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XVI. Zur Charakteristik der Männer von deutschem Genie und deutscher Art.

A. Luther.

»Ich kann's ja nicht lassen, ich muß auch sorgen für das arme, elende, verachtete, verratene und verkaufte Deutschland.«

Luther.

*   *   *

»Durch Luther lernte Deutschland wieder reden, das deutsche Volk wieder hören. An die Stelle unverständlichen Schulgeschwätzes trat eine höhere Beredsamkeit, getragen von einer großen Idee. – Wer mit den Formen, den Nutzanwendungen, ja mit dem Inhalte von Luthers Schriften unzufrieden ist, muß doch eingestehen, daß sich überall bei ihm ein von Gottesfurcht und Glaubenskraft begeistertes Gemüt offenbart. Nie hat Luther geheuchelt, nie vermochten Bitten, Schmeicheleien, Versprechungen oder Drohungen etwas über seinen felsenfesten Willen, seinen unbezwinglichen Mut. Kein einzelner Mensch hat oder ergreift die Wahrheit vollständig und ungetrübt; wenige aber haben ernstlicher darnach gestrebt und sie rücksichtsloser bekannt als Luther; niemand unter seinen Gegnern kann ihm persönlich gleichgestellt werden, er bleibt bei allen Fehlern der größte und denkwürdigste Mann seiner Zeit, an den sich eine ganze Welt von Ansichten, Bestrebungen und Taten anreiht.«

Der Reformation Luthers ging ein heilloser Mischmasch, ein Wirrwarr von extravaganten, formlosen Demonstrationen und Experimenten im Leben wie in der Literatur vorauf und parallel. Man darf nur an Hutten, an die Bauernaufstände (1476–1517, 1502–1514–1522, 1523–1525), an die damaligen Zänkereien, Zerwürfnisse und Fehden unter den geistlichen Korporationen und Mönchsorden, unter allen Ständen und Schichten der Gesellschaft, an den Wust der Streitschriften und Pamphlete, der Satiren und Sittenpredigten in jeder möglichen Form erinnern. Es war ein Chaos, aus welchem Luthers Wort und Lehre als Licht hervorging. Die Elemente der alten Glaubens- und Lebensordnung hatten sich nicht nur durch Hus, Hieronymus, Der Freund und Leidensgefährte von Hus, Hieronymus von Prag, verbrannt am 30. Mai 1416. Wiclef und Savonarola zersetzt, sondern die ganze der Reformation voraufgehende Literatur (die Mystiker seit Taulers Der Dominikanermönch und Volksprediger Johannes Tauler (1300 – 1361). Zeit mit eingeschlossen), die Bekanntschaft mit den alten Schriftstellern, insbesondere mit Lucian, Der griechische Satiriker des 2. Jahrhunderts n. Chr. Boëthius Der römische Staatsmann und Philosoph Anicius Manlius Torquatus Severinus Boëthius (hingerichtet 525 n. Chr.), der Verfasser des berühmten, im Mittelalter als Schulbuch benutzten Werkes »Trost der Philosophie« ( (Consolatio philosophiae). und Seneca, Werke wie der »Renner« des Hugo von Trimberg Der »Renner« des Hugo von Trimberg ist ein Lehrgedicht, das die damaligen Sittenzustände schildert und den Zweck hatte, die Zeitgenossen des Dichters zu belehren und zu bessern. (1300), Brants »Narrenschiff«, Sebastian Brants (1457–1521) »Narrenschiff« ist ein satirisches Lehrgedicht, das in allegorischer Einkleidung der damaligen Zeit ihre Fehler vorführte. die Masse der moralisierenden Lehrgedichte und Satiren, vornehmlich aber Erasmus' und Reuchlins Schriften, Huttens Aufrufe und Hülferufe hatten vor Luther und in der Zeit seines ersten Auftretens die neuen Geister beschworen, die Zeit gereift und die Massen hörig Hier im Sinne von hellhörig.] gemacht. Das Gewaltige in dem Charakter, in der Handlungsweise und Lehre Luthers ist aber eben das Verständnis seiner Zeit und die dauernde Herrschaft über dieselbe. Wir Nachgeborenen bewundern an diesem unserem Glaubenshelden den Verein und die effektive Kraft der besten Eigenschaften des deutschen Mannes, die festgehaltnen, maßvollen Ideen, die Ausscheidung und Ablehnung aller gemeinen, wüsten Intentionen und den Verstand, mit dem der eine Mann den neuen Elementen bestimmte Gestaltung gab und in allem Wirrwarr seine ursprünglichen Grundsätze festhielt, ohne sich von Hutten oder andern Geistern in eine zerfahrene Unruhe bringen oder zu Ausschweifungen verführen zu lassen. In diesem organisierenden Verstande, in dieser gleichmäßigen Haltung, in der richtigen Entfernung von Extravaganzen und unnützen Förmlichkeiten, in dem Gleichgewicht von derber Kraft und sittlichem Maß, in seinem kerngesunden Wesen, das sich gleich weit entfernt von Überkraft und Schwächlichkeit, von Praktiken wie von Abstraktionen hält, bleibt Luther ein Heros und Genius vom ersten Range, ein wahrhaftiger Prophet, ohne daß man noch erst an das Wunder seiner Bibelübersetzung zu denken braucht, in welcher dieser Mann allein nicht nur die Sprache und das Verständnis der heiligen Schrift um Jahrhunderte vorwärtsgebracht hat, sondern für beides eine Norm darstellt, die so lange dauern wird als die deutsche Sprache und der deutsche Verstand.

Luther war im Herzen ein bescheidener Mann, den nicht Selbstüberhebung, nicht die Eitelkeit, nicht die Neuerungssucht oder gar der moderne, freche Profanverstand, sondern der Kirchenskandal, die Entstellung der evangelischen Lehre, die Korruption der Geistlichkeit, der schamlose Mißbrauch der religiösen Mysterien und Autoritäten zum Protest hintrieb.

In Worms, vor Kaiser und Reich, findet der demütige, zur Unterwürfigkeit erzogene Augustinermönch seinen ganzen Mut, erhebt er sich zum vollen Bewußtsein der historischen Bedeutung des Augenblicks und seiner Mission; und wenn ihn dann später, nach Art aller großen Männer und Propheten, die Momente des Kleinmuts, die bescheidenen Zweifel an seiner persönlichen Kraft und Würdigkeit, in einer so erhabenen und unermeßlichen Sache befallen, so richten ihn wieder die sich überall kundgebenden Sympathieen der deutschen Stände empor.

Luther hat es wiederholt und mit der Entschiedenheit, mit der Nachdrücklichkeit, welche all seine Worte und Handlungen charakterisieren, ausgesprochen, daß die Gemeinde der Ursprung aller Rechte der Kirche, auch der dem Staate übertragenen sei; aber er war darum keinmal ein Wühler, Demagoge oder gar ein Rebell, und ebensowenig haben wir in ihm nach Marheinekes Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846) in seiner »Geschichte der deutschen Reformation«. Anleitung einen Rationalisten im modernen Genre, d. h. einen Lichtparsen, einen Denkgläubigen zu ersehn.

Luther sah vielmehr das kommende Unwesen einer Vergötterung der Schulvernünftigkeit, der hohlen Nichtsgläubigkeit voraus. Es stellten sich schon zu Anfange der Reformation die Vorwehen ihrer garstigen Nachgeburt, die kommenden Säkularisationen aller Mysterien des sittlichen Daseins und die Protestationen ins infinitum ein. Luther aber geißelte rücksichtslos und mit Mutterwitz den Mißverstand, die falsche Konsequenzenmacherei, die Verfratzung seines heiligen Werkes und seiner Intention, die ebensoweit von Schwärmerei und von rationalistischer Nüchternheit und flacher Aufklärerei entfernt war.

Luthers Verhältnis zu den hervorragenden »Aposteln des Subjektivismus«, die von ihm »Schwarmgeister« genannt wurden, zu dem Doktor Karlstadt und zu Thomas Münzer wird von Guericke Heinrich Ernst Ferdinand Guericke, bedeutender altlutherischer Theolog (1803 – 78). in seiner »Geschichte der Reformation« (Schindler, Berlin 1855) in folgenden Zügen geschildert: »Überhaupt raschen, hitzigen und dabei unlenksamen Geistes, ein Gefühlsmensch ohne das Bedürfnis und die Fähigkeit recht klarer objektiver Erkenntnis, hatte Karlstadt auf der Höhe so günstiger Erfolge des Reformationswerks zu schwindeln begonnen und gewährt nun, eine bisherige Richtung der Reformation einseitig in sich festhaltend, ein Bild dessen, was (wenn auch großartiger und erhebender) auch aus Luther hätte werden können, wäre nicht die Wartburger Ausklärung erfolgt. Bald fing auch Thomas Münzer an, auf die Reformatoren heftig zu schelten, daß sie auf den Buchstaben des Gesetzes nach pharisäischer Weise verwiesen, daß sie durch ihr äußerlich buchstäbliches Wesen ein neues Papsttum einführten, daß die durch sie gesammelten Gemeinden nicht rein und heilig seien u. s. w...«

Luthern mußte diese neue augenscheinliche Erfahrung von der Trüglichkeit des eignen Geistes bei aller etwaigen Erleuchtung, sobald er von der normativen, objektiven Autorität des göttlichen Wortes und sodann der geschichtlichen Kirche ganz zu einem subjektiven Prinzip sich hingewandt, auf dem neubetretenen Wege seiner innern Entwicklung nur immer kräftiger fördern... Über Ursprung, Wesen und Gefährlichkeit dieser Richtung äußert er: »So gerieten sie auf das Geschrei: Geist, Geist! Der Geist muß es tun, der Buchstabe tötet!... Da doch in Wahrheit das äußerliche Wort dazu dienet, daß man zum Glauben komme und den Geist empfahe! ... Denn der heilige Geist hat ja seine Weisheit und Rat und alle Geheimnisse in das Wort gefasset und in der Schrift offenbaret, daß sich niemand zu entschuldigen noch etwas anderes zu forschen und zu suchen hat... Es sind bereits Rottengeister vorhanden und werden noch mehr kommen, die sehr klug sein und scharf disputieren und die Osterhistoria zuschanden machen werden, daß wir darüber diese Person werden verlieren. Sie werden Christum predigen wie einen andern Propheten und mit eitel Geisterei umgehen und sagen: Geist, Geist! Damit werden sie diesen Artikel verdunkeln und es also machen, daß wir diese Osterhistoria verachten und mit der Historia diese hohe Person Christi verlieren werden – Und wird noch dazu kommen, daß sie Christum nicht werden für Gott halten und für einer Jungfrau Sohn.« – Wie im dogmatischen Streit, so widerlegte Luther auch im politischen die auf subjektive Willkür begründeten Bestrebungen. Selbst dem Kurfürsten, seinem Landesherrn, der ihn mit Gewalt gegen den Kaiser beschützen will, rät er an: »Vor den Menschen soll Eure kurfürstlichen Gnaden sich also halten, nämlich der Obrigkeit, als ein Kurfürst, gehorsam seyn und kaiserliche Majestät lassen walten in Eurer kurfürstlichen Gnaden Städten und Ländern, an Leib und Gut, wie sich gebühret nach Reichsordnung, und ja nicht wehren noch widersetzen noch Widersatz oder irgend ein Hindernis begehren der Gewalt, ob sie mich fahen oder töten Will. Denn die Gewalt soll niemand brechen noch widerstehn denn allein der, der sie eingesetzt hat; sonst ist's Empörung und wider Gott.« – Als die empörten Erfurter ihm ihre parlamentierenden Artikel zur Begutachtung senden, in denen sie die Konzessionen zusammengefaßt haben, die sie begehren, schreibt er ihnen: » Item, ein Artikul ist ausgelassen, daß ein ehrbar Rat nichts möcht tun, keine Macht habe, ihm nichts vertraut werde, sondern sitze da wie ein Götze und Zapfen und lasse ihm vorkäuen von der Gemeinde wie einem Kinde, und regiere also mit gebundenen Händen und Füßen. Und daß der Wagen die Pferde führe und die Pferde den Fuhrmann zäumen und treiben, so wird's dann sein gehen nach dem löblichen Vorbild dieser Artikuln.« – Kurz vor seinem Tode, zum letztenmal auf der Wittenberger Kanzel, predigte Luther: »Bisher habt ihr das rechte wahrhaftige Wort gehört, nun sehet euch vor, vor euren eigenen Gedanken und Klugheit. Der Teufel wird das Licht der Vernunft anzünden und euch bringen vom Glauben, wie den Wiedertäufern und Sakramentschwärmern (den Reformierten) geschehen ist. Ich sehe vor Augen, wenn uns Gott nicht wird geben treue Prediger und Kirchendiener, so wird der Teufel durch die Rottengeister unsere Kirche zerreißen.«

*   *   *

Luther wollte kein Päpstler und doch ein an die Kirche und an ihre Autoritäten gebundener Christ sein. Er widerstrebte der persönlichen Willkür nicht nur an dem Oberhaupt der Kirche, sondern an seinem eignen Selbst. Er rehabilitierte den gesunden Verstand und die sittliche Selbsttätigkeit des Menschen, aber nicht auf Unkosten des unergründlichen Gottesgewissens, des christlichen Glaubens und einer Übernatur, die sich im Wundergefühl des Menschen bekundet, und durch welche das Natürliche seinen Gegenpol erhält.

Luther war kein Schwärmer, kein faselnder Mystiker und gleichwohl kein denkfrecher Rationalist. Wir kennen seinen Lieblingsspruch: »Trink', was klar ist, sprich, was wahr ist.« Er liebte Freimut und Entschiedenheit, aber er war so wenig ein lichtfreundlicher Theolog im modernen Sinn als ein Finsterling und ein Pfaff. Er liebte und brachte Licht in die Welt, aber nicht mit der Art und Miene, als wenn das Gottesdunkel überflüssig wär'. Luther war ein bibelfester und schriftinspirierter Mann; nur heilige Begeisterung und Gottesgewissen konnten einem Manne, der kein sprachgelehrter Theologe war, ein solches Wunderwerk gelingen lassen, als Luthers Bibelübersetzung ist, die sich, weil sie ganz und gar aus Begeisterung erwuchs, wie ein Originalwerk liest, an welchem uns ebensosehr der Kern der deutschen Sprache erbaut als der Genius unbegreiflich bleibt, mit welchem der Sinn der heiligen Schriften eines ganz anders gearteten Volkes im ganzen wie im einzelnen so getroffen ist. Wie klar und tief, wie rund und markig, wie edel und charaktervoll, wie derb und nobel zugleich, wie deutsch und jüdisch, wie gottesdunkel und verständig, licht und leicht, wie naiv herzenseinfältig und wie gewissensschwer hat dieser deutscheste und unvergleichlichste der Männer jene ewiggültigen, ingottlichen Schriftwerke übersetzt und in seinen Sonderverstand abgefangen! Wie ist doch diese Person Luthers zugleich die unerschöpfliche Norm für die männliche, die nordische, die deutsche Christlichkeit und Religiosität! Wie seine Bibelübersetzung, so ist der Mann selbst. So verständig und gemütstief wie er, der herrliche Stifter unsrer Konfession, so herzig und grundvernünftig, so bar und ehrlich, so anmutig und energisch, so gläubig und so weltlich gescheut, so rüstig und so gottergeben, wie er in seinem ganzen Wesen und Wirken war, so sollen wir alle sein, so können wir annäherungsweise sein; ohne schwächliche Frömmelei und ohne gottlosen Profansinn, ohne Schwärmerei und ohne Nüchternheit, maßvoll und doch voll tiefer Kraft!

Luther war kein Mann der Extreme und kein Schaukler, welcher Dinge ins Gleichgewicht setzen wollte, die kein Gleichgewicht leiden. Luther war kein exzentrischer Charakter, er hielt sich und seine Fakultäten im Maße, aber diese selbst waren Charakterenergieen, die gleichwohl einem tiefsten Gewissen gehorsamten und Blitze zückten, wo es ein Donnerwetter galt, welches die Luft reinigen sollte.

Es ist eine Schande für Protestanten, wenn sie fragen, wie man denn sein soll, wenn man weder asketisch noch weltlich, weder orthodox noch modern, weder natürlich noch übernatürlich oder gar widernatürlich, wenn man weder bekehrungssüchtig und fanatisch noch indifferent, wenn man nicht einmal mittelmäßig oder antik-harmonisch und humanistisch sein soll. Stellt euch unsern Glaubenshelden, unsern deutschen, edeln, herzigen, grundgescheuten, tiefen, kräftigen Luther vor, leset seinen Katechismus, sein Leben, seine Schriften, und dann fragt euch selbst, wie ein frommer Mensch, ein Christ und ein deutscher Mann sein muß und sein kann! Demonstrieren, definieren kann man das Wunder der Heiligkeit, der Wahrhaftigkeit, der Güte, des Maßes nicht; aber desto besser kann man es ins Werk richten, wenn man ein Christ, ein deutscher Ehrenmann, wenn man eine Person und kein Literaturnarr in Folio ist.

Wie der Mensch die Idee und die Wirklichkeit, wie er Geist und Natur im Gemüte zu einer dritten Potenz ineinsbilden kann, hat uns Luther in seinem Leben und seiner Lehre dargetan. Ein heiles reines Hemde, ein eignes Bett, ganze Schuhe und Strümpfe, der erste selbstverdiente Rock, das sind für arme Arbeits- und Dienstleute die Objekte, auf denen ihre Existenz beruht, die also auch eine sittliche Bedeutung erhalten. Die körperliche Bekleidung, die Leibwäsche gehört im Volke schlechtweg zum sittlichen Lebenselement, wie Licht und Luft oder Speise und Trank zu den Bedingungen des Physischen Seins. Die gebildeten und bemittelten Stände haben gar keine Vorstellung davon, was dem Dienstboten, dem armseligen Arbeiter die Kleider, was ihm Hemde, Mantel und Schuhe zu bedeuten haben, mit welchen Augen er diese Gegenstände leiblicher Notdurft und Nahrung ansieht, die er so sauer erwirbt, aber Luther kannte das und hat davon in seinem unsterblichen Katechismus ein Zeugnis abgelegt, indem er unmittelbar hinter dem Dank für »Augen und Ohren und alle Sinne« auch den Dank für »Kleider und Schuhe« ausspricht.

