töten, versenkt sie ihn in einen Schlaf, den die schrecklichsten Träume begleiten. Er träumt, daß er seine Geliebte getötet habe, daß er verurteilt und daß er zum Schafott geführt werde, und – daß er seiner eignen Hinrichtung beiwohne.«

*   *   *

Die Schablone, das Zeremoniell, die Zentralisation und die ephemere Diktatur müssen den Leichtsinn, die sinnliche Flüssigkeit, die Liederlichkeit und Konfusion des Franzosen in Schranken halten, während der grübelnde Partikularismus des Deutschen, welcher den Gemeinsinn, die Gesellschaft, den Staat und die Kirche zu zerstückeln droht, ebenfalls einer rigorosen Norm und einer generalisierenden Methode bedarf. Die deutschen Pedanten, d. h. die Formtyrannen und Schablonenleute sind zugleich Kleinigkeits- und Subtilitätenkrämer, Haarspalter, schwierige Charaktere, mit denen man nicht vom Fleck kommt, weil sie an jedem Haken noch ein Häkchen auffinden, nichts glatt zu streichen oder im großen Stil mit einem mutigen Rhythmus zu behandeln verstehen. Die französische Pedanterie pflegt dagegen nicht selten mit einer Leichtfertigkeit, Abstraktion und Phantasterei assoziiert zu sein, die sich kopfüber in die gewagtesten Geschäfte und Geldspekulationen, in die absurdesten Neuerungen stürzt.

Der Deutsche kennt die Gegengewichte für seine separatistische Lebensart; sie bestehen eben im Zeremoniell, im Rechtsschematismus, in der Verwaltungsmaschinerie, in der Heiligung der Form. Die Träger dieser Formenreligion, die Tyrannen der Form, die Schablonenfabrikanten, die stillen Enthusiasten des Zeremoniells, der Methode, der Lebensgrammatik und Mathematik – die Deutsch-Chinesen –, sie machen die deutschen Pedanten aus, die man in anderer Gestalt und mit andern Akzenten unter solchen Franzosen antrifft, welche ebenfalls begriffen haben, daß die Sinnlichkeit und Frivolität ein Gegengewicht bedarf.

Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« gibt Illustrationen genug zu dem stupiden Mechanismus in der russischen Bildung und Konvenienz.

Die Engländer leisten auch etwas in der Pedanterie und Förmlichkeit, aber im Untergründe ist gleichwohl ein Idealismus, der sich durch den Humor verrät.

Die Wurzeln des englischen Formalismus sind individuelles Leben, Originalität, geistige Schämigkeit, starkes Selbstbewußtsein und Stolz. Der Russe dagegen hat vielleicht am wenigsten Charakter und Originalität von allen Rassen. Sein Formalismus, sein Schematismus zeigt den naivsten Ausdruck der abscheulichsten Materialität. Der russische Materialismus und Mechanismus ist sein eigner Grund und Zweck, also kein Symptom, wie bei Engländern, Deutschen und Franzosen. Man trifft in der Wurzel auf keinen Geist. Der Franzose hat auch nicht sonderlich viel Seele, aber akute Bonhomie, Esprit und wissenschaftlichen Verstand. Der Italiener besitzt Natürlichkeit und Instinkt. Am Russen begreift man dagegen sehr schwer, daß er die Rolle des unsterblichen oder nur des zivilisierten Menschen noch so täuschend zu spielen versteht.

Der Pole allein haßt vermöge seines intensiven Naturalismus konsequent jeden Schematismus, jede Grammatik und Norm; er zeigt sich von der deutschen Pedanterie nicht nur angewidert, sondern indigniert.

Der Deutsche allein ist Pedant, Sklave der Form, und dann wieder nach dem Gesetz der Reaktion formloser Schwärmer und Enthusiast; er ist Idealist und Materialist, Romantiker und Dogmatiker, Kritiker und Phantast, Träumer und Mechaniker, Theosoph und Atheist in einem Atem und in derselben Situation. Er versteht eventuell ein Narr mit Methode und, wenn er ästhetisches Malheur haben soll, ein Ideal von Abgeschmacktheiten zu sein.

Der Franzose leistet aber unbestritten in diesem kulturhistorischen Genre, durch welches das ganze Menschengeschlecht gekennzeichnet wird, das nec plus ultra in jeder Epoche und bei aller Gelegenheit. Er versteht nicht nur ein Narr mit Methode, ein Winkelnarr wie der Deutsche zu sein, sondern er ist ein Narr mit Courtoisie, mit Lüstre, mit Vergnügen, mit Weltspektakel, mit genialer Virtuosität. Der Deutsche versteht nur ein trister, trockner Narr für Haus und Schule, für seine guten Freunde in solidum zu sein; der Franzose aber ist ein öffentlicher, ein mit Brillantfacetten geschliffner Allerweltsnarr und Hanshasenfuß. Er macht Propaganda und Moden mit seiner Narrheit und Absurdität; er steckt mit diesen ergötzlichen Fakultäten nicht nur die zivilisierte, sondern auch die halbbarbarische Welt, z. B. Russen, Türken und Araber, also die halbe Weltgeschichte an. Er zieht nicht nur die Künste, die Wissenschaften oder die Romantik, sondern auch die Diplomatie, die europäische Politik, die Religion, die Sitten, den hausbacknen Philisterverstand, das Geldgeschäft, das bürgerliche Gewerbe, die Nationalökonomie, ja selbst die Religion in seinen närrischen Bereich, indem er z.B. durch Herrn Proudhon abwechselnd den Glauben an Gott auf Nationalökonomie und diese hinwiederum auf den Gottesglauben begründet oder irgend einen renommierten, modernen und sozialen Hanswursten apokalyptisch werden und »Worte eines Gläubigen« für die Schnellgläubigen schreiben läßt.

