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XV. Die Deutschen und ihre Nationalität.

»Ein gesunder nationaler Egoismus tut uns not.«

Löher. Vgl. S. 175, Anmerkung.

*   *   *

»Dennoch bleibt Deutschland das kriegerischste und mächtigste Land Europas bis zu den Religionskriegen und den jammervollen Zeiten, die darauf gefolgt sind. Hier scheint das Grab der alten Größe sich vor unsern Augen zu öffnen. Um so mehr vertrauen wir bewundernd der unerschöpflichen Triebkraft unseres Stammes, wenn wir fort und fort ein zwar langsames und oft behindertes, aber doch stetiges Emporkommen bemerken. Vor allem ist es das Bürgertum, das uns wieder bessere Hoffnungen erweckt. Wie es seit der Urzeit als ein Charakterzug der deutschen Geschichte erscheint, daß neben den aristokratischen Gliederungen, die sie hervorbringt, immer auch die bürgerlichen Elemente sich neu beleben, so scheint sich auch neuerdings wieder dieser Prozeß zu vollziehen. Seitdem in den Reichsstädten die alten großen Gewerbe zerstört waren, zerfiel Deutschland in Herren und Diener; indem wir aber jetzt tätig sind, diese Kluft auszufüllen, ahmen wir das 15. Jahrhundert nach, wo neben reichen Burgen blühende Städte standen, und auf das gegenseitige Verständnis, auf die friedliche Versöhnung dieser seit alters unter uns bestehenden Lebenstriebe wird es ankommen, ob die Elemente alter Größe, die im deutschen Charakter noch unzweifelhaft liegen, jemals wieder eine der Vorfahren würdige Rolle übernehmen werden.«

»Der deutsche Menschenschlag«, von Alexander Perz.

Es handelt sich bei der Charakteristik des Deutschen darum, das Zentrum zu finden, den springenden Lebenspunkt, von welchem aus alle Seiten des deutschen Charakters und seiner Bildung klar werden. Dieses Kriterion ist aber die leicht gelöste und überschüssige deutsche Seele, im Gegensatz und Kampfe mit einem feinorganisierten und für eine außerordentliche Vielseitigkeit bestimmten Verstande.

Dem Deutschen ist es um die Mysterien des Lebens, um ihre Ergründung in Seele und Geist zu tun. Er will zugleich erleben, erkennen und in seiner Persönlichkeit verwirklichen; er will Lebenskünstler, Philosoph und Theosoph sein. Er erstrebt, er ahnet und weiß oft zu viel und zu vieles, um eines mit ganzer Kraft und vollem Witz zu realisieren. Er möchte immanent und transzendent, ein Wissender, ein Künstler, und das deutsche Genie möchte ein Held, ein Prophet und Märtyrer, ein Faust, ein Don Juan und zuletzt noch ein reuiger, bekehrter Saulus sein. Alle Lebensstimmen verlocken den gebildeten Deutschen; er möchte auf allen Wegen zugleich wandeln, mit allen Lebensgestalten in Buhlschaft leben, mit allen Mysterien verschmelzen; darum bringt er es schwer zu derjenigen Beschränkung im Wollen und Einbilden, in welcher allein Charakterhaltung, Festigkeit und dramatische Kraft möglich ist.

Die sich durchkreuzenden deutschen Gelüste und Talente: der Romantizismus und der Schematismus, die philosophische Weltbürgerschaft und die ihr obligate Pfahlbürgerlichkeit und Philisterei, die Faustsche Ergrübelung der Weltökonomie, welche mit der deutschen Absonderungssucht zusammenhängt, der privatisierende Sozialismus und sozialistische Partikularismus, der idealistische Materialismus, die theoretisierenden Praktiken, die praktizierenden Schulfüchsigkeiten, der supernaturale Rationalismus, der logische Enthusiasmus, die kritischen Gläubigkeiten und die gläubigen Kritteleien, der gelehrte Dilettantismus und die dilettantierende Gelehrsamkeit verschulden eben unsere zeitgemäßen Widersprüche, Geschmacklosigkeiten und Absurditäten; sie sind das Malheur des universell veranlagten, bildsamen und literaturberauschten deutschen Volkes. Wenn man den Einfluß unserer Literatur, die immensen und massenhaften Anstrengungen der modernen Volksreformatoren in Betrachtung zieht, von denen die ganze Nation, nach allen Richtungen der Windrose, einem mit den Schwänzen verwickelten Rattenkönig ähnlich, im Kreise umhergezerrt wird: so muß man den gesunden Menschenverstand, die sittliche Natur des Deutschen und seine Tüchtigkeit bewundern, die auf der Literaturflut das Lebensschifflein noch immer so zu steuern versteht, daß es nicht von Wind und Wellen verschlungen wird. Die Deutschen sind ihrer Natur zufolge ein Lehr- und Lernvolk, eine prädestinierte Kulturrasse; sie sind nicht nur dieses, sondern die auserwählten Kulturträger, Kultivatoren, Schulmeister und Philosophen des Menschengeschlechts, also können sie keine Virtuosen der Tat, keine politischen Schablonenmenschen (politische Charaktere genannt), keine dramatischen Helden, keine fertig geprägten Dutzendexemplare des Nationalstolzes, des Nationaldünkels und der Nationalborniertheit, der Nationaluniformität und der Nationalmechanik sein wie die Engländer und Franzosen.