In solchen Zügen von Menschenkenntnis, in der Mitleidenschaft für den Nebenmenschen und die geringste Kreatur, in dem richtigen Auffassen der großen Grundzüge des Erdendaseins, der sittlichen und leiblichen Existenzbedingungen des Menschengeschlechts, in den richtigen Betonungen des sittlichen Lebens, im Herausfühlen der natürlichen Pulse gleichwie der übernatürlichen Elemente beim Volke, da zeigt sich der Genius, der Prophet, jeder große Mensch und Mann. Luther und Karl der Große, Moses, Buddha und Zoroaster charakterisieren sich durch einen und denselben Gottes- und Weltinstinkt, durch sittlichen und vollbeseelten, divinatorischen, konkreten Verstand, durch einen immanenten Geist, der die irdischen Dinge, und einen transzendenten Geist, der die übersinnlichen Dinge begreift.

Die Probleme, mit welchen sich Moses und Konfutse beschäftigten, sind neben der Religion und Sitte zugleich die der heutigen Politik und Staatsökonomie.

Aber worin findet das Wunder dieser Genien der Kulturgeschichte und ihrer Taten seine Erklärung und Realität? Worin anders als darin, daß die alten Propheten und Helden Herz und Mutterwitz besaßen, daß sie Charaktermenschen, Gemütsmenschen, daß sie Personen waren?

Unsre modernen Reformatoren und Kulturheroen begnügen und ambitionieren sich dagegen, Kulturphantome, Schematiker, Mechaniker, Stilkünstlsr und persönliche Paradigmen zu sein, nach welchen man die moderne Lebens- und Bildungsgrammatik konjugiert. Vom ingottlichen Leben, vom inspirierten Herzen, von der Natur im Menschen selbst wissen die klugen Leute nichts, und die Natur nichts von ihnen!

Man muß sich ein paar Aussprüche von Luther vergegenwärtigen, um sogleich den ganzen Mann vor sich zu haben. Denn nie drückte sich das Wesen und die Art eines Mannes so vollkommen in seinen Worten aus: sie gehören zu ihm wie zur Seele der Leib. Zu dem Ende gebe ich hier ein paar Stellen aus dem unermeßlichen Reichtum seiner Schriften, die an Gehalt und Geist die Arbeiten aller seiner Zeitgenossen überragen. Dabei hatte dieser von der Weltgeschichte geprüfte Mann schwere körperliche Leiden zu ertragen. Er konnte zuletzt auf dem einen Auge nicht mehr sehen und schildert im Januar 1546 seinen Zustand in einem Briefe folgendermaßen: »Ich alter, abgelebter, fauler, müder, kalter und nun auch einäugiger Mann hoffte doch nun ein wenig Ruhe zu haben, so werde ich aber dermaßen überhäuft mit Schreiben, Reden, Tun und Handeln, als ob ich nie etwas gehandelt, geschrieben, geredt oder getan hätte. Ich bin der Welt satt und die Welt meiner, wir sind also leicht zu scheiden, wie ein Gast, der die Herberg quittiert. Darum bitte ich um ein gnädiges Stündlein und begehre des Wesens nicht mehr.« Die folgenden Aussprüche Luthers über das Wesen der Sünde gehören insofern recht eigentlich hieher, weil sie den deutschen Verstand charakterisieren, der für alle einzelne Erscheinungen, also auch für die Handlungen ein Grundprinzip aufsucht. Man weiß nicht, ob man in dieser Theorie von der Sünde mehr den Tiefsinn oder den körnigten Verstand und Mutterwitz bewundern soll. Auch ersteht man, was Luther von der »Person« gehalten hat.

»Wenn die in uns wohnende Sünde nicht wäre, so wäre auch keine wirkliche Sünde; diese Sünde wird nicht getan wie alle andern Sünden, sondern sie ist, sie lebt und tut alle Sünden, sie sündigt nicht eine Stunde oder Zeit lang, sondern wo und wie lang die Person ist, da ist die Sünde auch. Es tut's nicht, solange man außen wehrt, bessert und heilt; inwendig bleibt doch Stamm, Wurzel und Quelle des Bösen; es muß vor allen Dingen die Quelle gestopft und dem Baum die Wurzel genommen werden, sonst bricht und reißt es aus an zehn Orten, wenn du an einem stopfst und wehrst. Aus dem Grunde muß es geheilt sein, sonst magst du ewig daran verstreichen und zuschmieren mit Salbe und Pflaster, es eitert und schwiert doch immer wieder fort und wird nur ärger Sünde, mag auch mit keinem Gesetz und keiner Strafe Vertrieben werden, wenn gleich tausend Höllen wären, sondern allein die Gnade Gottes muß sie ausfegen, welche die Natur arm und neu macht.« –

»Darum sind die zwei Sprüche wahr: Gute fromme Werke machen niemals einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute Werke. Böse Werke machen niemals einen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke; also daß immerhin die Person zuvor muß gut und fromm sein vor allen guten Werken, und gute Werke folgen und gehen aus von der frommen und guten Person. Nun ist's offenbar, daß die Früchte tragen nicht den Baum, auch wachsen die Bäume nicht auf den Früchten, sondern wieder die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume müssen früher sein als die Früchte, und die Früchte machen nicht die Bäume, weder gut noch böse, sondern die Bäume machen die Früchte, so muß der Mensch in der Person zuvor gut und böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut, und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke.« –

»Ich halte den Gebrauch, wenn ich auf die Kanzel komme, so sehe ich mich um, was für Leute dasitzen, und weil die meisten einfache Leute sein, so predige ich ihnen, was ich denke, daß sie es verstehen können. Ihr aber stieget allzu hoch im Geist, daher schicken sich eure Predigten für Gelehrte, aber unsere Leute können euch nicht verstehen. Darum gehe ich mit den Leuten um wie eine herzliche Mutter mit ihrem weinenden Kinde, dem sie die Brüste, so gut sie kann, in den Mund gibt und mit ihrer Milch tränkt, welche immer besser schmeckt und bekommt, als wenn sie ihm den köstlichen Zucker und niedlichsten Saft aus der Apotheke reichte.«

*   *   *

Ich kann meine Andeutungen nicht besser schließen als mit den Worten des Königsberger Professors Lehmann, meines lieben Lehrers. Er sagt in seiner wenig bekannt gewordenen Reformationsschrift:

»Ich gebe für den Gang Luthers nach Worms und für seinen Stand in Worms die halbe griechische Philosophie, den ganzen Marsch Alexanders nach Indien, nur besinnen muß ich mich, ob auch den Römer Regulus. Der römische Feldherr M. Ätilius Regulus, der im ersten Punischen Kriege von den Karthagern gefangen genommen und im Jahrs 250 v. Chr. nach Rom geschickt wurde, um den Frieden zu erwirken, kehrte lieber seinem Schwure gemäß in die Gefangenschaft zurück, als daß er seinem Vaterlande zu einem ungünstigen Frieden riet.]

»Wenn solch ein Mut auf Universitäten den Vorsitz hat, in Behörden richtet, von den Kanzeln predigt und in den Schulen lehrt, dann muß dem Himmel bange werden, es könne ihm die Erde zu nahe kommen.

»Mit jungen Leidenschaften für eine schöne Welt ausgestattet sein und doch alles von sich werfen, was die Menschen gewöhnlich lieb haben; sich auf die Bajonette allgemeiner Vorurteile stürzen und doch selbst geboren sein in diesen Vorurteilen und sie mit der Muttermilch eingesogen haben; Recht und Wahrheit aus dem Himmel holen und doch auf Erden wenig Raum haben, wohin man sie pflanzen könnte; die Religion des kultiviertesten Weltteils, eine Religion von fünfzehn Jahrhunderten, und ihre dogmatischen Überwucherungen auf die heilige Schrift zurückführen und selbst ein untergeordneter Geistlicher, ein schutzloser Privatmann sein; die Menschen in ihren Schwächen, ihren Lieblingslastern angreifen, daß sie mit allen Legionen des Hasses auf uns losgehen, und nur geschützt sein von solchen, die, wenn wir niedergeschlagen sind, selbst auf uns fallen mit der Rüstung, welche wir ihnen liehen; nichts Ungewisseres haben, als das Gelingen und den Dank, aber nichts Gewisseres als einen Scheiterhaufen, der noch dazu für ein Gottesgericht gehalten wird; und dies alles unternehmen, dies alles bestehn in der Furcht eines Menschen aus Fleisch und Bein und doch mit dem Herzen eines ganzen Heeres, mit einem Herzen, welches seine Kräfte aus dem Himmel bezieht: das ist ein Mut, den Wohl schwerlich ein bloßer Kanonenmut aufwiegen kann.

»Wo keine Lebenslust ist, da ist keine Furcht, da gibt es keinen Mut. Aller wahre Mut stammt vom Himmel und sitzt auf einer wahren Furcht, auf einer Gottesfurcht; oder er ist nur der Mut eines Ebers. Man soll also den Mut schätzen nach den Schrecken des Todes, nach der Größe der Furcht.«

B. Jakob Böhme, der theosophus teutonicus.

Um die Genesis, den Inhalt und die Geschichte des deutschen Gemüts zu begreifen, muß man die deutschen Mystiker, muß man vor allen Dingen unsern Jakob Böhme, den Schuster von Görlitz, den philophus teutonicus, studieren. In dieser ältesten und deutschesten Philosophie tritt uns das Ringen einer von allen Mysterien der Natur wie der Gottheit erfüllten Seele mit einem ungelehrten und doch energischen Verstande in einer solchen Kraft, mit einem solchen Herzenswitz entgegen, daß man die barbarische Ausdrucksweise nicht nur vergißt, sondern sie als einen symbolisierenden und evolutionierenden Wunderverstand, als eine Eruption des himmlischen Gewissens, als einen Gottesschrei, als eine neue Sprache empfindet, in welcher die Grenzen der Sprache wie des Verstandes überwunden worden sind. In dieser ersten deutschen Philosophie geschieht es, daß sich wieder die Elemente und Kräfte zusammentrauen wollen, welche der Schulwitz bis zum heutigen Tage auseinandergehalten hat; daß sich die Naturseele in den Verstand ergießt, der beseelte und ingottliche Verstand sich zu einem Herzenswitz konzentriert und aus den Kämpfen der natürlichen Sinnenempfindungen mit dem übernatürlichen Gewissen sich ein Gemütsmysterium, eine Geschichte der Seele wie des Geistes konstituiert, in welcher Himmel und Hölle, Himmel und Erde ihre reellen Kommanditen gewinnen.

Jakob Böhmes Philosophieren ist kein bloßes Denken, es ist ein Prozessieren, ein reellstes Haben und Sein des natürlichen und übernatürlichen Lebens, eine Inkarnation aller Gemütsmysterien und Kämpfe des Menschengeschlechts. Es ergreift an Böhme aufs tiefste, wie er in der angestammten Naturliebe des Deutschen aus allen Kräften des Herzens und des Verstandes bestrebt ist, daß er die heilige Dreifaltigkeit als die Wesenheit, Kraft und Bedeutung der ganzen Natur aufzeige; und zu diesem Riesenprozeß einer poetischen Naturliebe mit dem der Natur feindlich gesonnenen Christentum kommt noch der eingegeistete Drang des Protestanten: aus der Sinnlichkeit und Phantasie heraus- und in den Verstand, ja in die förmliche Gedankenfassung hineinzukommen; während die Begriffe sich weder von den sinnlichen Stoffen und Prozessen noch von den Bildern losringen können.

Jakob Böhme, der Protestant, will Leben sprechen; er will das Unsagbare seiner tiefsten Herzensprozesse, seiner Himmel- und Höllenfahrten, seiner Herzensenergieen, seiner Seelenprozesse und Träume in Begriffe und Worte abfangen; daher traktiert er in seiner Verzweiflung Stoffe wie Begriffe und Begriffe wie Stoffe; und doch reißt dieser redlichste, dieser tiefste, geistgewaltigste aller Menschenkämpfe dergestalt den verwandten Geist fort, daß er tiefer durch die stammelnde barbarische Sprache und Methode des Theosophen ergriffen und entzündet wird als durch die scharfgeschliffene Dialektik der Schule und den korrektesten modernen Stil.

Wenn es irgend einen tiefsinnigen Gedanken, eine Fühlung gibt, die bis in die innerste Wesenheit des Geschöpfes wie des Schöpfers reicht, so ist es die Auffassung Böhmes von dem Bösen und dem Zorne Gottes in der »Aurora«. »Aurora oder die Morgenröte im Aufgange« (1612). Gott Vater ist ihm das Allgemeine, Unbestimmte (das göttlich Indifferente oder Negative, die himmlische Disposition, welche dem wirklichen Schaffen zur Grundlage dient). Soll diese göttliche Gebärmutter sich befruchten, soll aus der ideellen Möglichkeit eine bestimmteste Schöpfung, die Kreatur, hervorgehen, so muß sich der Vater aus seiner Allgemeinheit auf einen Punkt konzentrieren; er muß »das Herbe, Saure«, Zusammenziehende werden – ein göttliches »Ichts«, um ein Menschen-Ichts (nach der Analogie von »nichts«) zu schaffen. Gott schafft also den Menschen nicht nur in Liebe und Lösung, sondern auch in Zusammenziehung und Geistesenge, in göttlichem Zorn; das ist der Grund der Selbstsucht, der Herzens- und Verstandesenge, des Bösen im Menschen. Im Akte des Schaffens erfaßt sich aber der göttliche Zorn, d. h. die göttliche Herbigkeit und »Grimmigkeit« nicht für den Zorn, sondern für die Liebe. Wenn aber die Herbigkeit der Kreatur den göttlichen Zorn entzündet, ihn also potenziiert, so kommt's zum wirklichen Zorn als solchem; d. h. nicht zum schöpferischen Zorn, zur schöpferischen Herbigkeit. sondern zum Blitz, zum vernichtenden Zorn (der sich selbst Zweck ist), also zur Strafe. Der Blitz ist noch mit Schmerz verbunden, das Licht aber ist das sich Verständigende. In dem Gebrauch der Worte bei Böhme wird erst die merkwürdigste Eigenschaft der deutschen Sprache und Philosophie klar; nämlich die Elastizität und Flüssigkeit, die Versatilität der Begriffe, je nach der Grundintention, und wie die Worte den Wandlungen der Begriffe folgen.

Der Mystik, d. h. der echten Spekulation, kann keine Formel naiver vorkommen als das »a–a« der abstrakten Verstandesreflexion. Ein a, d.h. ein Ding, das sich absolut selbst gleich ist, muß ein Abstraktum, eine Negativität, eine machtlose, tote Existenz sein. Ein »a–a« ist entweder Gott oder ein nonens, Lateinisch: Nichtseiendes. weil es, als sich absolut selber gleiche Kraft und Wesenheit, weder mit der Welt noch mit Gott korrespondieren kann. Denn jede Korrespondenz, jedes Beziehungsleben ist nur so möglich, daß ein Ding oder ein Ich fort und fort vom allgemeinen Leben absorbiert und in integrum Lateinisch: in den vorigen Stand. restituiert wird.

Der ganze Inhalt, das Wesen und der nächste Zweck der Spekulation, der spekulierenden Vernunft besteht aber darin, zu erkennen, wie die Einheit eine Vielheit und die Vielheit eine Einheit ist, daß die Dinge nicht nur dies oder das, sondern daß sie zugleich dies und das, so und so sind.

Jakob Böhmes, des Mystikers, Theosophie dreht sich, wie gesagt, um die himmlische Dreifaltigkeit in der ganzen Natur, um die Eins in der Drei und um die Drei in der Eins. Dieser Lausitzer Schuster erfaßt mit der äußersten Nachdrücklichkeit die himmlische Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit aller Dinge; wie Hegel sagt, die Wesenheit des Begriffs, das heißt seine Gegensätzlichkeit (und zwar ohne die Form des Gedankens, ohne die Methode der Dialektik), die Negativität Gottes in seiner Positivität; und diese Negativität ist ihm das »Ichts«, das »für sich sein«, weil durch dasselbe das Allgemeine verleugnet wird. Aus dem ersten Ichts ging Luzifer hervor, und an seine Stelle kam das zweite Ichts, »der Separator Christus«. Böhme zeigt mit der frappantesten Dialektik die Einheit von Affirmation und Verneinung, wie er es populär nennt: von Ja und Nein in dem einigen Gott. Seine Metaphysik ist in andern Worten das Hegelsche: Sein–Nichts (präziser: Sein–Nichtsein), aus welcher Polarität die Wirklichkeit hervorgeht.

Wem im Ernste daran gelegen ist, einen Blick in die Tiefen des deutschen Gemüts, des deutschen Verstandes und Gottesgewissens zu tun, und wer überdies sich eine Anschauung verschaffen will, wie ein ungeschulter Genius, ein Mann aus dem Volke sich die Sprache für seine persönlichsten und doch zugleich so generell menschlichen Denk- und Gefühlsprozesse dienstbar macht, der darf die Mühe nicht scheuen, den hier folgenden halben Bogen durchzuarbeiten, welcher die Essenz der Böhmeschen Theosophie nach Hegels Darstellung und meiner sorgfältig in Anwendung gebrachten Ökonomie enthält. Das Zusammenrücken und Reduzieren der bereits sehr rektifizierten und doch umfangreichen Hegelschen Zusammenfassung hat mir nicht wenig Kopfbrechen gemacht.

Das Interesse wird verdoppelt, wenn man verfolgen will, wie hier der tiefsinnigste Naturalist und Autodidakt von einem andern deutschesten Genius reproduziert und in die Schulsprache übersetzt wird, von einem Professor, welcher unendlich mehr als irgend ein anderer Mensch und Philosoph Leben und Denken, Anschauung und Begriff, Natur und Geist, Wesenheit und Form, Wort und Gedanke, die idealen und realen Existenzprozesse ineinsgebildet, die Geschichte der Philosophie reproduziert und in seiner Dialektik ihr Destillat dargestellt hat.

*   *   *

»Philosophia teutonia Lateinisch: Deutsche Philosophie. hieß schon vor Jakob Böhme der Mystizismus. Jakob Böhme ist der erste deutsche Philosoph; der Inhalt seines Philosophierens ist echt deutsch. Was ihn merkwürdig macht, ist das protestantische Prinzip, die Intellektualwelt in das eigne Gemüt hereinzulegen und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen, zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war.

»Die Art und Weise seiner Darstellung muß barbarisch genannt werden; aber er ist ein Mann, der bei seiner rohen Darstellung ein konkretes tiefes Herz besitzt.

»Wie Böhme das Leben, die Bewegung des absoluten Wesens ins Gemüt legt, ebenso schaute er alle Begriffe in einer Wirklichkeit (in wirklichen Dingen, z. B. Schwefel, »Markurius«, Merkurius, Quecksilber. »Salitter« [Salpeter] an), oder er gebraucht wirkliche Dinge als Begriffe.