Die närrische Methode des Deutschen hängt doch bei ihm mit einem Glauben, Lieben und Heiligen, mit einer Leidenschaft, mit seinem ganzen Gemüte zusammen, während die Franzosen und Französinnen mit nüchternem Mute, mit blasiertem Herzen, mit eiskaltem Verstande, mit schematisierten Gefühlen zu schwärmen, Gott ein- und abzusetzen, das Rad der Weltgeschichte zu bremsen, dem Genius der Weltgeschichte eine Perücke, eine Freiheitsmütze aufzusetzen und aus Zeitvertreib in den Tod zu gehen verstehen. Jener Berliner Schusterjunge, der auf einen Stuhl gestiegen war, weil er sich in die Stirne beißen wollte, ist eben nur ein Lehrling der großen Nation, die sich den eignen Kopf abreißt, indem sie ihrem besten Könige den Kopf abschlägt und sich schon zum zweitenmal einen korsischen Kopf Napoleon III. aufsetzt, um mit demselben politische Kopfskegel zu schießen. Und siehe da: Was kein Verstand der Bundesverständigen sieht, das übet in Einfalt ein korsisch Gemüt. Der korsische Kopf schiebt alle neune! Geschwindigkeit und Dreistigkeit ist eine Hexerei für die Deutschen, aber nicht für die Franzosen mit dem korsischen Kopf. Letztlich aber kommt es doch für diesen Hexenkopf drauf an, daß er die Klippe Helena umschifft. – Kluger Neffe, denk' an das Ende des klugen Onkels!

Die deutsche Ungrazie und Tölpelei als Produkt der deutschen Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit.

»Der Deutsche ist wegen seiner Tiefe und Religiosität vor allen der, welcher die schwere Not des Lebens fühlt; das macht ihn schwerfällig, häklig, ungraziös, zauderlich, spröde, widerhaarig und rauh; das macht ihn auch bescheiden bis zur Blödigkeit; es hat ihn sogar kriechend und niederträchtig gemacht. Der Deutsche kennt weder den Leichtsinn noch die Wohltat und Liebenswürdigkeit des leichten Sinnes; der Deutsche ist seiner innersten Natur nach verständig, wirkend, beharrlich, er ist »endelich« – dieses herrliche Wort drückt gleichsam die lange, lange Linie des bescheidenen, bedenklichen Menschen aus. – »Endelich« heißt der Mensch, der bei jedem Beginnen auch das Ende der Sache bedenkt. – Der Deutsche ist der tiefgrabende, tiefschauende und hochschauende Mensch. Aber wir Deutsche haben in unsrer Mitte und Menge auch die köstlichsten Tröpfe, Dummköpfe und Wirrköpfe von der Welt.

»Wir sind wie ein wimmelndes und krimmelndes, wie ein immer umherkriechendes, umkreisendes, fegendes, fragendes, schleppendes Wurmvolk, gleich Bienen und Ameisen. Deutsche Gefühle, Gedanken und Strebungen schwirren, wirren und kriechen im umkreisenden, unklaren Gedränge gewiß viel mehr und viel länger durcheinander, als dies bei dem hellen Spanier und Italiener, bei dem besonnenen und nüchternen Franzosen jemals der Fall sein wird. Bei solchem Gewirr und Geschwirr bleibt endlich vieles als ein unauflöslicher dicker Knäuel und Klumpen liegen; daher kommen die köstlichen, konfusen Tröpfe, die Träumer und Grübler (die Sonderlinge) mit ihren Herzbeschwerden und Grillen, ihrer Kopfhängerei und Duckmäuserei, was sich bis in die Sprache hineinbringt.«

( Arndt.)

Die Wahrhaftigkeit und Solidität, welche Carlyle dem unsterblichen Könige von Preußen, Friedrich II., als Charaktereigenschaft zuerkennt, darf der Deutsche noch heute dem deutschen Menschen als ein Kriterion zusprechen, wenn er ihn mit andern Völkern vergleicht. Der Deutsche war und ist nur zu oft ein ungeschlachter und unflätiger Mensch, ein von allen Grazien verlassener Tölpel, ein Träumer und Einfaltspinsel, ein Idealist und Märchenmensch, der sich leicht düpieren, der sich halb mit Wissen und Willen Phantasiestücke aufheften läßt oder für den eignen Gebrauch fabriziert; aber dieser leichtgläubige, alles überdichtende und ergrübelnde Deutsche ist desto seltener ein zweideutiger Charakter. Er ist ein Selbsttäuscher, aber wissentlich kein Scharlatan, kein Täuscher und Geisterseher für andre und zu einem materiellen Zweck. Der Deutsche liebt die Illusion, aber er bleibt nicht im Idealismus befangen, sondern geht dem Scheine auf den Grund; er hat mehr Tatsachen in allen Weltreichen registriert und glücklich zur Rede gestellt als alle andern Völker insgesamt. Wenn die Versöhnung von Idealismus und Realismus, wenn die Wahrhaftigkeit, die ehrliche Intention irgend ein Volk charakterisiert, so sind wir dieses Volk.

Aus dem Grundzuge des deutschen Menschen, an seiner oft bis zur Karikatur getriebenen Wahrheitsliebe mögen wir den Stempel seiner sittlichen Überlegenheit über die romanische, überall zur Vorstellung und Ostentation geneigte Rasse und den Beweis entnehmen, daß der Deutsche zur Weltherrschaft berufen ist, die er im Geiste bereits ausübt, da es wesentlich deutsche Wissenschaft, deutsche Kunst und deutsche Sitte ist, welche der zivilisierten Welt die Gestalt und die Gesetze gegeben hat, in denen sie weset und besteht. Die deutsche, sich forterbende Wahrhaftigkeit und Biederkeit ist es, die unsere Ungrazie, unser ungeschlachtes Wesen, unsern Zynismus, unsern Mangel an äußerlicher Wohlanständigkeit und Repräsentation verschuldet, während die weltberühmte Politesse der Franzosen aus ihrer unsäglichen Eitelkeit, Oberflächlichkeit und Ostentation, aus ihrer naiven Lügenhaftigkeit hervorgeht. Noch weniger dürfen wir beklagen, daß uns die Grazien nicht zu wiegen pflegen, wie sie es den Italienern, Spaniern und Polen tun, denn die Grazien gestatten nimmermehr den Bruch zwischen Natur und Geist, aus welchem die Kulturgeschichte des deutschen Volkes hervortreibt und den Naturalismus besiegt.