Die Deutschen würden aufhören, eine große Nation im Sinne der Kulturgeschichte zu sein, wenn sie sich ambitionierten, eine große Nation im Sinne der Politik, der Diplomatie und der Kriegsgeschichte zu sein – non omnes possumus omnia. Lateinisch: nicht alle können wir alles.

*   *   *

Es ist ein altes wahres Wort, daß Stolz überall mit Dummheit und Unwissenheit verschwistert ist. Die Völkerkunde kann uns belehren, daß der Stolz bei allen halbbarbarischen Nationen in Blüte steht, und daß nicht nur die beschränktesten Individuen, sondern auch die unwissendsten Völker sich am besten auf natürliche Repräsentation verstehen.

Der litauische Bauer ist stolz und verachtet den Deutschen; ein litauisches Sprichwort sagt: »Der dümmste Litauer ist noch immer so klug wie der klügste Deutsche.«

Türken, Albanesen, Kurden, Tschechen, Perser, Chinesen zeigen ebensoviel Stolz als Repräsentation. Die letztere ist bei den Chinesen freilich noch mit Abgeschmacktheit verknüpft.

Die Juden, als eine feiner organisierte Rasse, haben eine Geringschätzung gegen andere Nationen gefühlt, die nicht sowohl auf brutalem Stolze beruht als auf dem notwendigen Selbstgefühl einer überlegenen Kultur und Geisteskraft und einer himmlischen Bewegung durch Jehovah.

Die Juden hatten von Anbeginn zu viel Kultur und Geist, um den Hochmut und sinnlichen Stolz der übrigen Orientalen großzuziehen; sie zeigen im Gegenteil bis zum heutigen Tage die Extreme von Demut, Leidensfähigkeit und Mitleidenschaft wie von Hochmütigkeit. Den Stolz der Dummheit und des sinnlichen Naturells haben sie so wenig wie die Repräsentation. Den Juden gleicht in diesen Eigenschaften am meisten das russische Volk. Es besitzt so wenig Übermut, Hochmut, Freiheitsstolz oder Repräsentation wie der polnische Bauer. Um desto dünkelhafter und hochfahrender ist der russische und polnische Edelmann, obwohl sich der erstere nicht so wie der Pole auf seine und liebenswürdige Repräsentation versteht. Der gemeine Mann in Italien zeigt schon häufiger Stolz als der Pole. Der Spanier prägt in allen Schichten Stolz und Grandezza aus. Der Franzose verbindet mit dem Stolze Bonhomie, Liebenswürdigkeit, gute Laune und Urbanität; der Engländer stellt einen wegwerfenden, brutalen Übermut zur Schau, der in den höheren und gebildeten Ständen mit Liebenswürdigkeit und Adel gepaart ist.

Die Deutschen sind die einzige Nation, welche sich von andern Nationen mit Überzeugung imponieren läßt; es gebricht ihnen nicht nur der Nationalstolz, sondern jedes nachhaltige Selbstgefühl, und die ärgerlichste Schwäche des Deutschen für ihn selbst ist die, daß er sich bei allen Gelegenheiten schon um seiner natürlichen Bescheidenheit willen düpieren läßt. Was nicht die Bescheidenheit verschuldet, das bringt die Philosophische Gründlichkeit zustande. Ein ehrlicher Vollblutdeutscher kann schwer begreifen, daß hinter Schein und edler Dreistigkeit nichts Reelles steckt, daß man ihn ohne Rechtsboden auf Mensur fordern wird, oder daß sich das historische Recht in unhistorischen Zeiten vor dem überlegenen Witz und Willen des Reformators und Helden auflösen lassen muß.