»Die Gedankenformen, die er gebraucht, sind keine Gedankenbestimmungen; es sind sinnliche Bestimmungen, so Qualitäten, herbe, süß, bitter, grimmig; oder Empfindungen, Zorn, Liebe; oder Stoffe, Salitter ( sal nitri), Essenz, Markurius (?).

»Was im Himmel vorgeht, hat er in der Gegenwärtigkeit, in seinem Gemüt und bei sich herum.

»Er will herauskriegen, wie das Böse im Guten oder der Teufel aus Gott zu begreifen sei; eine Frage der jetzigen Zeit. Weil er aber den Begriff nicht hat, so stellt sich dies als fürchterlicher, schmerzhafter Kampf in dem Manne dar. Es ist ein Kampf seines Gemüts, ein Kampf des Bewußtseins mit der Sprache (die er sich schaffen muß). Der Inhalt ist die tiefste Idee, welche die absolutesten Gegensätze zu vereinigen versucht.

»Die Gestalt, die ihm zunächst liegt, ist Christus und die Dreieinigkeit, und dann die chemischen Formen von Merkur, Salitter, Schwefel, Herbes, Saures (?). Wir sehen indem Manne das Ringen, diese Entgegengesetzten in Eins zu bringen und sie zu binden; nicht für die denkende Vernunft; es ist eine ungeheure wilde und rohe [?] Anstrengung des Innern, das zusammenzupacken, was durch seine Gestalt und Form so weit auseinanderliegt.

»Wie Prospero bei Shakespeare im ›Sturm‹ Ariel droht, eine wurzelknorrige Eiche zu spalten und ihn 1000 Jahre darin einzuklemmen, so ist Böhmes großer Geist in die harte, knorrige Eiche des Sinnlichen, in die knorrige, harte Verwachsung der Vorstellung eingesperrt. Er kann nicht zur freien Darstellung der Idee gelangen. In der Idee Gottes auch das Negative zu fassen, ihn als absolut zu begreifen, dies ist der Kampf, der so fürchterlich aussieht, weil Böhme in der Gedankenbildung (Dialektik) noch so weit zurück ist; andrerseits erkennt man das tiefe Gemüt, das mit dem Innersten verkehrt und darin seine Macht, seine Kraft exerziert.

»Die Grundidee ist bei ihm das Streben, alles in einer absoluten Einheit zu erhalten, die absolute göttliche Einheit und die Vereinigung aller Gegensätze in Gott; sein einziger Gedanke, der durch alles hindurchgeht, ist im allgemeinen die heilige Dreifaltigkeit; in allen Dingen erkennt er ihre Enthüllung und Darstellung, und zwar so, daß alle Dinge diese Dreieinigkeit nicht als eine Vorstellung, sondern als Realität, als die absolute Idee in sich haben.

»Ein Hauptgedanke Böhmes ist, daß das Universum ein göttliches Leben und Offenbaren Gottes in allen Dingen ist; näher: daß aus dem einen Wesen Gottes, dem Inbegriff aller Kräfte und Qualitäten, der Sohn ewig geboren wird, der in jenen Kräften leuchtet; die innere Einheit dieses Lichts mit der Substanz der Kräfte ist der Geist.

»Das Erste ist Gott der Vater; dies Erste ist zugleich unterschieden in sich und ist die Einheit dieser Beiden. ›Gott ist alles‹, sagt er, ›er ist Finsternis und Licht, Liebe und Zorn, Feuer und Licht; aber er nennt sich allein einen Gott nach dem Lichte seiner Liebe. Es ist ein ewiges Contrarium zwischen Finsternis und Licht; keines ergreift das andere, und ist keines das andere, und ist doch nur ein einiges Wesen, aber mit der »Qual« unterschieden (Qual ist Quelle, Qualität; mit der Qual ist das ausgedrückt, was absolute Negativität heißt, das sich auf sich beziehende Negative, die absolute Affirmation darein) – auch mit dem Willen, und ist doch kein abtrennlich Wesen. Nur ein Prinzipium scheidet das, daß eines im andern als ein Nichts ist, und ist doch, aber nach dessen Eigenschaft, darinnen es ist, nicht offenbar.‹ »Um die Einheit des absolut Verschiedenen dreht sich das ganze Bemühen Böhmes; das Prinzip des Begriffs ist also bei ihm durchaus lebendig, nur kann er's nicht in der Form des Gedankens aussprechen. ›Jenes Einige‹, sagt er, ›ist aber unterschieden durch die Qual, d. h. Qual ist eben die selbstbewußte gefühlte Negativität.‹ Die absolute Identität der Unterschiede ist durchaus bei Böhme vorhanden.

»So stellt er nun Gott nicht als die leere Einheit vor, sondern als diese sich selbst teilende Einheit des Entgegengesetzten.

»Man sagt: Gott ist die Realität aller Realitäten. Böhme sagt: ›Du mußt deinen Sinn allhier im Geiste erheben und betrachten, wie die ganze Natur mit allen Kräften, dazu die Weite, Tiefe, Höhe, Himmel, Erde und alles, was drinnen ist, und über dem Himmel sei der Leib Gottes; und die Kräfte der Sternen sind die Quelladern in dem natürlichen Leibe Gottes in dieser Welt.‹

»Nicht mußt du aber denken, daß in dem Korpus der Sternen sei die ganze triumphierende, heilige Dreifaltigkeit: Gott Vater, Sohn und heiliger Geist. Aber dies ist nicht also zu verstehen, das Er gar nicht sei in dem Korpus der Sternen und in dieser Welt. Gott ist ein intramundaner und extramundaner Geist; den Dingen immanent und doch transzendent.

»Nicht mußt du denken, daß jede Kraft, die im Vater ist, an einem besondern Teil und Ort in dem Vater stehe wie die Sternen am Himmel. Nein! Sondern der Geist zeigt, daß alle Kräfte in dem Vater ineinander sind wie eine Kraft.‹

»Wie das Erste das Quellen und Keimen aller Kräfte und Qualitäten in Böhmes (auf die Natur übertragener) Dreifaltigkeitslehre ist, so ist das Aufgellen das Zweite.

»Ein Hauptbegriff, welcher bei ihm unter sehr vielen Gestaltungen und Formen erscheint, ist das zweite Prinzip, das Wort, der ›Separator‹, die Qual, die Offenbarung, überhaupt die ›Ichheit, der Quell aller Scheidung, des Willens und Insichseins‹, das in den Kräften der natürlichen Dinge ist, und indem das Licht darin aufgeht, zur Ruhe zurückgeführt wird.

»Gott als das einfache, absolute Wesen ist nicht Gott absolut, in ihm ist nichts zu erkennen. Was wir erkennen, ist etwas andres; eben dies andre ist aber in Gott selbst enthalten als Gottes Anschauen und Erkennen. Von dem Zweiten sagt Böhme, eine Separation habe geschehen müssen in diesem Temperament. ›Denn kein Ding kann ohne Widerwärtigkeit ihnen offenbar werden; denn so es nichts hat, das ihnen widersteht, so geht's immerdar für sich aus und geht nicht wieder in sich ein. So es aber nicht wieder in sich eingeht, als in das, daraus es ist ursprünglich gegangen, so weiß es nichts von seinem »Urstand«.‹ Urstand gebraucht Böhme für Substanz; und es ist schade, daß wir diesen und so manchen andern treffenden Ausdruck nicht gebrauchen dürfen. ›Ohne die Widerwärtigkeit hätte das Leben keine Empfindlichkeit, noch Wollen, Wirken, weder Verstand noch Wissenschaft. Hätte der verborgene Gott, welcher ein einig Wesen und Wille ist, nicht mit seinem Willen aus sich, aus der ewigen Wissenschaft im Temperamento sich in Schädlichkeit des Willens ausgeführet und dieselbe Schiedlichkeit in eine Infaßlichkeit (Identität) zu einem natürlichen und kreatürlichen Leben eingeführt, und daß dieselbe Schiedlichkeit im Leben nicht im Streit stände, wie wollte ihnen der Wille Gottes, der nur einer ist, offenbar sein? Wie mag in einem Einigen Willen eine Erkenntnis seiner selbst sein?‹

»Wir sehen, J. Böhme ist unendlich erhaben über das leere Abstraktum des höchsten Wesens ec. Er sagt: ›Der Anfang aller Wesen ist das Wort, als das Aushauchen Gottes. Mit dem Worte verstehen wir den offenbaren Willen Gottes; mit dem Wort Gott aber den verborgenen Gott, daraus das Wort ewig entspringt. Das Wort (der Sohn) ist der Ausfluß des göttlichen Ein, und doch ist es Gott selber als seine Offenbarung. Das Ausgeflossen ist Weisheit aller Kräfte, Farben, Tugend und Eigenschaften, Anfang und Ursach.‹

»Das Weltall ist nichts andres als eben die kreatürlich gemachte Wesenheit Gottes.

»Der Himmel Kräfte arbeiten stets in Bildnissen, Gewächsen und Farben, zu offenbaren den heiligen Gott, auf daß er erkannt werde in allen Dingen.

»Der Sohn ist das Herz (das Pulsierende) im Vater. Alle Kräfte, die im Vater sind, sind des Vaters Eigentum. Der Sohn ist das Herz oder der Kern in allen Kräften; er ist aber die Ursache der quellenden Freuden in allen Kräften in dem ganzen Vater. (Das Erste ist der Salitter, das Neutrale.]

»›Wie die Sonne das Herz der Sternen ist, bedeutet sie recht den Sohn. (Der Sternen Zirk bedeutet des Vaters mancherlei Kräfte.) Er leuchtet in allen Kräften des Vaters, und seine Kraft ist die bewegliche, quellende Freude in allen Kräften. Denn so der Sohn nicht in dem Vater leuchtete, so wäre der Vater ein finster Tal‹«

»Über dieses Aufgehen und Manifestieren hat Böhme denn auch äußerst wichtige Bestimmungen beigebracht.

»›Aus solcher Offenbarung der Kräfte, darinnen sich der Wille des ewigen Ein beschaut, fließt der Verstand und die Wissenschaft des Ichts, da sich der ewige Wille im Ichts schauet.‹ (Wortspiel von Nichts, denn es ist eben das Negative; aber Zugleich Gegenteil von Nichts und das Ich des Selbstbewußtseins liegt darin.)

»Der Sohn, das Etwas, ist so Ich, Bewußtsein, Selbstbewußtsein; das abstrakt Neutrale ist Gott, das Sichsammeln zum Punkt des Fürsichseins ist Gott. Das andre ist nun das Ebenbild Gottes. ›Dies Ebenbildnis ist das Mysterium magnum, Lateinisch: das große Geheimnis. als der Schöpfer aller Wesen und Kreaturen; denn es ist der Separator.‹ Derselbe ist das Betätigende, sich Unterscheidende; und er nennt ihn (dies Ichts) nun auch den Luzifer, den erstgebornen Sohn Gottes, den kreatürlich erstgebornen Engel. Aber Luzifer ist abgefallen, Christus ist an seine Stelle gekommen. Dieser Luzifer ist abgefallen; denn das Ichts – das Sichselbstwissen, Ichheit (Böhmes Wort) ist das Sichhineinbilden, das Sichhineinimaginieren, das Fürsichsein, das Feuer, das alles in sich hineinzehrt. Dies ist das Negative im Separator, die Qual; oder es ist der Zorn Gottes; dieser Zorn Gottes ist die Hölle und der Teufel, der durch sich selbst sich in sich hineinimaginiert. Das ist sehr kühn und spekulativ. So sucht Böhme aus Gott selbst den Zorn Gottes zu fassen. In der Tat ist hier Böhme in die ganze Tiefe des göttlichen Wesens hineingestiegen; das Böse, die Materie, oder das Ich = Ich, das für sich Sein, dies ist die wahre Negativität. Früher war es das non ens Vgl. S. 236, Anm. 1. das selbst positiv ist, Finsternis; die wahre Negativität ist Ich. Es ist nicht etwas Schlechtes, weil es das Böse genannt wird; im Geiste allein ist das Böse, wie es an sich ist, begriffen. Böhme nennt es denn auch die Selbheit. ›In welchem Dinge des Dinges eigner Wille wohnt, ohne daß in ihm Gottes Wille will, da wohnet der Teufel und alles, was außer Gott ist.‹ Böhme hat den Begriff des Insichseins sehr lebendig und tief, es fehlt ihm aber der Begriff des Fürsichseins, Für-ein Anderes-Sein, und Rücknahme als die andre Seite.

»Um das Ichts zu fassen, den Separator, wie er sich aus dem Vater ›empört‹, wirft sich Böhme in vielen Formen herum. Die Qualitäten steigen im großen Salitter auf, bewegen, erheben, ›rügen‹ sich. Er hat da im Vater die Qualität der Herbigkeit; und stellt dann das Hervorgehen des Ichts vor als ein Scharfwerden, Zusammenziehen, als einen Blitz. Dies ist Licht, ist der Luzifer.

»Das Fürsichsein, Sichvernehmen, nennt Böhme Zusammenziehen in einen Punkt. Das ist Herbigkeit, Schärfe, Durchdringung, Grimmigkeit; dahin gehört der Zorn Gottes; darin liegt das Böse; hier faßt er das Andere Gottes in Gott selbst. ›Dieser Quell kann angezündet werden durch die Größe, Rügung (Rektifikation?) und Erhebung. Durch die Zusammenziehung wird geformt das kreatürliche Wesen, daß ein himmlisches Korpus gebildet wird. So die Herbigkeit aber durch Erhebung der aus dem Salitter geschaffnen Kreaturen angezündet wird, so ist es eine brennende Quellader des Zornes Gottes.‹

»In den › Quaestonibus theosophicis‹ gebraucht Böhme besonders auch für den Separator (für den Gegensatz vom verborgnen negativen und vom erscheinenden schaffenden Gott) die Form von Ja und Nein. Er sagt: ›Der Leser soll wissen, daß im Ja und Nein alle Dinge bestehen, es sei göttlich, teuflisch, irdisch oder was genannt werden mag. Das Eine, als das Ja, ist eitel Kraft und Leben und ist die Wahrheit Gottes oder Gott selber. Dieser wäre in sich selber unerkenntlich, und wäre darinnen keine Freude und Erheblichkeit noch Empfindlichkeit ohne das Nein. Das Nein ist ein Gegenwurf des Ja oder Wahrheit [diese Negativität ist das Prinzip alles Wissens und Verstehens] auf daß die Wahrheit offenbar und etwas sei [also das Sein kommt durch das Nichtsein erst zum etwas, zur Wirklichkeit], darinnen ein Kontrarium sei, darinnen die ewige Liebe eine wirkende, empfindliche, wollende Liebe sei. Und können doch nicht sagen, daß das Ja vom Nein abgesondert und zwei Ding' nebeneinander, sondern sie sind nur ein Ding, scheiden sich aber selber in zwei Anfänge und machen zwei Zentra, da ein jedes in sich selber wirket und will. Außer diesen beiden, welche doch in stetem Streite stehen, wären alle Dinge ein Nichts und ständen still ohne Bewegung [die Polarität des Zerebral- und Gangliensystems – positiver und negativer Pol].

»›Wenn der ewige Wille nicht selber aus sich ausflösse und führte sich in Annehmlichkeit ein [wenn er sich nicht im Andern seiner selbst gefiele], so wäre kein Gestaltnis noch Unterschiedlichkeit, sondern es wären alle Kräfte nur eine Kraft. So möchte auch kein Verständnis sein, denn die Verständnis urständet (hat ihre Substanz [Urgrund]) in der Unterschiedlichkeit der Vielheit, da eine Eigenschaft die andre stehet, probieret und will. Der ausgelass'ne Wille [Gottes] will die Ungleichheit, auf daß er vor der Gleichheit unterschieden und sein eigen Etwas sei, auf daß etwas sei, daß das ewige Sehen sehe und empfinde.

»›Und aus dem eignen Willen entsteht das Nein, denn er führet sich in Eigenheit als in Annehmlichkeit seiner selber. Er will etwas sein und gleichet sich nicht mit der Einheit; denn die Einheit ist ein ausfließend Ja, welches ewig also im Hauchen seiner selbst stehet; und ist eine Unempfindlichst, denn sie hat nichts, darinnen sie sich möge empfinden, als nur in der Annehmlichkeit des abgewichenen Willens, als in dem Nein, welches ein Gegenwurf ist des Ja, darinnen das Ja offenbar wird, und darinnen es etwas hat, das es wollen kann (177 Fragen von göttlicher Offenbarung, III, § 2–5, S. 3591–3592).

»›Aus diesem ewigen Wirken der Empfindlichkeit ist die sichtbare Welt entsprungen.

»›Alle Ding' dieser Welt ist nach dem Gleichnis der Dreifaltigkeit geworden.

»›Tue die Augen auf und sieh dich selber an; ein Mensch ist nach dem Gleichnis aus der Kraft Gottes in seiner Dreiheit gemacht. In deinem Herzen, Hirne, Adern hast du deinen Geist; alle diese Kraft bedeutet Gott den Vater. Aus der Kraft empöret (gebäret) sich dein Licht, daß du in derselben Kraft stehest, verstehest und weißt, was du tun sollst –: das ist der Sohn, der in dir geboren wird [dies Licht, dies Sehen, Verstehen ist die zweite Bestimmung, es ist das Verhältnis zu sich selbst]. Aus deinem Lichte gehet aus in dieselbe Kraft, Vernunft, Verstand, Kunst und Weisheit, den ganzen Leib zu regieren und auch alles, was außer dem Leibe ist, zu unterscheiden. Und dieses beides ist in deinem Regiment des Gemüts ein Ding, dein Geist; und das bedeut' Gott, den heiligen Geist. Und der heilige Geist aus Gott herrschet auch in diesem Geiste in dir [in ihm], bist du ein Kind des Lichts und nicht der Finsternis.‹

»Dies sind nun die Hauptgedanken des Böhm. – Seine tiefen Gedanken sind a.) das Erzeugtwerden des Lichts, Sohns Gottes aus den Qualitäten (lebendigste Dialektik); d) die diremtion Trennung. seiner selbst. Er faßt die Gegensätze auf das härteste, roheste, läßt sich aber durch ihre Sprödigkeit nicht abhalten, die Einheit zu setzen. Diese Tiefe, roh und barbarisch, ist ohne Begriff, eine Gegenwart (eine Wirklichkeit), ein Aussichselbstsprechen, alles in sich selbst Haben und Wissen. Zu erwähnen ist noch sein frommes Wesen, das Erbauliche, der Weg der Seele in seinen Schriften; dies ist im höchsten Grade innig und tief.«

C. Friedrich der Große und Napoleon.

Friedrich II. liebte den französischen Verstand, aber nicht den französischen Willen.«

Hippels Lebensläufe. »Lebensläufe nach aufsteigender Linie«, Berlin 1778 – 81, 3 Bände. Vgl. S. 20, Anm. 3.