Die Kosakengrazie, die ästhetischen Talente der Polen erklären sich aus ihrem frei entwickelten Naturalismus. Weil aber der Deutsche, der Engländer mit ihrer Kultur Ernst gemacht haben, weil sie sich das Leben, die Wissenschaften und Künste sauer werden lassen, weil sie Schule und Sitte heilig halten, weil sie einer für Recht und Gesetz begeisterten Rasse angehören, weil der geistige Faktor in ihnen über die Natur herrschen darf, darum sind sie keinesweges von den Grazien gewiegt. Welcher Mensch das Verhängnisvolle des Erdenseins, das Ineinander von Tod und Leben, die Zweideutigkeit der besten Tugenden und die Eitelkeit aller Erdengüter begreift, den müssen die Grazien fliehen. Die alten Griechen waren so geschmackvoll, hatten so viel Formensinn und Schönheitsgefühl, weil sie so wenig intensives Seelenleben, weil sie keine transzendente Seele besaßen, weil sie keine Herzensbildung, keine Gemütsbewegung im christlichen Sinn kannten. Bei den Griechen gab es dem Staate gegenüber kein individuelles Recht, keine persönliche Ehre, kein Naturrecht, kein unantastbares Privatrecht. Staat und Kirche waren verschmolzen, selbst das Familienleben ging im Staatsleben auf. Die Griechen besaßen eine intellektuelle, aber keine seelische Individualität; sie kannten also auch nicht die innern Kämpfe und die ästhetischen Einbußen, welche mit dem entwickelten Gemütsleben verbunden sind. Die Griechen hatten Phantasie, Geist und lebhafte Sinnlichkeit, sie hatten sinnliche Leidenschaften, – da aber das Seelenleben, das Gemüt, sich nicht als eine selbständige Macht hervorbildete, so wurde die natürliche Harmonie von Sinnlichkeit und Geist nicht gestört. Aus dieser Harmonie ging das sinnliche Gemeingefühl, der Idealsinn, der Geschmack, das Gefühl für schöne Form hervor. Der Deutsche aber kann es nur schwer zu dieser Harmonie der Kräfte bringen, weil sich bei ihm das Seelenleben ganz so zu einer selbständigen und transzendenten Macht herausgebildet hat wie die Sinnlichkeit und der Verstand; und weil dann wieder diese emanzipierten seelischen Fakultäten durch einen rigoristischen Schematismus kontrebalanciert werden müssen, der sich gleichfalls nicht mit den Grazien trauen läßt.

Der Deutsche wird in Amerika nicht nur wegen seiner Demütigkeit und Weichmütigkeit, wegen seines Mangels an Nationalgefühl und männlicher Entschiedenheit, sondern auch wegen seines Mangels an äußerlichem Anstande, an gebildeten Formen, wegen seiner schlichten Art und schlechten Kleidung verachtet und verhöhnt. Die amerikanische Demokratie, heißt es, hat den Unterschied der Stände, also auch der Bildungsstufen aufgehoben; und weil jeder freie Mann in Amerika fühlt, daß er allen andern ebenbürtig ist (womöglich Präsident der Vereinigten Staaten werden darf), so hat er auch den Mut und die Ambition, sich äußerlich so gekleidet und gebildet darzustellen, daß er wenigstens nicht augenscheinlich von den distinguierten und wohlhabenden Klassen absticht und die demokratische Uniformität verletzt. In dem Aufzuge des Deutschen, in seinen bäuerischen Manieren, seiner platten Sprache sieht der Amerikaner eine Ehrlosigkeit, eine Verzichtleistung auf das höchste Gut, auf Gleichheit und Freiheit, die kein anständiger und freigeborner Mensch dadurch aufgeben darf, daß er wie ein Paria erscheint, solange er noch einen Blutstropfen im Leibe und ein Paar Fäuste zur Arbeit und zum Freiheitskampfe am Leibe hat.

Wenn der Amerikaner so spricht, so mag ihm das nachgesehen sein, weil es zu seiner dünkelhaften Natur und zu seinem demokratischen Glaubensbekenntnis gehört; den deutschen Adepten dieser transatlantischen Philosophie muß aber dies insinuiert werden:

Der Amerikaner nimmt nicht nur aus Freiheits-, Ehr- und Schicklichkeitsgefühl oder gar aus einer Schamhaftigkeit, die den Nebenmenschen durch Roheit und Häßlichkeit zu verletzen befürchtet, sondern deshalb noble Fassons an, weil er zu hohl und seelenlos, zu geistesarm ist, um eine eigne, volkstümliche Lebensart und Sitte von innen heraus zu gestalten, wie es der deutsche Bauer- und Handwerkerstand vermocht hat. Auch in Italien, in Frankreich und Polen finden wir in dem Volk der Städte und namentlich bei den Frauen die Ambition, in Kleidung, Aussprache und Manieren es den Gebildeten gleichzutun, ohne daß diese Tatsache einen anderen Grund hätte als den Mangel einer Wahrheitsliebe, einer persönlichen Demut, Innerlichkeit und Originalität. Der Amerikaner ist es eben, der, getrieben von seiner Ostentation und angebornen Unverschämtheit, von seinem Hochmut und Profansinn, eine Staatsverfassung und eine soziale Kultur fabriziert hat, die nunmehr so nivellierend auf die Massen zurückwirkt, daß die Individuen mit Uniformseelen, mit einem schematisierten Herzen, mit Uniformphysiognomieen zur Welt kommen. Die Seele des Amerikaners geht so ganz in der Nationalseele, in dem Nationalverstande und in der Nationalindustrie auf, daß sich freilich eine politisch machtvolle Nation, ein äußerlich anständig gekleideter und gearteter Bürgerstand darstellt, aber von eigentlichen Personen, von innerlichen und vertieften Menschen im deutschen Sinne nicht die Rede sein kann.