Die vollkommene Charakterenergie und Tatkraft, das prononcierte Nationalgefühl und die Virtuosität des Sozialverstandes sind Fakultäten, welche wesentlich in einer Geistesbeschränktheit, in einer Unwissenheit, dazu in einer Gemütsroheit bestehen, welche der Deutsche nicht besitzt. Wer an seiner Seele ein durchgebildetes Organ von natürlichen Sympathieen und Antipathien besitzt, die sich bis zu den Mysterien der übersinnlichen Welt durchgefühlt und zu einem Gemüt, zu einem Gewissen konstituiert haben; wer seinen natürlichen Charakter zu einer sittlichen und religiösen Konstitution erweitert und gesteigert, wer diesen komplizierten und dualistischen Charakter noch wieder nach deutscher Weise mit einer durch Philosophie und Ästhetik rektifizierten Intelligenz alteriert und balanciert hat; wer durch diese inneren Bildungsprozesse eine Person geworden ist, in welcher die Geschichten Himmels und der Erde eingefleischt werden: der kann unmöglich so tauglich und begeistert für Sozial- und Nationalinteressen wie ein solches Volk sein, dessen Individuen vermöge ihrer persönlichen Nichtsbedeutenheit ganz natürlich zu den Kristallisationen anschießen, welche man Staat, Nationalleben und sozialen Schematismus benennt.

Der französische und antike Staat haben die horizontalen und massenhaften Konstruktionen der monumentalen griechischen Architektur, der Ornamente und Intentionen sich auf stereometrische Figurationen zurückführen lassen. Der deutsche Staat und Sozialismus aber ist ein gotisches Münster, mit senkrecht aus dem Erdboden aussteigenden, phantastisch gegliederten Konstruktionen, welche den Waldbäumen gleichen; und die Ornamentik dieser deutschen Staatsbaukunst und gesellschaftlichen Kultur ist keine Mathematik, sondern ein vegetativer Prozeß: eine Masse von Blättern, Blumen und Früchten, welche von gewaltigen architektonischen Simswerken durchschnitten und so in Stockwerke abgeteilt wird. Der ganze deutsche Charakter und Kulturprozeß ist eine Vegetation, deren Überwucherungen durch einen sittlichen Schematismus und Rigorismus beschnitten und kontrolliert werden, während die französische Lebensart und Methode ein Mechanismus, eine Mathematik, ein Kristallisationsprozeß ist, welchem vegetative Formen aufgeklebt werden.

Wenn's bei uns Deutschen widernatürlich zugeht, so werden Bäume an Spalieren gezogen, also zu Sträuchern degradiert, während sich diese in Frankreich zu Topfpflanzen verkrüppeln lassen müssen; und wo wir zu diesen chinesischen Künsten greifen, da begnügen sich unsere Nachbarn mit Flechten und Moosen auf Gestein, wenn sie nicht Dendritenmarmor »Dendriten« sind baumförmig verästelte und moosförmige Gebilde auf Sand- und Kalksteinen, die aus eingedrungenen mineralischen Lösungen bestehen. vorziehn.

Sind die Deutschen auch keine mustergültigen Typen des Nationallebens und der Nationalkultur, so haben sie gleichwohl mehr Organ für Sozietät wie irgend eine andere Nation. Wie dies zugeht, kann erst aus einer vergleichenden Bestimmung der Begriffe von Staat und Sozietät erhellen.

Staat ist der faktische Rechtsschematismus, die relativ fertige und historische Form, der Mechanismus an dem generellen Leben der Gesellschaft, in welchem sich das Gleichgewicht der Kräfte und Rechte von Individuen und Körperschaften betätigt und konserviert.

Sozietät ist aber der natürliche und sittliche Wuchs, in welchem sich die Individuen und Stände rehabilitieren; die natürliche Reaktion gegen die Schablonenwirtschaft, gegen die abstrakten und fixiert historischen Formen des Staats. Sozietät ist der lebendige Prozeß und Verstand der Augenblicksrechte, das Recht der Lebenden, durch welches die abgestorbenen Formen abgestoßen werden; die stete Regeneration. Der Staatsmechanismus gehört aber zur Natur und muß sich immer wieder so reproduzieren wie das Knochengerüst am Körper, wie der natürliche Mechanismus, welcher in jedem Organismus gegeben ist. Die Sozietät ist der Staat, inwiefern er den Interessen der Korporationen, der Stände und Individuen Rechnung trägt. Wenn sich aber die Gesellschaft für die feste Form ihres Bestehens und Gesamtlebens verleugnet, wenn sie den Gesetzesschematismus und Verwaltungsmechanismus als eine sittliche Macht und als den Hauptfaktor ihres eignen Daseins begreift, so heißt diese soziale und objektive Vernunft und der ihr entsprechende Zustand der Masse: Staat par excellence.