Thomas Carlyle sagt in seiner »Geschichte Friedrichs des Zweiten« (Berlin, Decker, 1858): »Friedrich ist mit Nichten der Halbgötter einer ec.« – »Aber da ist ein Zug an ihm – nämlich, daß er in seiner Art eine Realität ist; daß er stets meint, was er spricht; auch seine Handlungen auf das, was er als Wahrheit erkennt, begründet und gar nichts vom Scheinmenschen an sich hat; wovon einige Leser zugeben werden, daß es ein äußerst seltenes Phänomen ist.« – »Wir nehmen wahr, daß Friedrich nie versucht hat, nach Schwindlerart mit den Tatsachen umzuspringen.« – – »Er hat wohl gewußt, wie unerbittlich die Natur der Tatsachen ist, wie vergeblich ihnen gegenüber alle List der Diplomatie und Sophisterei.« »Wie dieser Mann – ein König – es dahin brachte, nicht ein Lügner und Charlatan zu sein (wie sein Jahrhundert es war), verdient von Menschen und Königen beachtet zu werden.«

Die Intentionen und Fühlungen Carlyles sind so genial wie seine Formen ungeheuerlich und geschmacklos; mit seinem ehrlichen Instinkt hat aber der englische Autor den Lebenspunkt an Friedrich herausgefühlt. »Wenn ich in mich selbst einkehre« (schreibt Friedrich der Große an seine Schwester, die Markgräfin von Bayreuth), »so finde ich nichts als ein armes Individuum, zusammengesetzt aus einer Mischung von Gutem und Bösem, oft sehr unzufrieden mit sich selbst, und das gern mehr Verdienste haben möchte, als es hat; geschaffen, um als Privatmann zu leben; gezwungen, zu repräsentieren; Philosoph aus Neigung, Staatsmann aus Pflicht, mit einem Worte ein Mann, der genötigt ist, alles zu sein, was er nicht ist, und der kein anderes Verdienst hat als eine gewissenhaftige Hingebung an seine Pflichten« ec. – »Ich habe geglaubt, daß, da ich König bin, es mir zukomme, königlich zu denken, und ich habe es mir zum Grundsatze gemacht, daß der Ruf eines Fürsten ihm teurer sein müsse als das Leben.«

»Ich bin fest entschlossen, mich auf dasjenige aller feindlichen Heere zu stürzen, welches mir am nächsten kommen wird, werde daraus, was da wolle. Ich will den Himmel noch für seine Milde segnen, wenn er mir die Gnade zugesteht, mich mit dem Degen in der Hand untergehen zu lassen.«

»Wie kann ein Fürst seinen Staat, den Ruhm seiner Nation, seinen eignen Ruf überleben?«

Was für eine willkommene Gelegenheit hätte ein Franzose in solcher Lage gefunden, sich für den ersten Welthelden und Märtyrer mit dem höchsten Pathos zu deklarieren; Friedrich, der deutsche Mann, erklärt sich dagegen für ein armes Individuum, gezwungen, seinem Herzen mit Repräsentationen Gewalt anzutun; aber auch mit einem Gewissen für Ehre und Pflicht und mit dem festen Willen, dieser Mahnung ohne verschwächende Reflexionen und auf die exakteste Weise ein Genüge zu leisten.

Heute möchten die Leute auch noch Helden vorstellen, aber mit vollständiger Schulvernünftigkeit, Dialektik, Kritik und Katechismusmoral, ohne Risiko und ohne die Barbarei, welche der »kürzeste Prozeß« mit sich bringt. Friedrich hatte ein weiches Herz und eine ästhetische Bildung; aber er beherzigte die Regel: »Wo Holz gehauen wird, fallen Späne, und wer das Messer will, muß die Schneide wollen.« Für die altväterische Assoziation von Herz und Mutterwitz, von Derbheit und Noblesse, von Langmut und kurzem Prozeß fühlen sich unsere modernen Charaktere zu harmonisch, zu geschmackvoll und distinguiert.

Die Weltgeschichte hat allerlei Helden aufzuzeigen, aber sehr wenig solcher, die es ohne alle Ostentation und Hochmütigkeit, ohne Extravaganz und Spektakel, ohne Phantasterei und Eitelkeit gewesen sind, und nur, weil ihnen die Pflicht eine Heldenrolle aufnötigte. Friedrich von Preußen zeigt sich darin als »den Einzigen«, daß er ein Held und doch ein einfacher, herzlicher, der Freundschaft, aller sanften, schönen Genüsse bedürftiger Mensch ist, der sich keinen Augenblick zu einer pathetischen Emphase stimuliert. Friedrich war bei aller Empfänglichkeit und Gewissenhaftigkeit für die Ideen, welche den Menschen über die gemeine Geschäftigkeit, über die Erde und über den sinnlichen Egoismus erheben, ein Preuße, d.h. ein exakter Verstandesmensch, ein Rationalist im edelsten Sinn. Friedrich war bei aller energisch ausgeprägten Persönlichkeit und Originalität nicht nur ein von Herzen bescheidener, sondern unbeschadet seines Heldencharakters ein verschämt-gefühlvoller Mensch, der sein weiches Herz mit Mutterwitz balancierte und zuweilen mit einer harten Verstandeskruste panzerte. Friedrich durchschmerzte die Kluft zwischen dem Idealismus und dem wirklichen Leben und überbrückte sie mit einem Humor, der so lange fortleben wird, als preußische Herzen und Charaktere existieren werden.

Die preußischen Charaktere haben außer ihrer Werktüchtigkeit und Herzlichkeit auch das für sich, daß sie bei keinerlei Gelegenheit die Abgeschmacktheit begehn, schön mit sich zu tun. über sich selbst gerührt zu sein und irgend einem persönlichen Schicksal oder Verhältnis eine Wichtigkeit beizumessen, welche der Nebenmensch als eine solche zu respektieren verpflichtet sein solle.

Friedrich der Große bewährt seine außerordentliche Urteilskraft und Liebenswürdigkeit auch dann, daß er sich in seinen Kämpfen und unsäglichen Leiden keinen Augenblick zu einem prononcierten Helden und Märtyrer aufkraust; daß er nichts Martialisches affektiert, daß er nicht nur durchaus natürlich und unbefangen bleibt, sondern Verhältnisse, in welchen das Geschick des Vaterlandes auf dem Spiele steht, mit einer Sicherheit, ja mit einer Leichtigkeit und bei Gelegenheit mit einem Humor behandelt, den eben nur ein gutes Gewissen und eine geniale Persönlichkeit gegenüber der Weltgeschichte mit solcher Heiterkeit auszuspielen vermag. Der große König zeigt eine Gleichmütigkeit und Laune, welche den Geschichtsforscher verführen kann, die ungeheuren Proportionen jenes siebenjährigen Kampfes für einen Krieg wie andere Kriege und den Kolossalstil von Friedrichs Heldentum für ein bloßes Feldherrntalent anzusehn.

Napoleon war wenig mehr als ein genialischer Feldherr, der sein Glück zu schmieden verstand; Friedrich aber zeigt sich als Staatsmann, als einen Weltweisen und, was mehr sagen will, er ist und bleibt ein guter, ein wahrhaftiger, ein großer Mensch.

Man weiß nicht mehr, was man groß nennen soll, wenn die ruhig-heitere, ausdauernd-besonnene, geistesüberlegene, von pathetischer Schwunghaftigkeit und von herzlos-dünkelhafter Nüchternheit oder von affektierter Ironie gleich weit entfernte Weise Friedrichs, mit der er sein ungeheures Geschick zu bezwingen weiß, keine echte Weisheit und Menschengröße ist.

Wie kleinlich erscheint gegenüber der natürlichen, der gewissenhaften, pflichtbegeisterten, schmucklosen Persönlichkeit Friedrichs das aufgestelzte Wesen, der deklamatorische, posaunenhafte, Intrigen spinnende und überall gewissenlose Hochmut Napoleons! Und gleichwohl war die Zusammenstellung des Korsen mit dem preußischen Helden ein Vierteljahrhundert hindurch der patriotische Geschmack!

Napoleon fordert nicht nur mutig, sondern frech und herzlos sein Schicksal und das der Nationen Europas in die Schranken; und er mißbraucht sein Glück mit dem schnöden Übermute eines Parvenüs, mit der infamen Unbarmherzigkeit und dem kolossalen Egoismus eines Barbaren, der nur sein Ich als Weltgesetz anerkannt haben will; der vor sich selbst, vor der Welt seine Rolle wie eine Schauspielerrolle abspielen muß, da er sich nur durch Ruhmsucht und durch nichts Heiliges, nichts Wahrhaftiges getrieben fühlt. Auf Helena wird der ungeheure Lokomotivführer und Maschinist des politischen Dampfes, der seelenlose Rechenmeister, der sich doch zuletzt verrechnete, weil er Nationen für tote Zahlenmassen und sittliche Mächte für bloße Formeln nahm, erst wieder ein natürlicher Mensch, und die Weltgeschichte wird durch seine Buße und Umwandlung dem Blam Von dem französischen blâme, »lächerlicher Schimpf, Schmach«. entzogen, von einem Mechaniker und Schauspieler zehn Jahre hindurch in europäische Szene gesetzt gewesen zu sein.

Carlyle kommt auch auf die Parallele zwischen Friedrich und Napoleon zu sprechen und sagt bei dieser Gelegenheit: »Napoleon überrannte Europa für eine Weile durch ungeheuern Aufwand an Menschen und Munition; aber Napoleon verteidigte niemals ein kleines Preußen sieben Jahre lang gegen ganz Europa durch Sparen und weises Verwenden seiner Leute und seines Pulvers, bis seine Feinde es aufgaben, mit dem Helden fertig zu werden.– –Ihr könnt mit einem sehr dicken Pinsel malen und dabei doch kein großer Maler sein, sagt ein satirischer Freund; das wird in dem Maße klar, wie der Staubwirbel und der Aufruhr der jüngsten Generation sich legt.«

Friedrich der Einzige und Luther sind so einzig groß durch die himmlische Ökonomie, mit welcher in ihnen Kraft und Milde, Seele und Verstand, Idealsinn und Mutterwitz, Naturalismus und Schematismus versöhnt sind.

Durch Ungeniertheit, Derbheit, Ehrlichkeit, Praxis, Humor und kürzesten Prozeß wirken aber die Sentenzen, die Anekdoten und Charaktere Luthers wie Friedrichs des Großen als eine elementare Macht; und diese Macht ist um so geistbezwingender und liebenswürdiger, als ihr das weichste Herz, der tiefste Gottesglaube und eine Philosophie zum Grunde liegt, die alles Endliche und den bunten Wechsel der Erscheinungen auf eine Kerngestalt, auf eine übersinnliche Welt und ein Absolutes in der Geschichte wie in der Menschenbrust bezieht.

In keiner Form, in keinem Dogma, in keiner Art des Handelns, in keiner Methode und Dialektik liegt die absolute Wahrheit; aber die Energie des Herzens und Charakters ist es, welche das Endliche und Relative wie ein Absolutes traktiert und mit dieser absoluten Methode die Welt und das Schicksal bezwingt – und dies tat der König von Preußen, wie es Luther getan.

In unserer modernen Bildung bekämpfen sich bereits Jahrzehnte hindurch Materialismus und Ideologie bunt durcheinander, die Sanchos und die Don Quichotes, die Fauste, welche eine Faust in der Tasche machen, und die Kasperle wider Willen, welche der Zeitgeist und oft nur der Zeitungengeist am Drahte regiert; aber an einem Luther, an einem Friedrich, der einem halben Weltteil durch Taten das punctum juris Lateinisch: Rechts(stand)punkt. und den Respekt vor Gesetz und überlegenem Geiste beibringt, an einem Helden, in welchem sich der derbe, solide Volksverstand und die Volksdivination mit den Ideen und dem Schematismus der Schule zur Lebensintegrität versöhnt, fehlt es der Zeit, und darum fehlen ihr auch die organisatorischen Talente. Bauen, konstruieren, organisieren, schaffen, das Schicksal und die Welt bezwingen kann der Mensch nur aus der Harmonie aller Kräfte, aus einem großen Lieben und Glauben, aus einem heilen Leben heraus!

*   *   *

»Als Napoleon am Tage nach der Krönung mit dem Marineminister Decrès sich vertraulich unterhielt (Decrès hat es mir kurz nachher wiedererzählt), sagte er: ›Ich bin zu spät gekommen. Die Menschen sind zu klug; es gibt nichts Großes mehr zu vollbringen.‹ – ›Wie, Sire, hat Ihre Stellung nicht Glanz genug? Gibt es etwas Größeres als, wenn man als einfacher Artillerieoffizier begonnen, den ersten Thron der Welt einzunehmen?‹ – ›Ja‹, antwortete er, ›ich habe eine schöne Karriere gemacht, ich gebe es zu; aber welch ein Abstand gegen das Altertum! Nehmen Sie Alexander. Als er Asien erobert und sich den Völkern als ein Sohn Jupiters angekündigt, glaubte der ganze Orient daran, nur Olympia, Olympias, die Mutter Alexanders des Großen. die wohl wußte, woran sie war, Aristoteles und einige athenische Gelehrte ausgenommen. Wenn ich aber jetzt erklären wollte, daß ich ein Sohn Gott-Vaters sei, und wenn ich hingehen wollte, um ihm dafür zu danken, so würde jedes Fischweib, das mir begegnete, mich auspfeifen. Die Völker sind heutzutage zu ausgeklärt; es gibt nichts Großes mehr zu vollbringen.‹ Jeder Kommentar zu einer solchen Geschichte ist überflüssig.«

( Denkwürdigkeiten des Marschalls Marmont.) Der Marschall Auguste Frédérik Louis Viesse de Marmont, Herzog von Ragusa (1774–1852). Seine wertvollen » Mémoires« erschienen nach seinem Tode (1856 – 57) in 9 Bänden.

Friedrich war ein schämiger Deutscher, der seinen Glauben zuweilen fortspottete, weil er fühlte, daß er ihn nicht solide genug mit seinem Verstande und den Forderungen der Gegenwart versöhnen konnte; während Napoleon keine Ahnung davon hatte, wie absurd ihm das hohle Wortpathos zu Gesichte stand, einem Gesichte aus Eisenguß oder Marmor, dessen Lächeln, wie die Staël Vgl. S. 142, Anm. 2. sagte, durch ein Federwerk hervorgebracht zu werden schien.

Napoleon umgab sich im Ernste oder zum Schein mit dem Nimbus eines vom Schicksal erwählten Weltreformators und Trägers der Weltgeschichte, er wollte die Leute und sich selbst in diesen Einbildungen mit einer emphatischen Bulletinstilisation bestärken. Seine Deklamationen bildeten mit seinem fischblütigen Herzen einen garstigen Kontrast; er war ein tyrannischer Mechaniker und ein extemporierender Welterlöser, der sich das Ansehn gab, als werde er alles das zum Lebenstempel hinauswerfen, was denselben bis dahin verunsaubert hatte, während er weder an das Ideale in der Weltgeschichte noch in der Gegenwart oder im Herzen glaubte und in jedem Sinne sich als ein egoistischer Materialist und Mathematiker zeigte, der seine Überlegenheit über die Zeit dem Umstände verdankte, daß kein Fürst und kein Mensch so frech wie er die sittlichen Gewalten leugnete; Napoleon war es, der alle seine Operationen auf einen Mechanismus zu reduzieren verstand. Friedrich der Große kannte diesen Staats-, Militär- und Weltmechanismus so gut wie Napoleon; aber weil er zugleich ein fühlendes Herz im Busen trug, weil er an die sittliche Weltordnung glaubte, menagierte er die Mechanik und den Absolutismus bis auf das Maß, welches seine Zeit und die jedesmalige Lage der Dinge gebot. Weil aber der große Mann das Ideal mit der Wirklichkeit nicht in allen Augenblicken und in allen Formen zu versöhnen verstand, weil er ein Mechaniker und Held, ein Weltweiser und ein Exerziermeister, ein Flötenbläser und ein Kanonenkomponist, ein zärtlicher Freund und ein General war, der seine weichenden Garden mit den Worten ins Feuer trieb: »Wollt ihr Hundsfötter denn ewig leben?«, weil er an einen Gott in den Geschichten und Vätersitten glaubte und doch jeden »nach seiner Façon selig werden« ließ, weil er ein Gewissen von diesem Dualismus seines Glaubens und Wissens, seiner Philosophie und speziellen Lebensaufgabe hatte: darum gab er die Idealform und Heldenerscheinung auf; darum maskierte er seine Gemüts- und Gewissenstiefen mit Witz; darum war er ein Humorist, der praktisch bewiesen hat, daß auch der Mechanismus gelegentlich den Idealismus übertragen könne, und wiewohl er wußte, daß an Gottes Segen alles gelegen sei, so war er doch wieder des Glaubens: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Ohne Goethes »Faust« gelesen zu haben, lebte er dem Diktum nach: »Setz' dir Perücken auf von Millionen Locken, setz' deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist.« Friedrich ließ sich aber trotz dieser nüchternen Selbstkritik aus süßem Morgenschlummer wecken, weil er an dem Glauben von Pflicht und Herrscherwürde festhielt.

So ein wunderlich zwiespältiger Humorist war dieser Held mit dem Krückstocke, dieser Weltweise, der auf dem Schlachtfelde weinte und zugleich sein Herz an ein schönes Windspiel hing. Unsere modernen Philosophen, Literaten und Eintagspropheten halten sich dagegen für den Humor zu durchgebildet, zu sittlich-ernst, zu geschmackvoll, zu formverständig, kurz zu großartig und zu distinguiert. Das ist eben die Miserabilität der heutigen seinen Bildung und Erudition, daß sie sich mit einer Harmonie und Integrität, mit einer objektiven Wissenschaft belügt, welche sie gar nicht haben kann. Wer Verstand und Wahrheitsliebe besitzt, fühlt und begreift das Weltschisma, und wem noch ein Rest von Scham und Gewissen geblieben ist, der bildet den Leuten der Literatur oder sich selbst nicht ein, daß er den Weltriß mit deutschem Stil, mit Grimassen, mit Zeitparolen, Gesinnungstüchtigkeiten, Meinungsöffentlichkeiten, mit populären Naturwissenschaften, mit Nationalökonomie aus dem Tintenfaß und dergleichen Komödienspektakel mehr überbrücken kann, überall wimmelt die Welt heute von Gebildeten und Gesinnungstüchtigen, die ganz ruhig die Heldengestalten der Geschichte an sich vorüber lassen, ohne im mindesten von ihrer eignen Duodezpersönlichkeit, Nichtsbedeutenheit und Charakterlosigkeit geniert zu sein. Die alten Propheten, Krieger, Städteerbauer, Welteroberer, Männer von Eisen und Stahl, jene weltewigen Dichter, Denker und Humoristen scheinen einseitige, monströs gebildete Charaktere gewesen zu sein; unsere modernen Helden und Genien sind dagegen Gebildete, d. h. sie verstehen sich auf die Dutzendfaçons, auf Redensarten, Grimassen, Parolen, Literatur und Stil; sie sind keinesweges naturwüchsig, aber um desto literaturwüchsiger, was man allerdings den alten Helden nicht nachrühmen kann.