Eine deutsche Person hat aber die Bedeutung und Qualität, daß sie nicht nur die Menschheit, sondern auch ein Individuum darstellt, an welchem man das Genus und zugleich die originelle Inkarnation und Ausprägung desselben in jedem Exemplar studieren kann; während der Amerikaner nur seine Rasse und, trotz der adoptierten nobeln Form, nur die brutalen, profanen, abgeflachten Seiten dieser Rasse und ihren Geldverstand repräsentiert. Dieser transatlantische Verstand ist es, der in den heiligsten und geistigsten Dingen zuerst und zuletzt den baren Kostenpunkt und den baren Profit ins Augenmerk faßt, also trotz aller politischen Freiheit einer materiellen Sklaverei verfallen ist, mit welcher verglichen die selbstbewußte, freiwillige und vernünftige Unterwerfung unter Autoritäten, Polizeigesetze und historische Lebensordnungen eine Götterfreiheit genannt werden darf.

Dem armseligen deutschen Handwerker und Tagelöhner darf nicht nachgesagt werden, daher dem deutschen Volke durch seine ratlose, linkische und gedrückte Erscheinung Schande macht, denn in dieser seiner Art zeigt sich für jeden Menschen, der einen sittlichen Sinn hat und kein Amerikaner ist, die natürliche Schämigkeit und Bescheidenheit, die religiöse Demut und die innere Würde des deutschen Geistes, der die Kraft und den Stolz besitzt, sich seine eigne Sprache und Sitte herauszubilden. In dieser ersten Unanstelligkeit, in dieser melancholischen Passivität und Unterwerfung der deutschen Einwanderer bekundet sich das deutsche Gewissen, welches fühlt, daß es durch Ernst, Ergebung und Resignation eine Sünde abzubüßen hat, die Sünde, das teure Vaterland verlassen zu haben. Der Mensch aus dem Volke kann nicht a priori konstruieren, was die Fremde ist, und wie sie auf die Seele wirkt. Daß sie den Deutschen in der ersten Zeit so niederwirft, so linkisch macht, so verstummt und verdummt: dies ist ein erhebendes Zeugnis der deutschen Gemütstiefe, der deutschen Natur und Religion ebensosehr, als es eine Schamlosigkeit dokumentiert, wie dieselbe Literatur, welche diese deutschen Auswanderungsmysterien durch Verherrlichung der amerikanischen Zustände direkt und indirekt verschuldet, sie noch obendrein brandmarken hilft, indem sie dem Spott einer brutalen Rasse beipflichtet, die allein durch die Deutschen zur Humanität erzogen werden kann. Unsern deutschen nationalen Gebrechen liegen rein menschliche Fakultäten, liegt eine Gemütstiefe, eine Wahrheitsliebe, Herzensdelikatesse zum Grunde, während die Tugenden der Nordamerikaner aus dem Materialismus, aus dem kahlsten Rationalismus, dem herzlosesten Egoismus hervorgehen, aus einer konglomerierenden Kraft und einem Sozialismus, die man an Bienen, Ameisen und Präriehunden studieren kann.

Ein paar Worte vom deutschen Verstande.

»Ich muß nach meiner Erfahrung wirklich behaupten, daß der Deutsche, als ein dem Urvolke oder Weltvolke gleichsam noch näher stehender Mensch, in seinem Volke weit mehr Stufen habe als andere Völker, welche durch eine lange Reihe von Verwandlungen mehr durcheinander gemischt und geschüttelt sind, bei welchen alle klugen und schlauen Triebe mehr durchgesichtet und von Geist durchdrungen sind, ohne daß wir sie deswegen im ganzen als geistreich anerkennen wollen. Vieles in dem Leichten und Geschwinden des Spaniers, Franzosen und Polen ist auch flatternder Wind und dünner Schein, kommt uns Deutschen bei unserer größeren Langsamkeit daher meistens gescheiter vor, als es ist.«

( Arndt.)

Wenn in Deutschland jemand etwas ins Werk richten will (bemerkt ein Reisender in Amerika), so fragt er zuerst: »Wie wird das gemacht?« – es bestimmt ihn Sitte, Herkommen, Tradition; der Amerikaner überlegt dagegen: »Wie kann das am besten gemacht werden?« Beide haben recht: neue Verhältnisse, Kolonieen erziehen den Selbstgebrauch des Verstandes; ein historisches Land fordert Sitte und macht die Gewohnheit zur ersten Macht. Amerika bildet Autodidakten, Männer, Charaktere, aber auch Monstrositäten. In einem Lande von alter Kultur wäre es lächerlich, bei jeder Gelegenheit eine Erfindung und ein Gewerbe von vorne erfinden zu wollen; es gilt dort Erziehung des Gemüts und des Geschmacks, was nur bei einer gewissen Passivität und Pietät gegen die Konvenienz und Tradition zustande kommen kann.