Der Franzose schwatzt und doziert am meisten von den sozialen Problemen, zeigt aber in seinen dahin bezüglichen Experimenten, daß er die Mechanik besser als die Mysterien des individuellen Lebens, der freien Entwicklung der Stände, Korporationen und Personen begreift. Die Engländer helfen ihrer Staatsmaschinerie, ihrem hölzernen Rechts- und Verwaltungsschematismus mit sozialen Vereinen ohne Ende ab, während der Deutsche zu viel wachsen lassen, zu wenig machen und schematisieren will. Die Schwierigkeit in den Problemen von Staat und Sozietät liegt wie überall darin, daß man erst in ganz reifen Jahren das Ineinander von Dynamismus und Mechanismus begreift; daß man sich Mechanik den Naturprozessen nicht inkorporiert denken mag. Der Franzose möchte alles machen und nichts wachsen lassen und der Deutsche überall und in allen Augenblicken einen Entwicklungsprozeß, eine »Kontinuität«, eine »Lebensintegrität«, einen rein organischen Prozeß, eine Geschichte und Genesis vor sich sehen. Daß eben der Geist, sobald er aktiv auftritt und den Kampf mit der Naturwüchsigkeit beginnt, »Mechaniker« (Schablonenfabrikant) werden muß, kann die große Masse ebensowenig begreifen, als daß dieser Schematismus und jeder Staatsmechanismus einer Idee, und zwar der Idee und den Mysterien des Lebens, der Wahrheit, der Harmonie, der Lebensintegrität und der Weltheiligkeit dienstbar sein muß.

Die Franzosen kokettieren, die Engländer renommieren, die Spanier, Polen und Italiener melancholisieren in allen Augenblicken mit ihrer Nationalität; sie alle sind nicht nur die Virtuosen und Helden, sondern auch die Seiltänzer, die Egoisten, die Narren und Dummköpfe, die Sklaven und Verbrecher ihrer Nationalität.

Der Deutsche allein ist am meisten Mensch, weil er kein Narr und Sklave seines Nationalstolzes, seiner nationalen Ausschließlichkeiten, Illusionen, Lügen, Borniertheiten und Brutalitäten sein will. Der Deutsche darf ein Mensch im bevorzugten Sinn genannt werden, weil er vorzugsweise ein Organ des Weltgeistes, der Natur und der Menschheit, weil er der Träger aller sublimsten Kulturgeschichten ist. Dieser deutsche Mensch soll und kann der Erzieher aller andern Nationen sein, weil er zu keiner Zeit ein ausschließlich auf seinen nationalen Witz und Stolz gestellter Mensch ist, weil er sich vergleichsweise am wenigsten als Egoisten und Materialisten zeigt; weil er die Kräfte, die Tugenden, die Talente und Intentionen aller andern Völker und Rassen in sich vereint; weil er keinmal mit seiner Nationalität kokettiert und Komödie spielt; weil er in der Masse allein von allen Nationen gemäßigt, aufrichtig, billig, objektiv und selbstverleugnend zu sein vermag; weil er das sublimste und reellste Organ für Recht und Wahrheit, für Sitte, Scham und Gerechtigkeit besitzt; weil ihm fast ausschließlich die Fähigkeit wie die Neigung innewohnt, in allen Erscheinungen ein Unendliches, Ewiges, Göttliches zu erfassen und sein Dasein auf diese unergründliche Natur und Übernatur zu beziehen.

Wenn in diesen Tagen der Deutsche Bund die Kehrseite der hier gerühmten deutschen Tugenden zeigt, so erwirbt er wahrlich nicht die Sympathieen des deutschen Volkes. Arndt hat in seinen »Wanderungen mit dem Minister Freiherrn von Stein« eine sehr nachdrückliche Äußerung dieses kerndeutschen Mannes über die Tüchtigkeit und Biederkeit des württembergischen Volkes im Unterschiede der Untüchtigkeit und Unverlässigkeit seiner Führer und Diplomaten zu Napoleons Zeit eingeschärft.

Dieser Unterschied ist auch heute bei den deutschen Staaten festzuhalten und erklärt hinlänglich die egoistischen, kurzsichtigen, perfiden, miserabeln Zerwürfnisse im Schöße der nationalen Institution, welche man den Deutschen Bund zu nennen beliebt, bei welchem heute jeder Schuljunge an das » Lucus a non lucendo« denken muß!


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