Zur Charakteristik Napoleons.

»Schubert Der Astronom Friedrich Theodor Schubert (1758–1825), der, aus Helmstedt gebürtig, in Greifswald die Stadtschule (Gymnasium) besucht und in Petersburg hohe wissenschaftliche Stellungen bekleidet hatte. bewunderte Napoleon und sprach, als wir andern vom Siege und vom Untergang des Verderbers träumten, ganz trocken vor mir aus: ›Sie sehen die Welt und Geschichte mit ganz verkehrten und geblendeten Augen an, lieber Landsmann. Der Starke allein hat auf Erden das Recht, zu herrschen: die meisten Menschen, glauben Sie mir, sind doch nichts als Gesindel, und man muß sich freuen, daß es solche Nimrode als Napoleon einmal wieder auf Erden gibt, Grundwühler und Aufräumer, welche die seit Jahrhunderten aufgetürmten Dreckhaufen auseinanderwerfen. Hier sind Sie auf der rechten Stelle, hier können Sie lernen, wie man auf Dreck treten muß.‹ – Also das hatte der Greifswalder Schubert in Rußland gelernt? Nein, eine große Anlage dazu hatte er gewiß mitgebracht.«

Arndts Wanderungen mit Stein »Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn H. K. Fr. vom Stein«, Berlin 1858.

Redeschwulst, Phantasterei und prononciertes, theatralisches Pathos gehören zu den schlimmsten Symptomen an allen Menschen, zumal aber an einem Manne, welcher eine Weltstellung einnimmt. Ein so ostensibles Gebaren verrät entweder einen schwachen Verstand oder einen Mangel an einfachem Charakter, an Herz und Gemüt, ganz notwendig aber Unnatur und Versteckspiel mit dem eignen Selbst.

Ein Sinn und Verstand wie der Friedrichs des Großen, welcher Dinge und Menschen durchdrungen und sich solchergestalt selbst zu einem Faktor der prozessierenden Geschichten gemacht hat, gewinnt eben dadurch die gleichmäßige harmonische und unhörbare Bewegung der Natur selbst, muß also von Ekstase, Bombast und Spektakel, von sichtbarem Anlauf und Kothurn ebensoweit entfernt sein als von akzentloser Schlaffheit, Indolenz und Monotonie. Eben die Wilden, der Pöbel und die Halbbarbaren, Türken, Tataren, Russen und Korsen charakterisieren sich durch den jähen Wechsel von träumerisch-gedankenlosem Phlegma und von rasender Wut, von zerfahrener Phantasterei, wenn sie einmal in Aktion geraten sind. In solchen Menschen, denen eine gleichmäßige und stetige Mitleidenschaft, eine schöne Sympathie für alle Geschöpfe und Geschichten innewohnt, kann sich schwerlich so viel verhaltenes Gefühl oder so viel Phantasie anstauen, wie zu einer plötzlichen Überschwemmung oder Explosion in der Gestalt von Exzentrizität und pathetischen Manifestationen notwendig ist. Der tägliche und stündliche Verbrauch von Kräften regelt und gestaltet sie vollkommen, macht sie zu unserer zweiten schönen Natur. Nur die Schwäche, die Lüge, die Gefühllosigkeit, die Unnatur wird mit Mechanismus, mit Geräusch, mit einem zu fühlbarern Rhythmus und Kraftaufwand und mit gleichen Entladungen in Szene gesetzt. An Napoleons Taten wie Proklamationen bilden die eben genannten Symptome eine charakteristische Diagnose. Selbst Gregorovius, Der deutsche Geschichtschreiber und Dichter Ferdinand Gregorovius (1821–91).der Verfasser der schönen Schrift über »Korsika« und der Episode »Die Casa Bonaparte zu Ajaccio«, Gregorovius, der Apologet des jungen Helden Napoleon (bis zum Frieden von Campo-Formio), von dem er mit Begeisterung ausruft: »Ein ungewöhnlicher Mensch, ein Halbgott fliegt an uns vorüber, noch unangetastet von der besudelnden Hand des Eigennutzes, bis das schöne Menschenbild nach und nach sich zertrümmert und zu denen gestellt wird, welche gewöhnliche Despoten waren«, sagt an einer andern Stelle ebenso zutreffend und gerecht: »Napoleon war wohl ganz Korse, als er den Herzog von Enghien erschießen ließ; diese Tat war die Tat eines korsischen Banditen und kann erst recht begriffen werden, wenn man weiß, was die Sitte der Blutrache in Korsika erlaubt: nämlich den Mord auch an den unschuldigen Gliedern der feindlichen Sippschaft. Napoleon verleugnete sein korsisches Naturell auch in andern Beziehungen nicht, und so war er auch romantisch, theatralisch, abenteuerlich, wie zum Teil die Korsen sind.« Wenn Napoleon mit seiner stehenden Nüchternheit abwechseln wollte, so fügte er dem theatralischen Kothurn, der abenteuerlichen, aus sibirischem Eise gehauenen Romantik (die auch vor den ägyptischen Pyramiden nicht zerschmolz, weil sie aus stereometrischem Verstande und sinnlicher Phantasterei bestand) die frechste und absurdeste Prahlerei und jenen phantastischen Schwulst, jene unausstehliche deklamatorische Emphase hinzu, welche so grauenhaft mit seiner gefühllosen Mechanik kontrastierte; diese Mechanik war das Rätsel seiner eisernen Willenskraft, seines unwandelbaren Charakters wie seines schlagfertigen Verstandes. Der Inhaber dieser heillosen Lebensart hatte nur eine gewisse Art von Verstand: er faßte blitzschnell das Räderwerk, die Federn, die Gewichte, Ventile und Handhabungen des ganzen Mechanismus, welchen die Geistesträgheit, die Gewohnheit, die Konvenienz, das Vorurteil, die Bequemlichkeit und die Regierungspolitik in das sittliche Leben hineingeschoben haben; und wer sich auf diesen Mechanismus, auf die Apparate des Verstandes versteht, wer auf die Lieblingsleidenschaften, auf die Dummheiten und Schwächen der Menschen spekuliert, wer selbst von Herzenswetterwendigkeiten und von Herzensgefühlen verschont bleibt, weil er keine überschüssige Seele besitzt, die ihn an Konsequenzen und Praktiken hindern könnte, der wird ganz naturnotwendig eben mit diesem einseitigen, seelenlosen und mechanischen Verstande sich die Welt unterwerfen; und Napoleon vollbrachte seine Herrschaft zu einer Zeit, in welcher es der Mehrzahl der europäischen Fürsten nicht nur am Verständnis der Weltlage, sondern auch an Tatkraft und Charakterenergie gefehlt hat.

Gregorovius sagt gegen das Ende seiner schönen Skizze: »Wo ist Napoleon? Was blieb von ihm übrig? Ein Name und eine Reliquie, welche ein leicht zu blendendes Volk nun öffentlich anbetet. Wie die verhaltene Leichenfeier Napoleons vom Jahre 1821 erscheint mir das, was nun jenseits des Rheins geschah. Bezieht sich auf die Sendung des Prinzen von Ioinville nach Sankt Helena (1840), um die Leiche Napoleons I. nach Paris zu bringen, wo sie im Dom der Invaliden unter Gepränge beigesetzt wurde. Aber die Toten stehen nicht mehr auf. Nach den Göttern kommen die Gespenster und nach der Welttragödie das Satyrspiel. – Ein Leichengeruch geht durch die Welt, seitdem sie drüben, jenseits des Rheins, einen toten Mann aufgeweckt haben.«

Napoleon war wie eine Säure, wie ein chemisches Reagens; er brachte die Unmachten, die Narrheiten und Miseren Europas an den Tag; er zerschrotete mit seiner gefühllosen eisernen Willenskraft und Verstandesmaschinerie die zermürbten Institutionen und Formen der deutschen Staaten. Er war der reine Profanverstand, welcher nur an seinen eignen Witz und Willen glaubt und an keine übernatürliche Macht, an keinen innern Zusammenhang in Kraft der Idee. Der Profanverstand des Korsen verhöhnte die Deutschen als Träumer und Ideologen; für diesen ungraziösen Obermechaniker und »Poeten der Tat« gab es weder in den Geschichten noch in den Staaten noch im Organismus des Verstandes eine Pathologie, sondern nur Maschinerie, für diesen Mathematiker gab es Wohl menschliche Ideen, aber keine göttliche Idee, welche den Personen und Geschichten immanent ist. Die menschlichen Ideen hatten für ihn keinen Zusammenhang mit dem Wesen der Dinge selbst; sie waren eben nur Gehirndestillate und äußerten keine absolut fortwirkende oder zeugende Kraft. Die dämonische Leidenschaft des Korsen glaubte und begriff weder die Kontinuität der Geschichte noch des Rechts.

Napoleon ist die Quintessenz aller Tugenden und Kräfte, deren der alt- und neurömische Menschengeist mächtig ist; in Friedrich II. aber ist die Quintessenz des deutschen Menschen und Mannes eingefleischt. Irgendwer sagt von Napoleon mit merkwürdigem Instinkt: »Napoleon war im eminenten Sinn Korse; die Korsen haben aber mit den morgenländischen Völkern die Verachtung gegen fremde Nationen gemein. Napoleon verachtete die Franzosen und das Menschengeschlecht obenein. Es ist etwas Rätselhaftes, Dunkles in allen Napoleoniden; es geht ein heidnischer Zug durch all ihr Denken, Dichten und Trachten; sie begehren alles und nehmen alles, aber sie können nichts behalten; es ist kein Segen bei ihren Erwerbungen; dabei halten sie sich für absolut bevorzugt und berechtigt; sie sind gegen jedermann, und darum war bald jedermann gegen sie.«

Napoleon hatte keinen Witz, weil er ein Mechaniker in der Geisterwelt, ein Schematiker war. Echter Witz erwächst nur aus der vollkommensten Freiheit des beseelten Verstandes; zu derselben gehört aber ein Gewissen, ein Standpunkt außerhalb. Wer sich absolut sicher fühlt, wer gar keine Gewissensbisse empfindet, der hat keinen Impuls, sich durch einen Witz zu rächen oder zu entschuldigen, welcher alle Dinge auf den Kopf stellt, alle Tugenden, alle sittlichen Verhältnisse ironisiert. Friedrich der Große liebte den Witz, weil er ihn nicht sonderlich zu fürchten hatte, und weil er andererseits über einzelne Willkürhandlungen und despotische Launen stille Vorwürfe empfand, weil er ein herzlicher, empfindungsvoller Mensch mit einer pathologischen Seele war. Napoleon fürchtete und haßte den Witz, weil er ihm nicht vergönnt war, und weil er in demselben das Symptom einer Aufklärung, Kritik und Verstandesfreiheit erkannte, welcher er nicht gewachsen war. Der Zwingherr Europas hatte kein sensibles Gewissen und fühlte sich gleichwohl nicht freien Gemüts; aber unser großer König fühlte sich so und fand im freien Humor den Generalnenner, welcher die Bruchteilchen zwischen seinem Eigenwillen und seinem idealen Bewußtsein hob.

Der Freiherr von Stein schreibt aus Paris den 10. April 1814 an seine Gattin: »Hier bin ich in Paris ec. Der Tyrann hat geendigt wie ein Feigling. Solange es nur darauf ankam, das Blut der anderen zu vergießen, war er damit verschwenderisch; aber er wagt es nicht, zu sterben, um wenigstens mutig zu enden; er nimmt ein Gnadengehalt an, er kehrt in das Nichts zurück, er unterhandelt, um sein Leben zu behalten und ein schimpfliches Dasein zu verlängern; man versichert, daß er seine Tage zubringt mit Weinen, mit Seufzen; welches Ungeheuer und welche Verächtlichkeit! Ouwaroff schrieb mir neulich, es gebe in Bonapartes Geschichte ein Gemisch von Seltsamkeit und Größe, von Tamerlan Der durch seine gewaltigen und blutigen Kriegszüge berühmte asiatische Herrscher Timur (1333–1405), auch Timur-Lenk (Timur der Lahme) genannt, woraus Tamerlan entstanden ist. und Gilblas; Der Held des gleichbetitelten humoristischen Romans von Alain René Lesage (1668 bis 1747). aber es gibt einen dritten Bestandteil in der entsetzlichen, mißgestalteten Verbindung, welche seinen Charakter bildet: das ist Gemeinheit; sie zeigte sich in seiner Flucht von der Armee in Rußland, in seiner Behandlung derer, die er verfolgt und niedergedrückt hatte; in seinem Umgang, seinen Reden und gegenwärtig in seinem Betragen im Unglück; sie geht bis zur Niederträchtigkeit, zur Furcht für sein Leben – zur Feigheit.«

Proudhon Der französische sozialistische Schriftsteller Pierre Joseph Proudhon (1809 – 65). sagt sehr zutreffend von Napoleon: »Dieses olympische, der öffentlichen Stimme müde Haupt, das ganz allein [Für alle] denken wollte, dachte endlich durchaus nichts mehr« [wenigstens nichts Vernünftiges mehr].

Daß man die heute so beliebt gewordene Willensenergie und Willensklarheit ebenso übertreiben kann, als die Willensschwäche und Konfusion von den romantischen Naturen übertrieben wird, stellt sich an keiner historischen Person so faßlich und geläufig heraus als an Napoleon, dem man sprichwörtlich einen eisernen Willen zuerkannt hat. Er war, wenn man von der Potenz seines Verstandes abstrahiert, das Gegenbild eines Gewohnheitsmenschen und Philisters; er war ein Mensch, der die geheiligte Sitte, das Ehrgefühl und die Scham der europäischen Nationen mit Füßen trat; er war ein Unmensch, dem die Gewohnheiten des Herzens und die natürlichen Gemütsbewegungen ferne bleiben mußten, der noch auf Helena von sich selbst aussagte, er habe eine Seele von Marmorstein. Melzi Der italienische Staatsmann Francesco Melzi d'Eril, Herzog von Lodi (1753–1816). äußerte über ihn: »Dieser Mensch hat das Chaos im Kopfe und im Herzen die Hölle.« Die Mutter Napoleons urteilte, ihr Sohn habe eine Kanonenkugel an Stelle des Herzens in der Brust. Und dieser unmenschliche Mann erzog sich eben an seiner vom Gewissen wie von der natürlichen Trägheit lospräparierten Willensenergie und Willensklarheit einen Dämon, der ihn viel unnatürlicher, viel heilloser tyrannisierte, als sich der Philister von seinen Gewohnheiten, seiner Willensfeigheit und Willenskonfusion beherrscht sieht.

Ob man der Narr seiner abstrakten Ideen oder seiner Launen, Schwächen und Stimmungen oder ein Narr der Dinge und der Menschen (wie Napoleon von Lafayette Der französische General und Staatsmann Marquis de Lafayette (1757–1834). gesagt) oder der verbrecherische Sklave seines rasenden Ehrgeizes, seiner diabolischen Gelüste und Leidenschaften ist, kommt in der Geschichte der Unfreiheit, der Monstrosität und Dämonie auf eins heraus.

In einem Briefe der Königin Luise von Preußen an ihren Vater, geschrieben 1808, ist von der unvergeßlichen deutschen Frau das nachstehende Urteil über Napoleon I. abgegeben: »Gewiß wird es besser werden, das verbürgt mir der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem jetzt freilich glänzenden Throne sitzt. Fest und ruhig sind allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur politisch, d.h. klug; und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind. Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und mit den Menschen. Er und sein ungemessener Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern, als man ihn lieben kann. – Von seinem Glück geblendet, meint er alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese aber sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.«

D. Ein Paar Worte über Herder und Lessing, nebst einer Erinnerung an Gellert.

Den Studien und Bestrebungen Lessings fehlt das Zentrum, weil er sich von der Welt zum Ich orientiert hat. Er scheint wunderbarerweise vom menschlichen Egoismus befreit; dafür wäre ihm aber auch mehr Innigkeit und Wärme des Gefühls, mehr Seele im engeren Sinn zu wünschen. Aber das geschonte Gefühl und der Mangel an Phantasie erklären es vielleicht, daß sich eben mit Lessings Verstand eine ganz eigentümlich instinktive Tätigkeit verbunden zeigt, die ihn nicht nur die faulen Stellen in der Literatur und im Leben seiner Zeitgenossen, sondern auch die Methode finden ließ, mit der das Übel zu beseitigen und die etwaige Operation ins Werk zu richten war. Lessing war aber nicht nur der Arzt seiner Zeit, sondern seine Autorität und Methode; seine Werke, die man ebensovielen spezifischen Medikamenten und Lebenselixieren vergleichen darf, wirken ebenso lebendig noch in unserer Zeit fort. Aber daraus, daß dem Patienten der Doktor nötiger tut als ein Pfarrer, darf der Patient nicht schließen, daß ein Arzt schlechterdings größer und nützlicher ist als ein Theolog; und so darf man auch nicht Lessing auf Herders Unkosten loben, bloß weil feststeht, daß Herder durch seinen romantischen Geist und Zug viel deutsche Schwächen und Unarten zur Reife gebracht, Lessing dagegen viel Schaden operiert und kontrebalanciert hat.

Lessing nimmt insofern eine unberechenbare Bedeutung für unsere Literatur und unsere ganze Bildung bis auf diesen Tag in Anspruch, weil er einen Faktor besitzt, der in der deutschen, namentlich in der schöngeistigen Literatur nicht mit der Energie und Herrschaft vertreten ist, welche das gesunde Leben erheischt: nämlich den gesunden Menschenverstand, und Lessing besaß denselben in höchster Potenz. Einen wahrhaft genialen Verstand, aber ohne die Extravaganzen, Reaktionen, Geschmacklosigkeiten und Formlosigkeiten, in welchen sich viele Genies gefallen.