Der Franzose fragt nicht nach dem Wesen der Dinge und ihrer notwendigen Wirkung, wie dies die deutsche Art ist, sondern er faßt Menschen und Sachen nach ihrem Schein, nach ihrer augenblicklichen und nächsten Wirkung auf, denn so macht es der sinnliche Verstand. Ihm ist wenig oder gar nichts an der Ergründung der Erscheinungen, an ihrer Geschichte und Genesis gelegen, aber desto mehr an der Art, wie sie in die Sinne fallen, und was sich mit ihnen machen, was sich von ihnen augenblicklich profitieren oder befürchten läßt.

Der Franzose wie jeder Praktikus greift alles aus der Mitte, oder er wird Schematiker, wo er synthetisch und philosophisch zu Werke gehen soll. Der Deutsche allein ist systematisch, ohne die Rechte des Herzens zu verkennen, er individualisiert und generalisiert bei einer und derselben Gelegenheit, d.h. er bildet Theorie und Praxis in eins.

Der beste, universellste Verstand nützt nichts ohne Charakterenergie, Seelenstärke und Nüchternheit, und dann wieder hilft diese Nüchternheit und Berechnung nichts ohne Begeisterung und ohne eine Vernunft, von welcher die Weltökonomie gefaßt wird. Die Praktikanten behaupten, es gäbe nur einen Augenblicksverstand, und die Ideologen statuieren nur einen allgemeinen Verstand; die Wahrheit aber bleibt eine individualisierende wie generalisierende Erkenntnis und Tätigkeit, eine Passivität und Aktivität, eine Rücksicht und Rücksichtslosigkeit, ein Machen und Wachsenlassen zugleich.

Der deutsche Verstand wird allzusehr durch Träumerei und Sentimentalität, durch Ideen, Stimmungen und Metamorphosen, durch Rücksichten, durch das Bestreben nach universeller Tätigkeit und Erkenntnis inhibiert; wie aber die durch Einseitigkeit, durch eiserne Charakterkonsequenz und Nüchternheit errungenen Erfolge von der Weltgeschichte und dem Lebensgesetz aufgerollt werden, zeigt das Leben Napoleons. Nur der Charakter erringt Erfolge, nur die Rücksichtslosigkeit gibt Kraft, nur die Einseitigkeit bohrt ein Loch in das materielle Hindernis, nur die Beschränktheit ist in gewissen Augenblicken eine effektive Klugheit, und das Wagnis führt zum Glück; zuletzt aber erwachsen aus solchen Einseitigkeiten und schematischen Konsequenzen die schlimmsten Reaktionen. Das Organ, der Mikrokosmus, die Person, welche zu viel Lebenskraft an sich gezogen haben, leiden Entzündung, können sich als Gravitationspunkt, als Kopf und Herz der Welt nicht behaupten: es entsteht Stockung, Konfusion, Eiterung und Desorganisation. Die Erfolge, die raschen und handgreiflichen Effekte aller dreisten Theoretiker wie Praktikanten blenden die Welt; aber diese durch Rücksichtslosigkeit, Einseitigkeit, Mechanismus und Plötzlichkeit gewonnenen Errungenschaften sind es eben, von welchen die Ökonomie der Natur und Geschichte perhorresziert, in ihren allmählichen tausendfältigen Vermittlungsprozessen gestört und so in ihrem naturgemäßen Fortschritt immer wieder um Jahrhunderte zurückgeworfen wird. Gehören nun diese Retardationen mit zur Lebensökonomie, so ist es Räson, daß auch die Opposition als ein integrierendes Moment der Kulturgeschichte aufgefaßt wird.

Ein Wort vom ost- und westpreußischen Verstande.

Die Temperamentsverschiedenheit zwischen dem Norddeutschen und dem Franzosen ist sehr groß und der Grund von vielen Charakterverschiedenheiten der beiden Nationen. In Frankreich und schon am Rhein mußte ich beim Einheizen der eisernen Öfen, die mit zwei Schaufeln Kohlen und mit einem spektakulösen Getrommel bedient werden, an das Naturell der Franzosen denken: sie brauchen für ihren Enthusiasmus ein Minimum von Nahrung, kommen mit viel Lärm in Hitze und sind in dem Augenblick abgekühlt, wo ein Norddeutscher erst warm zu werden beginnt. Ein west- und ostpreußischer Bauer ist seinem Ziegelofen ähnlich: man heizt ihn mit einem halben Fuder Holz, aber dann hält er zur Not zwei Tage und zwei Nächte warm.

Es kommen Zeiten, in denen auch eine nüchterne Rasse für eine Wahrheit so reif geworden ist, daß diese nur bei Namen gerufen werden darf, um Tagesverstand, Wirklichkeit und Tagesimpuls zu sein. Im allgemeinen aber kommt man den Leuten des Volkes mit Ideen nicht auf direktem Wege bei, am wenigsten mit Redekünsten und abstrakter Explikation, und nie verfangen beim Nordländer Redensarten, die mit großer Schwunghaftigkeit, mit Emphase und Pathos ausgesprochen werden. In Ost- und Westpreußen hört der Mann des Durchschnitts dergleichen Deklamationen und Überschwenglichkeiten ruhig zu Ende; am Schlusse aber faßt er seine Kritik in ein Witzwort zusammen, das durch seine Drastik dem Enthusiasten die Lust am Deklamieren auf immer benehmen muß. Der gute Freund sagt z.B. dem Bruder Redner, der ohne Talent oder bei unrechter Gelegenheit geredet hat oder reden will, nüchtern ins Ohr: »Mensch, mach' dich doch nicht zum Narren!«

Ein nüchternster und undurchlassender Verstand bildet den Panzer und die Haut des nordischen Menschen; haben die neuen Wahrheiten und Ideen nicht die Kraft von Geschossen, so dringen sie nicht zum Eingeweide der Leute und am wenigsten durch den phlegmatisch-kritischen, langsamen, zähen Massenverstand. Was diesem nicht vermittelt wird durch Argumente, die wie Schrauben ziehen, durch eine Logik, die wie eine englische Feile in den eisernen Verstand einschneidet, das geht auch im Norden nicht ans Herz. Je tönender die Worte und Phrasen, je schwunghafter die Wendungen, je blütenreicher die Gefühle, je bildreicher die Gedanken sind, desto widerwärtiger und affektierter erscheinen sie dem nordischen Publiko. Nur wenig unumwundene, nüchtern ausgesprochene, von allem Beiwerk entkleidete, hart an die Sache gehende Worte, mit scharfen Verstandesakzenten und einschneidenden Beweisgründen, tun eine Wirkung auf den scharfkristallisierten, demantharten Verstand zumal des nordischen Gelehrten. Bei Kanzelreden verdirbt eine leiernde, näselnde oder eine deklamierende Stimme wieder den Effekt. Der Nordländer respektiert nur Wahrheit, Sachverhalt und logische Form; was im entferntesten an Phantasterei, Affektation, Machwerkigkeit und Sentimentalität erinnert oder auf Geistreichigkeiten ausgeht, wird hier mit Widerwillen als Unmacht und Geschmacklosigkeit zurückgewiesen. Der Ostpreuße ist nie der Mann, der sich wohlfeil zur Rede stellen und imponieren läßt, und am allerwenigsten durch Stilisation. Redekünste verfangen bei ihm nichts. Deklamation und Ostentation ekeln den nordischen Menschen in allen Klassen und auf allen Bildungsstufen an; gegen diese Regel kommen die Ausnahmen nicht auf, während bereits am Rhein das umgekehrte Verhältnis zur Geltung kommt, weil dort Sinnlichkeit und Einbildungskraft viel leichter den Verstand gefangen nehmen als bei uns.

Es ist von Bedeutung, daß man in Ost- und Westpreußen nicht »Väterchen« oder »Mütterchen«, sondern »Vaterchen« und »Mutterchen« sagt. Der Preuße haßt alles, was im entferntesten einer Schaustellung der Gefühle ähnlich sieht. Ihm erscheint das Zierliche in dem »ä« gleichwie jede Grazie und Nettigkeit, jeder spielende, naive Ausdruck der Empfindungen, also auch die tändelnde Zärtlichkeit in dem »Väterchen« oder »Mütterchen«, als Affektation und diese selbst als Grimasse und Lügenhaftigkeit. Die Vögelein, Blümelein, Kugelein sind hier gar nicht beliebt; es heißt hier Blümchen ec. Es gibt nicht viel Volksstämme, die intelligenter, geradsinniger, wahrhaftiger, kritischer und humoristischer, aber auch wenige, die schroffer, schärfer, rücksichtsloser und ungraziöser sind als der preußische Stamm. Der Verkehr des Westpreußen mit Juden und Polen (welche ebensowenig Brutalität zeigen als der Italiener oder Franzose und Spanier) hat gleichwohl beim gemeinen Mann nicht die zynische Brutalität vertrieben, in welchem Artikel auch der gemeine Engländer etwas zu leisten vermag. Aber die Zwiespältigkeit ihres sinnlichen und geistigen Menschen, der Dualismus von Gefühl und Verstand, die größere Schwierigkeit im Norden, die Forderungen einer harten Wirklichkeit mit dem Ideal zu versöhnen, und die Notwendigkeit, einen Mischmasch von Elementen und Nationalitäten ineinszubilden, erzeugt in Preußen wie in England den Volkshumor.

Der Norddeutsche, insbesondere der Preuße, ist der einzige Mensch der Welt, der Respekt vor Eigennamen hat, der jede fremde Sprache mit dem richtigen Akzent und Avec, mit metrischer Präzision zu sprechen vermag. Wo es ihm aber mit irgend einem Kunststück, z. B. mit polnischen Worten, in welchen drei und vier Konsonanten ohne Vokale ausgesprochen werden müssen, mißlingt, da ist er bemüht, die Schwierigkeit zu überwinden, und weiß ganz bestimmt um das Malheur; die Westpreußen aber sprechen das Polnische ganz so vollkommen wie die Polen selbst. Der Pole drückt sich im Französischen mit Leichtigkeit und Feinheit aus, weil er darin von Kindesbeinen an Unterricht empfängt, aber er respektiert die Länge und Kürze der deutschen Silben ebensowenig als die der lateinischen (» Nos Póloni non cúramus quantítatem syllábarum). Wir Polen kümmern uns nicht um die Länge oder Kürze der Silben, ein lateinischer Satz, der, richtig betont, lauten müßte: nos Polóni non curámus quantitátum syllabárum. Nur die Sachsen, das heißt die Nachkommen der wendischen Slawen, leiden an dem Malheur eines unglücklichen Ohrs, nicht nur für das harte und weiche »B« oder »T«, sondern sie ziehen auch, falls sie Polnisch sprechen, die kurzen polnischen Silben auf eine lächerliche Weise lang. Der Pole verstümmelt die aus dem Deutschen entlehnten Wörter auf eine scheußliche Weise, indem er z. B. statt Kraftmehl »krochmal« sagt. Solche Korruptionen erlaubt sich der Deutsche keinmal. Franzosen wie Engländer respektieren keine Personen- wie Städtenamen aus fremden Sprachen. Diese Unart entspringt bei den Söhnen und Töchtern Albions nicht nur aus dünkelhaft übermütiger Nonchalance und Bequemlichkeit, sondern auch aus Mangel an ästhetischem Gehör und ästhetischem Verstande, bei den Franzosen aber aus bornierter Naivetät, aus Leichtfertigkeit wie aus der selbstgefälligen Überzeugung, daß ihre Sprache, daß der französische Klang und Akzent das Muster für alle Sprachen und ein Kanon der Ästhetik sein darf. Der Deutsche hat mit Ausnahme weniger Stämme nicht nur den ästhetischen, den musikalischen, sondern auch den sittlichen Verstand, die Selbstverleugnung, den objektiven Sinn und universellen Geist, um die Feinheiten, den Genius und das Idiom aller Sprachen zu penetrieren.