Was man im gemeinen Leben Menschenverstand nennt, ist in der Regel nur eben Leuteverstand, d.h. der sinnliche Instinkt, welcher die Nahrungsmittel herauswittert, bei welchen sich die Individualität am besten konserviert. Leuteverstand ist ein garstiges Monstregewächs von Fuchslisten, Praktiken, Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, mit welchen man die endliche Natur aller Dinge und Verhältnisse am besten traktiert – ein Mischmasch von instinktivem Gemeingefühl und Schematismus, von Trivialitäten und Exzentrizitäten, denen das Maß der Harmonie und der ideale Charakter gebricht. Lessings Wesen und Größe besteht aber darin, daß sein Verstand den höchsten Aufgaben der Menschheit zugewendet blieb, ohne daß ihn diese ideale Richtung zum hohlen Enthusiasten und Schwärmer gemacht hätte. Er faßte vielmehr das Kleinste und Individuellste, er faßte die Form, die ganze Summe der Bedingungen ins Auge, unter denen eine Idee sich einen Leib zubilden, unter denen sie ein Faktor des wirklichen Lebens werden kann. Aber dieser positive und förmliche Verstand machte ihn keinmal zum Pedanten, zum Kleinigkeitskrämer und Materialisten: er beeinträchtigte ihm nicht den weiten Horizont, welcher seinen weltumfassenden Verstand charakterisiert. In keinem Sterblichen kann der Idealsinn vollkommener wie in Lessing mit der Sinnlichkeit und die expansive Kraft des Geistes harmonischer mit der zentralisierenden ausgebildet sein. Diesem Genius ist das Kleinste. groß, sobald er es in Verbindung mit den Ideen, Gesetzen und Prozessen zu bringen weiß, welche die Zeit und das Weltleben beherrschen; und umgekehrt gelten ihm diese Ideen und Gesetze nur so weit als konkrete Mächte, Gestalten und Aufgaben, wie er ihnen ein ganz positives Moment und mit demselben eine Handhabe abgewinnen kann. So bleibt Lessing ein unerreichtes Musterbild für die echte, konkrete, antike Klassizität, die auch der Romantiker, der Musiker, der orthodoxe Christ, der Gefühlsmensch respektieren muß, wenn er nicht ganz und gar ein Schwärmer und Selbstschwelger ist, wenn er noch eine heile Stelle am positiven Verstande konserviert. Lessing darf als ein Muster für die natürliche Ökonomie und Einfachheit des Charakters, für das schöne Maß und Gleichgewicht aller Kräfte gelten, für die natürliche Grazie des Verstandes, die gleichwohl nicht derjenigen Energieen und Zuspitzungen entbehrt, aus denen der dialektische Witz mit seiner resümierenden Methode entspringt. Lessing hatte keine Gravitationspunkte, weil er das Leben harmonisch und gesund wie ein Grieche empfand und ausgestaltete. Man fühlt seinen Schriften und insbesondere seinen Deduktionen, seiner Dialektik den individuellsten Verstand, den Charakter der Intelligenz, die Energie des Geistes, aber niemals eine individuelle Seele, eine absonderliche Lebensführung und Erfahrung, eine personelle Beschränktheit und Liebhaberei oder andere Miseren und Vorurteile an, die mit der deutschen Spießbürgerlichkeit auch dann noch verknüpft zu sein pflegen, wenn der gemütliche Germane ein Philosoph und Kritikus ist.

Lessing war Weltbürger im nobelsten und reellsten Sinn; er konnte mit Thaer, Albrecht Thaer, 1752–1828. dem bewundernswerten edlen Autor der »rationellen Landwirtschaft« sagen: »Ich fühle mich an keinem Ort; Zeit ist mir keine Zeit; ein sinnvoll ausgesprochenes Wort wirkt auf die Ewigkeit.«

Der große Kritiker, Ethiker und Kunstphilosoph studierte und beherrschte seine Zeit, aber nicht mit seinen persönlichen Humoren und Talenten allein, oder indem er die Lieblingsleidenschaften und Vorurteile seiner Zeitgenossen ausbeutete, sondern indem er ihre Irrtümer und Schwächen bekämpfte. Und so haben wir in diesem Manne den guten Genius zu verehren, der dem reinen Geschmack, dem objektiven Urteil der Deutschen die Geburtswehen erleichterte, der bei dem deutschen Weltverstande mit den andern großen Männern Hebammendienste verrichtete, indem er für frische Luft und Bewegung sorgte.

Lessing ignorierte als festorganisierter Mensch und Charakter Musik und schöne Natur. Aus seiner keusch verschlossenen, schwer lösbaren, nie von leidenschaftlichen Sympathieen und Naturkräften alterierten Seele schien sich nicht das überschüssige Leben entbunden und als poetisches Gemüt konstituiert zu haben, mittelst dessen der Deutsche den Seelen der Dinge und Geschichten getraut wird.

Wenn auch Schiller gelegentlich in dem seelenvollen Verkehr mit der Natur eine krankhafte Schwärmerei ersieht, und wenn ihm darin die modernen Realisten beistimmen, so wird diese Auffassung nicht nur durch Goethe und Shakespeare, sondern auch durch alle sinnigen und seelenvollen Frauen widerlegt; denn es wird durch dieselben dargetan, daß es auch eine gesunde Romantik und Seelenbildung, eine seelische Transzendenz, eine musikalische Pathologie geben kann, die den gesunden Verstand, den festen Charakter, die sittliche Kraft und Tätigkeit, die Selbstverleugnung im Ertragen von Leiden nicht ausschließt. Das Frauengemüt hat nicht nur unendlich mehr Mitleidenschaften und natürliche Sympathieen als der Mann, sondern im äußersten Fall mehr Gefühlscharakter, mehr Konzentration und Zähigkeit des Gefühls, mehr Resignation. Die leicht gelöste Seele der Frauen konzentriert und kristallisiert sich auch leichter als die des Mannes. Verglichen mit dem intensiven und konkreten Gefühl der Frauen ist das des Mannes ein Schematismus und eine Abstraktion.

Meint man nun, daß der Mann durch ein so vertieftes und sublimiertes Seelenleben zum Weibe werden müsse, so beweist das Leben vieler Poeten und Künstler, daß der Genius des Mannes ebensowohl das »ewig Weibliche«, das ist eben die von natürlichen Sympathieen geschwellte Seele, mit der männlichen Kraft und Schärfe ineinsbilden könne, als es bekannt ist, daß ein edles, gebildetes und geniales Weib in allen entscheidenden Augenblicken seinen weichen Stoff in einen Stahl zu verwandeln versteht. Gervinus sagt zutreffend und schon: »Wer in sich selbst die menschliche Natur in solcher Reinheit wie Lessing darstellte, durfte der wehmütigen Sehnsucht nach der (elementaren) Natur entbehren.« An Lessing haftet aber nicht der Tadel, daß ihm eine wehmütige Sehnsucht und Schwärmerei gefehlt habe; Wohl aber vermißt man an ihm das weibliche Element, die gelöste, die überschüssige und inspirierte Seele, die schöne Mitleidenschaft, die Sympathie für das elementare Leben im Menschen wie in der äußern Natur, die musikalische und pathalogische Seele, Welche im Verein mit der plastischen Kraft den Poeten ausmacht. Lessing war kein lyrisches Gemüt, sondern ein prononciert sittlicher Charakter, mit einem ungemein muskelkräftigen, plastisch-anmutigen Verstande und einer dramatischen Geisteskraft. Die Einseitigkeit des männlichen und sittlich-verständigen Charakters hat nun zwar unsern Lessing zu dem Literaturheros gemacht, welchen wir in ihm verehren, aber von dieser Stellung und Bedeutung des Mannes in einer versumpften und abgeschmackten Zeit ist kein Schluß zu machen auf Lessings Genie. Er ist ein Genie des Kopfs, aber kein Genius an Gemüt.

Wir bewundern an ihm die vollkommene Versöhnung von Realismus und Idealismus, aber doch nur in der Sphäre des intellektuellen Lebens; und Lessings unbedingte Bewunderer, diejenigen, welche ihn zu einem Propheten für alle Zeiten und für die Humanität schlechtweg machen wollen, müssen erinnert werden, daß unser Gemüt eine Welt für sich ist, mit einem Realismus und Idealismus, von welchem kein antik organisierter Mensch Erfahrungen und Inkarnationen gewinnen kann, wenn er weder ein Poet noch ein Christ im bevorzugten Sinne ist oder weiblichen Genius besitzt.

Für christliche Bildung und in Sachen spezifisch deutscher Naturgeschichten und Mysterien, in allen Fragen der Gemütsbildung, der romantischen Poesie und der Theologie kann Lessing ebensowenig eine Autorität und Norm abgeben als Aristoteles, Sokrates oder Homer – so große Heiden sie sind; bei welchem Urteil ich aber nicht so verstanden sein will, als ob ich behauptete, daß jeder Christ schlechtweg dem edelsten Heiden in seinem Menschentum überlegen sein müßte. Wer sich nicht selbst belügen will, muß eingestehen, daß auch das Christentum nicht im Augenblick eine Mohrenseele weißwaschen kann; und was nun meine Menschentaxe und Menschenkenntnis betrifft, so habe ich die Überzeugung, daß es selbst unter uns Deutschen inwendige Mohren gibt, denen das Christentum, trotz der christlichen Gewohnheiten, der christlichen Redens- und Lebensarten nicht auf die neunte Haut, geschweige in die Seele gedrungen ist.

Die christlichen Mohren haben zwar ein tausendjähriges Erbe des christlichen Geistes angetreten, aber vor dem Schöpfer Himmels wie der Erden und gegenüber dem heiligen Geiste des Christentums, der in uns Fleisch werden will, sind die tausend Jahre der christlichen Kirche wie ein Tag und wie ein Augenblick. Lessing gilt mir für keinen Heiligen, und er selbst hielt sich ebensowenig für einen solchen als für einen Poeten; aber darin stimme ich von ganzem Herzen mit allen modernen Realisten und Lobrednern Lessings ein, daß ich ihn unendlich mehr liebe und bewundre als so manchen alten und neuen Heiligen, der den Blindgläubigen für einen Apostel gilt.

Hält man endlich an dem Satze fest, daß Lessing, wie jeder große Mensch und Kopf, sein eigener Heiliger gewesen und nur mit seinem eignen Maß zu messen sei, so soll man (auch bei der Taxe der großen Romantiker, der Herder, Jean Paul, Tieck und andrer) erwägen, daß ein Mensch wie Herder mit vollkommen gelöster, transzendenter, christlicher und echt deutscher Seele, daß ein Mensch voller Natursympathieen und Mitleidenschaften für die Poesie und das Seelenleben aller Völker nicht so kompakt und beschlossen, nicht so klar und bar, so charakter- und urteilskonsequent, so nüchtern, reguliert, stilisiert und fertig sein konnte als Lessing oder sonst ein antik organisierter und heidnischer Verstand. – Non omnia possumus omnes; suum cuique Lateinisch: Wir können nicht alle alles; jedem das Seine. – Auch die Romantiker können echte große Menschen sein wie die Klassiker, sobald sie geborne und wohlerzogene geniale Romantiker und keine leeren Phantasten sind.

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In Herder sehen wir eine Harmonie von allen Fakultäten des Geistes und der Seele, die ihren Gravitationspunkt im Gemüte haben; und dieses Gemüt ist von Vergangenheit und Zukunft, von Religion und Geschichte erfüllt. Herder sucht die Literatur aus der Weltgeschichte und diese wiederum aus der Literatur zu erklären; aber doch so, daß er die Wirklichkeit aus der Idee, die Natur aus der Übernatur begreift. Er ist viel mehr Idealist als Realist im modernen Sinn; man kann aber nicht sagen, mehr Historiker oder mehr Theolog, mehr Rationalist. Es ist eine wundervolle Abgewogenheit bei diesem Genius zwischen den heterogensten Organen und ihren Lebensprozessen, zwischen seiner Poesie und Philosophie, seiner Phantasie und Kritik, seinem historischen und religiösen Organ. Er studiert das Gegebene und Vergangene, aber in Kraft der höchsten Ideen, denen er schon um deswillen mit Begeisterung hingegeben bleibt, weil seine Jugend unter dem Druck und der Misere des Materialismus, der Trivialität und Engherzigkeit einer kleinstädtischen Spießbürgerlichkeit gelitten hat. Man vermißt aber nicht ohne Grund an Herders harmonischer Vielseitigkeit, die im Humanitätsbegriff auch ihr Zentrum aufzeigt, die Kristallisation, die Energie und Klarheit des Verstandes, den bis in die Fasern anatomierenden und gleichwohl konzentriertesten Witz, durch welchen sich Lessing charakterisiert. Wiewohl man nicht außer acht lassen darf, daß Lessings Vielseitigkeit sich innerhalb der Sphären des Geistes bewegte, während Herder das ganze Gebiet der Kultur mit der Summe aller Menschenkräfte in Angriff nahm und die Erkenntnis nicht minder aus einer divinatorischen Seele als aus einem philosophisch gebildeten Geiste bezog. Lessing ist ein verwunderlicher Enthusiast, nämlich ohne die sinnlichen Symptome des Enthusiasmus, ohne bemerkliche Schwunghaftigkeit, Ekstase oder Schwärmerei. Seine zur Religion erhöhte Wahrheitsliebe darf seinem Wesen weder die flüssige Grazie noch die natürliche Unbefangenheit rauben. Die Fugalkraft der Wahrheit verführt ihren Mann zu keinen Exzentrizitäten, zu keinen ideellen Gravitationen, weder zur Sophisterei noch zur Pedanterie. Lessing hat zum ersten- und letztenmal in unserer Literatur und in den Annalen der Kritik Charakterenergie mit Unparteilichkeit, er hat die logische Konsequenz mit der natürlichen Elastizität und Lebendigkeit ineinsgebildet; er hat deutsche Methode mit romanischer Flüssigkeit und Liebenswürdigkeit versöhnt.

Was demnach unsern Lessing nicht nur so überaus interessant, sondern so originell und zu einem Problem für alle Zeiten macht, ist die Tatsache, daß er seine Untersuchungen, trotz seiner gelehrten und theologischen Kenntnisse, als Naturalist, als Freigeist und mit einem Verstande in Angriff nimmt, dessen Schnellkraft und sinnliche Intuition, dessen Heißhunger den Enthusiasmus des Herzens ersetzen muß. Ebenso entschädigt uns die Durchsichtigkeit, die Unbefangenheit und exakte Präzision des Lessingschen Verstandes für den Mangel des übernatürlichen Gewissens und eines tiefsinnigen Gemüts.

An Lessing kann man erfahren, wie zeugungslustig, wie anmutig und muskelkräftig der Verstand sein, was er, verbunden mit mäßiger Einbildungskraft und ohne einen Überschuß von Seele, zu leisten vermag.

Lessing hat keine transzendente Seele, denn er verspottet direkt und indirekt die mystische Weltanschauung; er ignoriert entschieden die esoterischen Prozesse des Gemüts und Gewissens; er hat auch im Schlaf selten Träume gehabt und gelegentlich seinen Unmut darüber geäußert, »daß die Natur nicht zur Abwechselung einmal blau oder rot in Szene gesetzt wird«. Aber man verzeiht diesem Lessingschen Verstande seinen mangelhaften Kontakt, seine geringe Wahlverwandtschaft mit Seele und Phantasie, wenn man gewahr wird, daß man es bei diesem deutschen Manne nicht nur mit einem Prachtexemplar von Verstand, sondern mit einem Normalverstande zu tun hat, der insofern kein solcher ist, als er mit keinem andern, noch so eminenten Verstande schlechtweg verglichen oder gar identifiziert werden kann.

Lessings Verstand war nicht nur konsensuell und doch separierend innerhalb der Prozesse seiner angestammten Jurisdiktion, sondern er unterbaute die ganze Welt der Gedanken mit seinen Argumenten wie mit Granit; und dann wieder balancierte er alle Grazien unsrer sinnlichen Natur in einer unsagbaren, harmonisch anmutenden Weise auf den Pointen seiner Dialektik; das ist der Lessingsche Witz, welcher die französische Literatur und Scharlatanerie zu Paaren getrieben hat.

Von Lessing reicht nicht hin, zu sagen, daß seine Methode die Wahrhaftigkeit, daß sie der Quell und die Kraft aller seiner Motive und Intentionen ist, daß jeder Lessingsche Satz und jedes Wort vom Geiste der Wahrheit ausgeprägt wird, daß selbst ein oppositioneller Verstand und ein Querkopf die Argumentationen dieses gebornen Kritikers wie einen geistigen Schraubstock respektiert, daß sie der unbefangene Verstand wie eine Erlösungsformel empfindet: mit diesem Lessingschen Verstande ist ein Extrawunder von menschlicher Organisation verknüpft. Er ist in seiner Wahrhaftigkeit ein deutscher und doch ein heiler, ein unverletzter, gefeiter Verstand. Alle andern Deutschen müssen es geschehen lassen, daß ihr Verstand irgendwie von Seele und Phantasie gelöst oder gelockert wird, und daß sich ihr Stil diesen Metamorphosen und Phantasmagorieen akkommodiert; die geschmackvollsten, gescheutesten, besonnensten, gewissenhaftesten Ästhetiker, Philosophen und Kritiker geraten gelegentlich in Faselei und Affektation, in eine Überschwenglichkeit, durch welche Formlosigkeit, Geschmacklosigkeit, kurz Unwahrheit und Unschönheit verschuldet wird.