Von den Russen ist bekannt, daß sie alle Sprachen nicht nur mit Leichtigkeit erlernen, sondern präzise schön und richtig sprechen. Der Grund dieser Tatsache ist aber der, daß sie den Vorteil der Kinder haben, nämlich ein ziemlich leeres Hirn, ein leeres Gemüt und wenig ausgeprägte Individualität. Wenn dagegen Schwaben, Hessen, Westfälinger und Ostpreußen ihre Persönlichkeit, ihr Hirn und Herz so weit verleugnen, daß sie sich in eine fremde Rasse und Nationalität, in deren spezifischen Verstand und Geschmack bis zu Schattierungen hineinfühlen, so ist das ein unendlich anderer Prozeß. Auch die Frauen lernen schneller und leichter eine Sprache sprechen als die Männer, weil sie trotz ihrer Kapricen wenig eigentümlichen Geist, mehr instinktiven und weniger wissenschaftlichen Verstand besitzen, weil sie sinnlicher, leichtfertiger und in kleinen Abenteuern, wie z.B. in dem Verkehr mit fremden Sprachen, Sitten, Personen und Situationen, viel dreister als die Männer sind.

Der sittliche, wissenschaftliche und künstlerische Takt, ein Kriterion des beseelten Verstandes und der Kultur des Deutschen.

Wenn man die deutsche Seele, den deutschen Geist charakterisieren und rechtfertigen soll, so muß man von den sublimsten Lebens- und Bildungsprozessen, von den Mysterien der Kulturgeschichte, von dem heiligen Prinzip aller Künste und Wissenschaften sprechen. Es gibt ein Lieblingswort bei Laien und Gelehrten, bei profanen und heiligen Naturen, welches im Mittelpunkt aller Lebensmysterien steht, es heißt Takt. Vielleicht gelingt es, seinen Begriff zu einem Herzpunkt der deutschen Charakteristik zu machen. Zu dem Ende muß eine kurze Einleitung vorausgehen.

Das Besondere wirkt nur in Kraft des Allgemeinen, des Ganzen, dem es angehört; Wort und Bild wirken nur in Kraft der Sprache und Phantasie; das schönste Menschenauge tut nur seine Wirkung in einem Menschengesicht, und der Blick dieses Auges interpretiert eben nur diese und keine andere Seele, keine andere Person. Jede Realität und Einzelheit erhält ihre Ausdeutung erst in einem idealen Prinzip, in dem Lebensgefühl, in der Weltanschauung, die uns eigen ist, in den Ideen und Grundstimmungen, die uns beherrschen. Wo die Person verhaßt und ihre ganze Lebensart garstig ist, da tun die vereinzelten bessern Momente, die muntern Einfälle nicht mehr ihre volle Wirkung. Wir wollen von einem Schuft und Giftmischer weder Witz noch Gebete hören. Die leichtfertigen, burschikosen Späße des Studenten stehen dem greisen Pfarrer so garstig zu Gesicht wie gewisse prononciert fromme Gebärdungen und Bibelworte dem Fähndrich oder dem Studenten, selbst wenn der letztere Theologe ist. Auch alt gewordene Mädchen kann man nicht mit voller Genugtuung einen stehenden Humor debütieren sehen, denn er deutet bei ihnen auf einen Dualismus, auf einen Riß zwischen Gemüt und Geist, zwischen Ideal und Wirklichkeit, den wohl ein alter Herr, aber nicht so ein alt gewordenes, um die heiligsten Güter und Freuden gekürztes eheloses Mädchen sichtbar machen oder mit Witz maskieren darf.

Dieselben Tatsachen, Erlebnisse und Erscheinungen wirken ganz entgegengesetzt auf Jugend und Alter, auf fröhliche und trauernde, auf gebildete und rohe, gute und böse Menschen, auf Individuen verschiedenen Standes, verschiedener Religion und Nationalität. Wenn zwei dasselbe sagen oder tun und lassen, so ist es nicht dasselbe mehr. Aus diesen Tatsachen und ihrer Berücksichtigung in: Verkehr, in der Kunst und Wissenschaft erwächst der künstlerische, der wissenschaftliche und gesellige Takt. Er besteht überall in der Ineinsbildung der idealen und realen Lebensfaktoren, in der Versöhnung der Gegensätze dieser Welt, in der Harmonie der Einzelmomente mit der Totalität, zu der sie gehören. Der Takt gestaltet die Augenblicke im Sinn und Geist der Geschichte, der Natur, der Biographie; der Mensch von Takt balanciert seine Intentionen mit den gewählten Mitteln und Formen, mit den obwaltenden Umständen und der gegebenen Situation. Er respektiert die herrschende Illusion.

Jeder Augenblick erhält seinen Ton und Effekt, seine Bedeutung erst von der Situation und Geschichte, von der Person, zu der er gehört. Die irdischen Zeiten deutet der heile und heilige Mensch nur mit einem Gemüt und Gewissen aus, das zu einem Organ der Ewigkeit geworden ist.

In einem Gemälde ohne durchgehenden Farbenton bleiben die Lokaltöne wirkungslos profan und bunt. Überall und in allen Augenblicken will der Mensch die einzelnen Erscheinungen von dem Weltbilde begleitet, will er die einzelne Bewegung und seine Person in den allgemeinen Lebensrhythmus aufgenommen fühlen. Wo es anders ist, wo das Irdische nicht vom Himmlischen mitbewegt und mitgefärbt ist, wo eine Partikularität von ihrem Verbände und Untergründe abgelöst erscheint, wo die Augenblicke ganz und gar vom idealen Inhalt ausgeleert sind, da hat der deutsche Mensch, falls dieser Dualismus ein zufälliger, oberflächlicher und unschädlicher ist, das Gefühl des Komischen, der absoluten Prosa, der scheinbaren Säkularisation oder das Gefühl einer wirklichen Entweihung, also der Sünde, der Trostlosigkeit, der Ungereimtheit zwischen dem Endlichen und Unendlichen, zwischen der idealen und wirklichen Welt, also das Gefühl der Häßlichkeit. Zeigt sich diese Trennung des individuellen und generellen Lebens, der Natur und Übernatur, des Zeitlichen und Ewigen nur als ein augenblickliches Schisma, welches von dem Profanverstande, von der nüchternen oder zerstreuten Stimmung einer Person, nicht aber von einer ganzen Nation und Zeit verschuldet wird, so nennen wir diesen Mangel des Ineinander und diese Disharmonie dessen, was Gott und Menschen zusammengefügt haben, Taktlosigkeit, Ungereimtheit, Abgeschmacktheit.

Sittlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen Takt kann nur derjenige Mensch haben, bei welchem Divination und Mutterwitz korrespondieren, bei welchem das ideale Organ mit dem Verstande so ineinsgebildet ist, daß ihm in jeder lebendigen Form der allgemeine, der sittliche Geist und das Leben, also das Wahre, Gute und Schöne zurückgespiegelt wird. Wer diese heiligen Grundbedingungen des Lebens nicht alle Augenblicke im Verstande wie im Gemüte bewegt, wer nicht Sinnenlust, Verzweiflung und Zorn mäßigen kann, wer sich ganz sinnlich oder abstrakt und profan gebärdet, wer sein Leben lang ganz natürlich oder ganz abstrakt zu Werke geht, wer con amore ein Genrevirtuose, ein Anatom, ein Chemiker, ein Rechenmeister, ein minutiöser Talmudist oder ein abstruser Mathematiker, Grammatiker und Schulphilosoph bis ins Herz hinein ist, wer keinen Scherz oder keinen Ernst kennt, wer das Sinnliche nicht übersinnlich deuten und das Unendliche nicht auf das Endliche beziehen, wer es nicht in seiner Person verwirklichen, in seinem Tun und Lassen zurückspiegeln kann, der hat keinen Takt und Geschmack, der ist kein gebildeter Mensch.

Wer sich nie zu einer Ergänzung seiner einseitigen Lebensbeschäftigung und Stellung angetrieben fühlt, wer als Anatom und Chemiker die Seele, als Mathematiker und Astronom unsern Gott im Himmel, wer als Dialektiker und Grammatiker die Lebensgrazie verliert oder als Poet die Logik und jeden Schematismus ignoriert, als frommer Christ die Natur und die profanen Lebensbeschäftigungen despektiert, der ist ein elender Narr, ein Schwärmer oder ein Pedant. Wer sich als Mann nicht durch das Weib, als Weib nicht durch den Mann, als Dichter nicht durch Philosophie, als Philosoph nicht durch Poesie, als Praktikus nicht durch Theorie, als Theoretiker nicht durch Praxis angezogen fühlt, der ist kein ganzer, kein heiler Mensch. In einem monströs einseitigen Individuum wohnt der Takt des Lebens nimmermehr; dieser Takt fordert einen heiligen Sinn, eine Integrität der Geschichten, aus welcher allein der Sinn und Verstand für alles Heile, Ganze und Ideale im Menschenleben hervorgehen kann. Dieser Sinn aber, welcher das Harmonische, das Zentrum und die Peripherie des Lebens sucht und findet, welcher es in Künsten und Wissenschaften wie in der persönlichen Erscheinung auszugestalten vermag, welcher den Herzpunkt zur Vernunftanschauung auszudehnen und diese selbst zu einer herzlichen Lebensart verdichten und aus beiden Bewegungen das deutsche Gemüt zu produzieren versteht, wohnt nur dem deutschen Volke in solcher Universalität und Entschiedenheit inne und ist die naturnotwendige Ursache, daß die Deutschen sich für ein nationales Leben nicht so absolut wie andere Nationen zu begeistern vermögen, die für die Künste und Wissenschaften, für das sittliche Leben und die Religion weniger tief organisiert und entwickelt sind. Wenn der Mensch ein Welt- und Himmelsbürger, wenn er ein so gründlicher Gelehrter und Künstler, wenn er ein so guter Hausvater wie der Deutsche ist, so kann er unmöglich noch ein vollbegeisterter Staatsbürger, Nationalmensch, Publizist, Radikalist, politischer Kannegießer, Demokrat, öffentlicher Meinungshomunkulus und unergründlicher Wühler sein. Der Deutsche wird zufolge des ihm von Anbeginn seiner Geschichte innewohnenden Idealsinns vor allen Dingen ein heiler und ganzer Mensch bleiben und es den andern Nationen überlassen, Nationalfratzenbilder des edeln Menschengewächses zu erziehen, die sich um ihrer nationalen Verschiedenheiten willen hassen, verachten, bekriegen und wie wilde Tiere zerfleischen.

Der so borniert angegriffene, von den modernen Zukunftspropheten lächerlich gemachte deutsche Idealsinn bildet den Untergrund und das Prinzip des universellen Taktes, des tiefen Schicklichkeitsgefühls der Deutschen in allen Künsten und Wissenschaften. Mit der Verkümmerung oder dem Verlust des deutschen Idealsinns hätte auch die von allen Nationen laut und still anerkannte Weltbildung der Deutschen ein Ende, hätte Deutschland die Mission verloren, ein Weltzentrum für das Christentum, für Kunst und Wissenschaft, für die Kultur des Menschengeschlechts zu sein; und dies Unglück wird der Gott verhüten, welcher die Weltgeschichten überwacht und die Deutschen so geschaffen hat, wie sie in Wirklichkeit sind.


 << zurück weiter >>