Der Lessingsche Stil verrät von solchen Alterationen und dilettantisch-pathologischen Abschwächungen nichts. Der Stil und Verstand Lessings ist nicht nur tatsächlich ein ganzer Mensch und Mann, sondern er macht den entschiedenen Eindruck einer vollkommenen Keuschheit und Jungfräulichkeit. So viel Seele, Sinnlichkeit und Parhologie, als er zur Elastizität und Grazie, als er zum Verständnis der natürlichen Dinge und Prozesse, zur gesunden Mitleidenschaft bedarf, besitzt er primitiv und in Kraft der ersten heidnisch schönen Konzeption; aber mit der Phantasie, mit der transzendenten Seele, mit dem deutschen Gemüt, mit den Herzensgewohnheiten hat er sich nicht vermischt, ist er weder eine förmliche noch eine wilde Ehe eingegangen. Selbst Hegels unantastbare und mit dreifachem Erz gepanzerte Dialektik entbindet nicht selten einen überschüssigen Geist, den man schon vor Hegel den »logischen Enthusiasmus« genannt hat. Lessings Verstand aber kennt keine Transzendenz, wenigstens keine solche, die nicht in dem Augenblicke von der Basis aufgesogen würde, wo sie sich als eine überschüssige Kraft und als ein Idealismus etablieren will. Lessings Verstand ist ein potenziierter, heidnischer Griechenverstand, der nichts Anderes und Sublimeres anzüngelt, als was er natürlichermaßen ohne Überschwenglichkeit, ohne Pathologie ablangen kann. Das Geheimnis der Lessingschen Verstandesgrazie wie des aus ihr erzeugten Stils ist keine von vornherein stimulierte Wahrhaftigkeit, keine Koketterie mit dieser und jener Tendenz, sondern die antike, keusche, urgesunde Naturökonomie, die Harmonie der Geisteskräfte und ihre Integrität. Lessings Verstand bietet uns dasselbe Wunder wie Goethe, nur mit verschiedenen Gravitationspunkten an. Wie in Goethes Sinnlichkeit und Seele der Weltverstand abgefangen ist, so in Lessings Verstand die Ökonomie, das Maß, das Gesetz, die Grazie der Natur. Lessing wie Goethe sind innerhalb ihrer Persönlichkeit, ihrer Divination und respektive ihres Verstandes durchaus so objektiv und normal wie der Naturprozeß selbst.

Sie arbeiten nicht wie die andern Sterblichen und die Gelehrten nach einer vorweg fertigen Schablone, sie stellen ihren Operationen nicht sittliche, religiöse, historische oder philosophische Ideen und Formeln voran, sondern sie elaborieren das aus der Verstandessubstanz, respektive aus dem Naturobjekt heraus, was darin realiter und idealiter gegeben ist.

Weder Goethe noch Lessing bringen fix und fertige Maßstäbe, Paradigmen, Vorurteile und Tendenzen zu ihren Stoffen heran, also auch keinen halbnatürlichen und halbforcierten Enthusiasmus, keine leere Ambition für Schulvernünftigkeit. Goethe wie Lessing kelterten ihre Trauben keinmal zu stark. Was sich aus der inspirierten Sinnlichkeit Goethes, was sich aus dem sinnlich belebten Verstande Lessings frei und mit natürlich harmonischer Anstrengung ergeben hat, das bildet den firnen Wein unsrer Literatur, aber die beiden Genien taten weder aus sittlichen noch aus religiösen, aus politischen, grammatischen oder dialektischen Tendenzen etwas hinzu oder hinweg, wenigstens stellen sich diese Tendenzen nicht prononciert, sondern nur als natürliche Gravitationen und Energieen heraus. An andern Dichtern, Denkern und Kritikern muß man immer beklagen und leiden, wie die Natur durch die Schule oder die Schule durch die Natur entstellt, wie nicht nur Seele durch Geist und Geist durch Seele potenziiert, sondern auch verschwächt, beirrt und alteriert wird. Lessings formale Vollendung ist das notwendige organische Produkt seiner natürlichen Integrität und Geistesökonomie, aus der sich die Wahrhaftigkeit, die Keuschheit und Gesundheit von selbst ergibt. Lessings Verstand erinnert wie Goethes Sinnlichkeit und Phantasie an die Göttin, deren Schönheit sich aus dem Schaum des Meeres gebar.

Gellert.

In der Genieperiode gehörte es zum guten Geschmack, unsern Gellert zu ignorieren, wiewohl er nicht nur für ein Prachtexemplar deutscher Lebensweisheit, sondern rein menschlicher Liebenswürdigkeit gelten darf. In der neuesten Zeit hat man sich in Konsequenz des Positivismus herabgelassen, von jenem antiquierten Autor aufs neue Notiz zu nehmen. Zum erstenmal aber wird Gellert von W. Menzel in seiner »Deutschen Dichtung« so treffend, herzlich und tief charakterisiert, daß ich die bezügliche Stelle hier anzuführen für eine Pflicht erachte.

»Gellerts Fabeln und Erzählungen, in Jamben geschrieben, haben Hagedorns und Weißes liebenswürdige Leichtigkeit der Form, übertreffen sie aber weit an Geist und Stoff. Sie sind zum Teil aus ältern und fremden Quellen entlehnt, doch die meisten originell und in hohem Grade gefällig durch eine gewisse naive Schalkhaftigkeit. In der Anspruchslosigkeit ist Gellert einzig, zur wahren Beschämung der Klopstockischen Pausbackigkeit. Gellerts Manier ist in ihrer Einfachheit die feinste und vornehmste; selbst Lessing kam ihm darin nicht ganz gleich, da Lessing, zur Sophisterei geneigt, nicht selten Unwichtiges wichtig zu behandeln liebte. Mit Recht wurden Gellerts Fabeln das Lieblingsbuch der Zeit und werden heute noch gern gelesen. Die Hauptsachen darin sind weniger die Fabeln als die komischen Erzählungen.

»Die geistvolle Geschichte vom Hute, vom Blinden und Lahmen, vom Greise, das Bad der Hinkenden, das Gespenst, der Selbstmord, Hannchen, das Unglück der Weiber, Hans kommt durch seine Dummheit fort, die beiden Nachtwächter, die Lügenbrücke, die Mißgeburt, Eulenspiegel, der Freigeist, die schlauen Mädchen, das Hospital, am Galgen, das vierzehnjährige Mädchen, die Bauern und der Amtmann, der Schatz, Hans Nord enthalten einen Schatz von Lebensweisheit und Kenntnis der menschlichen Schwächen und Torheiten, die mit unnachahmlichem Humor behandelt sind.«

E. Goethe.

»Claudius (der Wandsbecker Bote) kennt nur den unmittelbaren Ausdruck poetischen Lebens, den Naturlaut der Seele... Das Lied war die seinen Gaben angemessene Form. Es ist wahr, es sind nicht der sonnige Glanz, es sind nicht die seinen Umrisse, der buntfarbige Gestaltenreichtum der Goetheschen Lyrik ... schon der Umfang war weit enger. Zunächst fehlt so gut wie völlig die erotische Gattung. Grade hier hängt Leben und Dichtung so enge zusammen. Goethes so vielfach umgetriebenes Herzensleben hat bei dem Mangel eines stetigen Glücks gleichsam einen Ersatz dafür in diesen hundertfach modulierten Tönen gefunden.«

Wilhelm Herbst. Der deutsche Schulmann und Schriftsteller Wilhelm Herbst (1825–82), Verfasser der Biographie »Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote«, Gotha 1857.

Wir haben Liederdichter genug, welche die Einwirkung der Natur auf das Gemüt unmittelbar, tief und wahr aussprechen; aber sie vermischen die Naturgeschichten mit den Kulturgeschichten, die poetischen mit den spezifisch sittlichen Intentionen und verstatten den letztern ein unförmliches Übergewicht, anstatt von ihnen eine sittliche Folie für die Naturberauschung zu beziehen. Unsere modernen Poeten halten nicht in der rechten Weise Seele und Geist auseinander; indem sie aber solchergestalt das Gefühl durch Gedankenprozesse potenzieren und die natürlichen Divinationen nicht nur durch Gewissensskrupel beirren, sondern sogar durch sprachlichen Luxus und Literaturkonvenienzen korrumpieren, produzieren sie ein Bastardgenre von Philosophie und Poesie, in welchem sich weniger die Kraft ihres Herzens, der Witz ihrer Phantasie und die Majestät der Leidenschaft ausgestaltet als der Wirrwarr und die Mysterien, die aus dem Schisma von Natur und Geist, von Inspiration und Verstandeskultur hervorgehen.

In diesem Gefühlshades, in dieser Charakterlosigkeit mit ihren zerfließenden Nebelbildern und Metamorphosen aus aller Welt Enden und Zeiten, ohne gemeinsamen Schwerpunkt, ohne Kerngestalt und plastischen Witz; in diesem ewigen Wetterleuchten des Geistes durch das Chaos der Seele, dem kein fruchtbarer Landregen, kein Sonnenaufgang, keine Schöpfung folgen will, bestand eben die Sünde und Misere der falschen Romantik und Sentimentalität, von der uns der Genius Goethes erlöst hat.

Jene forcierten Romantiker kamen nicht aus dem Clairobskur, aus den aufgeblähten Weltempfindungen, aus den fabelhaften Gefühlen, aus dem heillosen Entre-deux von Traum und Wachen heraus. Ihre Weltkreise blieben ohne Zentrum, ihre ewigen Sehnsuchten und Wehmütigkeiten ohne Herz und Witz für die Gegenwart, ihren Geburtswehen folgte nie ein gesundes Kind; desto öfter aber das Wechselbalg eines monströsen Humors, der sich aus den Exzessen des Idealismus und Materialismus, der ausschweifenden Sinnlichkeit und der abstrakten Schulvernünftigkeit erzeugt.

Anderes geschieht uns im Verkehr mit Goethe.

Seine Zeugungskraft kommt nicht von einem krankhaften Dualismus, sondern von einer himmlischen Gesundheit her, von einer primitiven Harmonie aller Kräfte, die sich ebenso musikalisch als plastisch erweist.

Bei diesem größten Liederdichter der Welt versöhnen sich Phantasie und Liebe, verschmelzen die Sympathieen für die Natur und die Frauen zu einer bildkräftigen Leidenschaft, die allen romantischen Halbheiten und Unmachten ein Ende macht. Goethes Seele, obwohl vollkommen durchgeistigt, reflektiert nur flüchtig und selten den geistigen Faktor allein; und wenn es geschieht, so wird er im nächsten Augenblick von einem sinnlichen Gemeingefühl absorbiert, aus dem sich Wohl eine transzendente Seele entbinden, aber nicht auf Unkosten der Lebensharmonie und Plastik fixeren darf.

Goethes natürliche Empfindungen sind nie von Ideen beirrt oder von prononciert religiösen Gefühlen durchsetzt; auch die Mysterien des sittlichen Gefühls im Menschenverkehr, die Alterationen der Persönlichkeit in ihren Konflikten mit der Sozietät überträgt der Dichter keinmal auf das stille, gefeite Reich der Liederpoesie. (»Politisch Gedicht ein häßlich Gedicht.«) Er hält sich nicht nur von Reflexionen und prosaischen Vermittlungsprozessen ferne, sondern vermeidet sogar die zufälligen Abstraktionen, die komplizierten Schablonen und Mechanismen, welche die Sprache allen andern Dichtern oktroyiert.

Nie empfängt Goethe seine Impulse von der Philosophie, der Geschichte oder gar von der leidigen Form und poetischen Konvenienz, am wenigsten dürfen sich bei ihm sprachliche Wendungen und Figuren, stilistische Intentionen und ausgefahrene Literaturgeleise der organischen Form und dem seelischen Prozeß unterbauen. Grammatik und Dialektik sehen sich, wie im Traumdelirio, nicht selten durch Seele eingeschmolzen, der Phantasie und Symbolik dienstbar gemacht, nie aber macht die Liederpoesie Goethes der Rhetorik und literarischen Aisance die geringste Konzession.

Goethe ignoriert mit einem wundervoll poetischen Takt die wissenschaftliche Wahrheit oder Errungenschaft; er reproduziert die Naturgeschichten nicht, wie sie an sich sind, sondern wie sie erscheinen, und steigert so die Naivetät bis zu dem poetischen Witz, welcher Schein und Sein, Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, Geist und Materie, Form und Intention, Wort und Empfindung und alle Verstandesgegensätze nicht nur konfundieren und verwechseln, sondern eben durch grammatische Willküren die sublimsten Effekte erzielen darf. Goethe läßt z.B. »türmende Fernen von weichen Nebeln getrunken werden«; er sagt nicht die »sich« türmenden Fernen, das wäre in dem kühnen Bilde grammatische Pedanterie. Wer in solchen Bildern spricht, dem schwindet der grammatische Verstand und Respekt. Gleichwohl ist Goethes Seele nie von Freude taumlig und verflüchtigt oder von Schmerz auf einen Punkt konzentriert und monoton gemacht. Keine sittliche, keine soziale, politische, nationale Begeisterung darf diesem einzig wahrhaftigen Naturpoeten die olympische Ruhe und Heiterkeit, das natürliche Gleichgewicht, die natürliche Leidenschaftslosigkeit und Unparteilichkeit stören. Er kennt nur den Rhythmus, die Emphase und Akzentuation, welche die Natur selber besitzt und diktiert. Jedes emphatische Pathos, das aus einer Seele hervorgeht, die den Bruch zwischen Natur und Geist reflektiert, wäre an Goethe eine Widernatürlichkeit. Aus seiner unverwundbaren, unnahbaren, von dem Naturgeiste selbst gefeiten Harmonie geht eben seine Nivetät und Plastik, seine Schöpferkraft, seine Grazie und Durchsichtigkeit, geht der objektive, nirgend zersetzte, also der reale, absolut gesunde Charakter seiner Lieder hervor.

Goethes Sprache und Form wie seine normale Organisation und Einbildungskraft ist das reinste Medium für die Natur. Was nicht zu ihr und ihren normalen Prozessen gehört, scheidet dieser hohe Priester, dieser geweihte Dolmetsch der Natur so keusch, mit so spielend naiver und doch so unwiderstehlicher Bildkraft aus, daß man ihn nicht nur einem durch tausend Erdschichten filtrierten Gebirgsquell, sondern einem Gletscher vergleichen darf, welcher Erde, Steine, Sträucher, Leichname und jeden in ihn hineingeratenen fremden Körper wieder ausscheiden muß.

Beim Genusse eines Gedichts von Schiller muß man sich nicht nur durch das Medium der Sprache, sondern des Stils und der Rhetorik hindurcharbeiten, wie bei den Malern durch die Farbenpalette und Schulmanier.

Wie aber Tizian das Farbenpigment so wunderbar beseitigt hat, daß man nur das lebendige Fleisch und die Blutwelle zu sehen meint, so stört auch an Goethes Gedichten nicht mehr die Sprache durch eine Dialektik oder einen Stil.

Der Goethesche Witz und seine Kunst besteht in einer solchen Vermittlung seiner Anschauung und Seelenprozesse mit der Sprache, daß diese als Lebensunmittelbarkeit empfunden wird. Goethe gießt, ohne sich greller Farben zu bedienen, die natürliche Magie des Lebens, von welcher die erschaffenen Dinge umwebt werden, in die Seele, und diese primitive Illusion, dieses durch den Dichter reproduzierte Gemeingefühl überträgt sich auf alle Einzelheiten und verleiht jedem Wort und Bilde, jeder Farbe und Form den Effekt des ganzen Lebens, der ganzen Situation.

Die Intentionen und Empfindungen, die Bilder, Sprachfiguren, Wendungen und Übergänge, die ganze Form und Evolution Goethescher Gedichte eignen in allen Momenten nur der Natur, empfangen ihre Impulse unmittelbar von ihr und keinmal von dem wissenschaftlichen Geiste oder von der Literatur, nicht einmal von der Kunst.

Durch Goethe sieht sich nicht nur der förmliche, der konventionelle und kritische Verstand, der Sprachverstand flüssig gemacht, sondern auch die Kunst selbst in das Naturgesetz zurückgelöst. Bei einer Gelegenheit geht der Dichter »mit verhüllten Schritten«, ohne im Staube, im Wasser, im hohen Grase oder hinter Büschen zu gehen; sondern die verhüllte Welt, die in Melancholie verhüllte Seele wird symbolisch auf den Gang übertragen.

Goethes Seele, so sehr sie durch seinen sublim gebildeten, gedankenreichen Geist potenziiert wird, reflektiert nie sentimental das Schisma von Geist und Natur, zeigt nie die Melancholie um das verlorne Paradies und den ererbten Tod. Goethe schärft seine Gefühle selten zu solchen Leidenschaften und Charakterakzenten, die ihm das Gleichgewicht der Seele und die Klarheit der Gedanken schädigen, sondern bleibt seiner Ehe mit der Natur getreu, die ihm Elastizität, natürliche Akkommodation und Grazie diktiert.

Alle Poeten der Welt, außer Homer, Shakespeare und Goethe, sind mehr und weniger zerrissen, nur diese drei sind durch und durch bildkräftig, unverletzt und gesund.

Goethe, der Mensch, ist gezwiespaltet in den Dichter und in den Menschen, aber der Liederdichter, der Naturpoet ist in ihm so heil und rein, so plastisch naiv und inspiriert, so mit sich selbst versöhnt und in sich abgeschlossen wie kein Dichter mehr in alter und neuer Zeit.

In den Goetheschen Liedern, welche Natur und Liebe singen, ist nicht nur jede Wendung und Evolution, jedes Bild der Natur abgelauscht, sondern jedes Wort ein Schuß ins Schwarze; das ist zu mechanisch gesagt: Goethes Liederworte sind die Blutwellen, die Konfigurationen, die Lebenspulse, die Mysterien der Natur selbst. »Dein Bestreben«, sagte Merck Goethes Freund Johann Heinrich Merck (1741–91). zu Goethe, »deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt dummes Zeug.«

Gewöhnliche Lieder mögen immerhin durch gute Komponisten veredelt und bedeutsam gemacht werden, aber Lieder von Goethe, in denen oft jedes Wort ein Blitz ins Herz, ein Zauberwort, ein Ton ist, der die Seele durchzittert und Geister zitiert, die werden durch Musik abgeschwächt, wenn es nicht die von einem ebenbürtigen Meister ist. In vielen Liedern Goethes ist die Sinnlichkeit so vergeistigt und der sublimste Verstand so mit Seele getränkt, daß man mit diesem Wunder vollauf zu tun hat und weder eine schlechte noch eine gute Komposition als Zugabe assimilieren kann.

Wer kann »Wolken, die sich um Felsen verziehn – Frühlingslüfte, welche knospende Blüten umquellen – Winde, die mit den Wellen buhlen« und »das Wellen atmende Gesicht des Mondes im Wasser« komponieren? Statt daß die Musik das Lied mit Fleisch und Blut bekleiden soll, sieht sich in Goetheschen Liedern der Komponist entweder zum abstrakten Ästhetiker degradiert, der die poetischen Schönheiten mit Tönen anatomieren oder den Musik atmenden Worttext in eine zweite Tonpoesie umschmelzen muß, durch welche das Lied verloren geht. Goethesche Gedichte haben schöne Kompositionen hervorgerufen; aber sie charakterisieren Goethes Bilder, Intentionen, Naturmysterien und symbolische Geschichten keineswegs.

Goethe, der Liederdichter, ist ein Halbgott; Goethe, der Dichter von Dramen und Romanen, ist (wenn man den ersten Teil des »Faust« ausnimmt) ein höchst talentvoller Mensch, mit Schwächen und Literaturnarrheiten wie andere Poeten auch.

Über diese Wahrheit kann bei dieser Gelegenheit nur eine Andeutung gegeben werden, die aber recht eigentlich zur Charakteristik der Deutschen gehört, und die ich an »Wilhelm Meister« anknüpfen will, weil dieser Roman eine Bedeutung für deutsche Art und Bildung gewonnen hat wie kein anderer mehr.

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»Wilhelms Lehrjahre gehen auf die Erwerbung einer sichern und harmonischen Bildung, der es gelinge, die Ständeunterschiede des achtzehnten Jahrhunderts zu überwinden. Es wird eine Einheit der Lebensexistenz erstrebt, als Grundlage für das Hervorgehen der reinsten und geläutertsten Persönlichkeit, die sich zum Besitze des Guten, Schönen und ihr Gemäßen erzieht.« ( Theodor Mundt.) Vgl. S. 119, Anmerkung.

»Wilhelm Meisters Lehrjahre« sind jedenfalls eine höchst merkwürdige Dichtung. Goethe gibt in derselben mit liebenswürdiger Naivetät die Geschichte seines eignen Bildungsprozesses, d.h. die weltbürgerliche Ambition des Deutschen, der an seiner Person und Biographie eine ideale und harmonische Welt verwirklichen, sein Leben zu einem Kunstwerk sublimieren will. Zum Boden für die angestrebten Prozesse und Kulturabenteuer ist die Schauspielkunst als diejenige gewählt, welche sich mit allen andern Künsten enfiliert und am meisten populär gemacht hat; und so findet sich denn die Abspiegelung deutscher Sitte, Art und Gesellschaft von selbst heran. Liest man diesen echt deutschen Roman heute mit modernem Sozialverstande, mit dem vollen Bewußtsein aller »politischen Errungenschaften« wie der Forderungen der Gesellschaft an das Individuum, so macht das berühmte Buch einen verwirrenden und fast tragischen Eindruck; denn Börnes summarisches Verdikt: »In diesem Buche ist zu lesen, wie ein schlapper [deutscher] Wilhelm nicht recht bei Troste gewesen«, hat in Bausch und Bogen seine Richtigkeit, besonders wenn man vergißt, daß man es mit einer Dichtung aus einer entschwundenen Zeit und mit der idealisierten Selbstbiographie eines Poeten zu tun hat, dem es der heiligste Ernst war, die Kunst und noch mehr die rein menschliche Bildung aus den individuellen Anlagen und Neigungen zu entwickeln. Zu Goethes Zeit glaubte man noch an die absolute Bedeutung der Persönlichkeit wie an die Berechtigung des Genies, die Gesellschaft zu ignorieren, d. h. seinen eignen genial-romantischen Weg zu gehen. Das Heil des Staats wie der Menschheit ergab sich nach dem damaligen Glauben aus der persönlichen Bildung und Würde aller Individuen von selbst. Der deutsche Partikularismus, der aus dem deutschen Individualismus hervorwucherte, kam entweder nicht in Betracht, oder man ersah in demselben ein willkommnes Fördernis für vertiefte Bildung und Genialität.

Die politischen Hindernisse, die Willkürmaßregeln der Regierung konnten nach der Meinung Goethes nie so tyrannisch oder verkehrt werden, um die persönliche Entwicklung der begabten Individuen zu hindern, und auf diese kam es ja eben für die Künste und Wissenschaften an. Die Masse blieb bei Arbeit, Natürlichkeit und Gebet. Heute hat man umgekehrt die Notwendigkeit ins Auge gefaßt, die Freiheit der Massen durch Verfassungen, durch kontrollierte und kodifizierte Verwaltungsformen, durch korporative Rechte und solche Grundrechte zu garantieren, aus deren Studium und Wahrung für alle Individuen ein Rechtsbewußtsein, ein Nationalgefühl und mit demselben eine staatsbürgerliche Ehre hervorwächst, welche für alle andern Bestrebungen und Tugenden das Maß abgeben darf.

Heute soll also die Humanität zunächst nicht aus einer weltbürgerlichen, idealen und allgemeinen Bildung, sondern aus dem sozialen und nationalen Leben, aus dem Rechtsbewußtsein der Massen, aus ihrer politischen Mündigkeit hervorgehen. Der Staat und die Gesellschaft sollen sich nicht zunächst aus den durchgebildeten Individuen produzieren, weil die Kulturgeschichte aller Völker lehrt, daß eben die ästhetisch und philosophisch gebildeten, die reifgewordenen Personen dem Staate selbstschwelgerisch und exklusiv gegenüberstehen. Die Personen sollen vielmehr an dem Rechtsschematismus, an der Staatsschablone, an dem öffentlichen Leben, an den staatsbürgerlichen Pflichten ein Gegengewicht und eine Rektifikation ihrer Sondergelüste und ihres deutschen Partikularismus gewinnen. Nicht nur durch Zurückstellung der materiellen Privatinteressen, sondern durch eine Verleugnung des deutschen Individualismus, durch das Herausbilden des Gattungscharakters, d. h. des objektiven und förmlichen Verstandes, des Sozialverstandes durch Assoziationen, soll die neue Zeit herbeigeführt werden; hierin soll die Bürgertugend und der Kern der zukünftigen Humanität und Sittlichkeit bestehen.

Wo hält vor solchen Weltanschauungen die Goethesche Lebenskunst und Lebensphilosophie, die Goethesche Bildungsberechtigung und Kunstreligion Stich? Sie kennt von ihrem Standpunkte nichts Höheres als einen Bildungsprozeß des begabten Individuums, welcher aus den Faktoren der Natur und der Kunst hervorgeht, um die antike Kunstnatur, die heidnische Schönheit und Lebensharmonie zu produzieren. Schade, daß der Träger dieser rehabilitierten griechischen Humanität ein so vielseitig mittelmäßiger, so charakterlos bildsamer, so widerstandslos belehrter, kurz ein so »schlapper neudeutscher Wilhelm Meister« ist, daß man nicht begreift, wie er nur aus den Lehrjahren heraus, geschweige denn in die Meisterjahre hineinkommen soll! Der Name gemahnt also an das » lucus a non lucendo – nomen et omen«; Lateinisch: Name und Vorbedeutung. die Wanderjahre sind unserm Wilhelm nur aufgeheftet, nur eine naive Mystifikation des Publikums wie des Autors, die Meisterjahre von vorne herein eine Unmöglichkeit. Was nun insbesondere die mit Goethe und später mit Schelling, Tieck und Novalis Mode gewesene Tendenz betrifft, das persönliche Leben zu einer schönen Kunst auszugestalten, so kommt mir keine Überschwenglichkeit und keine Affektation der Schellingianer und Ästhetiker widerlicher und widernatürlicher vor.

Der geborne Romantiker, das heißt der poetische Mensch fühlt sich von der bloßen Möglichkeit empört, das Wunder und Heiligtum des Lebens auch noch außerhalb der Künste und Wissenschaften zu einer unmittelbarsten Kunst und Wissenschaft zu machen.

Es liegt bereits in Künsten und Literaturen eine Profanation, eine Korruption des menschlichen Daseins und der Lebensmysterien, so daß ein gesund organisierter Mensch dem Himmel auf Knieen dankt, wenn nicht alles Leben in Künsten und Wissenschaften aufgehen darf. Um die Lebensunmittelbarkeit, die eigne Seele und Divination zu genießen, bedarf es freilich der Wissenschaft und Kunst, denn im Wilden, im Halbbarbaren und Bauerknecht wird der Geist von dem natürlichen und instinktiven Leben ersäuft; aber das Kennzeichen für einen Dichter und Denker, für einen Literaten von Profession, ob er ein heiler Mensch ist, besteht darin, daß er Anstalten macht, den Überrest seiner Natur, seiner Praxis und seines Gemeingefühls der zersetzenden Kritik wie den Schablonen der Künste und Wissenschaften zu entziehen.

Das Leben kann nur unter der Bedingung von den Künsten und Wissenschaften gefördert werden, daß diese selbst bis zu einem gewissen Grade esoterisch verbleiben, daß sie nicht so populär werden, wie es die Tagestendenz mit sich bringt; denn im letztern Falle bilden sie zum wirklichen Leben und zu den Werktagsarbeiten nicht mehr den kräftigen, idealen und reizenden Gegensatz, aus welchem alle Bild- und Zeugungskraft entsteht. Die Kunst hat mit der flüssigen und metamorphosenreichen Natur das Prinzip der »Akkomodation«, der Grazie und Harmonie gemein. Dies Kunst- und Naturprinzip ist es aber eben, welches bei dem Lebenskünstler die Charakterenergie untergräbt.

Wilhelm Meister ist ein köstlicher Repräsentant der deutschen Lern- und Bildungsmenschen von sonst, die heute par force in dramatische Charaktere, in lauter Menschen des Willens und der Tat übersetzt werden sollen. Der Mensch besteht aber aus »Vorstellung und Wille«, Vgl. Schopenhauers Werk: »Die Welt als Wille und Vorstellung« (1819). aus Passivität und Aktivität, aus natürlicher Akkommodation und sittlicher Charakterenergie, aus Empfängnis und Tat zugleich. Jeder künstliche Stimulus des einen Faktors erzeugt notwendig eine Reihe von Reaktionen und Kontrebalancen, in welchen die Lebenskraft verschwendet wird. Die Fortschritts- und Bildungsparolen, denen zufolge die Leute womöglich alle sechs Wochen »einen überwundenen Standpunkt« ankündigten und dazu erklärten, daß sie selbst »andre geworden seien«, vertragen sich schlechterdings nicht mit der vollendeten Charakterfestigkeit, mit der Energie, der Mannhaftigkeit und Tatkraft, die auf der jüngsten Tagesordnung stehen. Die Männer der Tat und des felsenfesten Sinnes sind nimmermehr die Leute der permanenten Reformation; sie sind vielmehr Absolutisten, d.h. Männer, die an ein absolutes Prinzip glauben und es an ihrer eignen Person verwirklichen; sie wollen Autoritäten sein, während diese heute kassiert und an ihrer Statt die Ideen in Kurs gesetzt sind.

Die Ökonomie der Natur und das Lebensgesetz der Ergänzung machen, daß heldenhafte Naturen, die nicht ganz einseitig sind, Wissenschaften und Künste und ihre Träger mehr verehren als Tapferkeit und Helden (wie man das nicht nur an Friedrich, sondern auch an Karl dem Großen nachweisen kann); den Gelehrten dagegen imponieren Charakterenergie, Mut, Entschlossenheit und praktischer Verstand, kurz die Qualitäten, welche ihnen abgehen. Eben weil unsere Zeit so viel Literaten, Krittler und Räsoneurs, aber so wenig charakterfeste Männer und Originale hat, darum wird der Kultus der Charaktere und der Tatkraft, der Kultus des Dramas, durch welche Charakterkraft anschaulich wird, so einseitig übertrieben.

Der Mann schwärmt weniger für Männer als für ein recht weibliches Weib, das zarteste Weib für den heldenhaftesten, ja oft für einen plumpen, schroffen Mann. Wer recht viel männliches Wesen in sich trägt, der wird es nicht so überschätzen und namentlich nicht auf Unkosten des Gefühls, der Gedankenbildung, der Poesie und Philosophie, als der junge Gelehrte, welchem sein Gewissen sagt, daß das männliche Teil an ihm von Natur vernachlässigt oder nicht durch Willensäußerung und Tatkraft entwickelt worden ist. In Gottes Welt aber gehen alle Kräfte zu gleichen Rechten, und wenn einem Teil die Weltherrschaft zuerkannt werden soll, so muß es der Gedanke sein. Ein Percy Heißsporn Vgl. S. 208, Anmerkung. ist zwar ein besserer Mann als Wilhelm Meister, aber er ist doch ein Lump, wenn man ihn an Schiller und Goethe oder an Leibniz, Kant und Hegel bemißt.

Was endlich die künstlerische Bedeutung des berühmten Romans betrifft, so gibt derselbe ebensovielen ästhetischen als ethischen Ausstellungen Raum.

Die Charaktere in »Wilhelm Meister« »modellieren sich allerdings von selbst«; sie haben den Zauber, die Schönheit und Wahrheit der Natur; aber eben diese vollkommene Natürlichkeit ist nicht nur unkünstlerisch, sondern auch unsittlich im sublimsten Sinn. Die Natur soll in der Kunst wie in den sittlichen Prozessen irgendwie inhibiert, sie soll stilisiert und gewissermaßen schematisiert werden; denn erst durch Schematismus, durch Stil unterwirft der Geist die elementare, flüssige, verwandlungsreiche Natürlichkeit einer Norm. Daß dies Stilisieren und Schematisieren leicht zur Unnatur hinführen kann, zeigt die dramatische Kunst eines Corneille und Racine, ändert aber den Kunstbegriff und die Notwendigkeit eines Kunststils keineswegs.

Im Kunstwerk, namentlich im Drama und im didaktischen Roman, muß sich nicht alles von selbst machen oder zu machen scheinen, sondern es muß auch gemacht werden; denn nur auf diese Weise sind dem sinnlichen wie dem sittlichen Verstande Anhaltspunkte und mit ihnen sittliche Genugtuungen gewährt. Der Mensch ist einmal ein sittliches, d.h. ein solches Wesen, welches durch seinen Geist und Willen auf die Sinnlichkeit zurückzuwirken und in der Kunst ein Abbild der geistigen Reproduktion der Natur herzustellen vermag. Goethe und seine Helden wirken darum unsittlich und unkünstlerisch, weil sie allzu natürlich, zu genießlich, zu selbstschwelgerisch charakterisiert sind, und weil dieser Naturalismus noch wieder zu natürlich, d.h. ohne prononcierten Stil dargestellt ist; weil es den Charakteren wie der Darstellung an Gravitationen und sittlichen Akzenten, weil es dem Dichtwerk an einem Zentrum, einem sittlichen Ziel und Zweck, an der Haltung, d.h. an derjenigen Einheit gebricht, in welcher sich die Herrschaft einer Idee über das bunte Metamorphosenspiel der Phantasie, der sinnlichen Launen und zerfahrenden Willkür manifestiert.

Daß sich mit der Schulvernunft allein kein Roman oder Drama dichten läßt, kann nicht gewisser sein als die Wahrheit, daß ohne ideelle Einheit, ohne leitende und treibende Idee die dichtende Kraft Phantasiebrücken baut, die kein Verstand zu passieren vermag; daß sich die Dichtung zuletzt den tiefsten Forderungen unsrer sittlichen Natur entfremdet und Auswüchse produziert, welche sich weder mit einer harmonischen Totalwirkung noch mit dem Begriff eines Kunstwerks vertragen, in welchem Stil und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit und alle andern Gegensätze reell versöhnt sein sollen.

Strengstilisierte Dicht- und Kunstwerke, Dichtungen mit prononciert sittlicher Tendenz, wie sie unser charakterfeste und männliche Schiller geschaffen hat, werden zwar den niedern Schichten des Volkes, den ganz gemeinen und trivialen Leuten ungenießbar bleiben, aber um so mehr befriedigen sie das ideale Bedürfnis der großen Masse solcher Naturalisten, die ein sittliches Gegengewicht für ihre empirische und materielle Lebensart erstreben und verstehen. Diese wenden sich mit Unmut und Indignation von der Romantik und von allen Dichtungen ab, in welchen sie einen Kultus der flüssigen Naturformen, der elementaren Naturgeschichten begegnen, denen sie eben entrinnen wollen. Die exakte Naturwissenschaft ist ihnen willkommen, weil sie von ihr lernen, wie man sich die Natur unterwirft; aber die Naturdichtung, die Romantik, die Lyrik, welche Naturberauschungen zum besten gibt, und die Romanpoesie, welche das Kulturleben auf dem Untergrunde der menschlichen Naturgeschichten, d.h. der Leidenschaften malt, ist den bildungsbeflissenen Mittelständen und Praktikern eine Fatalität. Die echte Nationalpoesie muß eine prononciert sittliche Tendenz und in Übereinstimmung mit derselben einen strengen, prononcierten Kunststil haben. Durch diesen Stil und seine Tendenz ist Schiller populärer und nationaler als Goethe, trotz seines größern Anklangs bei den Hochgebildeten und Gelehrten der Nation.

Schiller inhibierte nicht nur durch seinen erhabenen Stil den Naturalismus der Praktikanten, sondern er befreite auch durch seinen philosophischen Idealismus die geschulten Leute von den Fesseln des Dogmas und der gelehrten Konvenienz. Die jüdische Jugend zumal warf sich diesem Poeten wie einem Erlöser in die Arme, und wer ihn nicht zu fassen vermochte, der fühlte den Schwung, das ideale, hehre Wesen des Mannes heraus und veredelte sich durch ihn; man lernte nicht nur, man wurde etwas durch seine Werke.

F. Schiller und Goethe.

Was die Menge verstehen soll, muß nicht nur natürlich gewachsen, sondern auch selbstbewußt, mechanisch und förmlich gemacht, muß im sittlichen Geiste konzipiert worden sein. Was in der Seele, in der Individualität empfangen ist und unmittelbar aus ihr in die Sprache übergeht, begreift nur der wahlverwandte Sinn. Der Genius ist erst Künstler und Dichter durch die Art und Weise, wie er das generelle und individuelle Leben, wie er die Konzeptionen der Seele mit dem Geiste und mit solchen Formen verschmilzt, die dem Durchschnitt des Menschenverstandes faßlich sind. Goethes Naturempfindung scheint objektiv, weil sie normal ist; und doch spiegelt sie nur die Organisation dieses Genius zurück und hat in den Liedern nur die Form, welche unmittelbar aus den Prozessen des Stoffes und dem gewonnenen Gleichgewicht des Poeten hervorgeht. Form und Stoff sind in Goethes Liedern harmonisch wie an einer Blume; man kann nicht einmal sagen: wie an einer Kristallisation, denn die poetische Form ist bei diesem echten Naturdichter so durch und durch organisch, daß sie uns sehr selten als eine Macht und ein Ding für sich, wie z.B. bei Schiller, entgegentritt. Während aber mit Schillers objektivem, sich für alle sittlichen Ideen und Tatsachen verleugnenden Geiste eine Mitleidenschaft verbunden ist, durch die eben das objektiv (sittlich) gewordene Gefühl manifestiert wird, so zeigt Goethe nur die objektive Empfindung, d.h. die Sympathieen und den Kontakt mit der elementaren Natur; nicht selten auch ihren Egoismus und ihre Herzlosigkeit. Die Geschichte, die Politik, die Gesellschaft, die sittliche Welt faßt Goethe so subjektiv und kühl wie Schiller die Natur. Mit den Worten »subjektiv« und »objektiv« sind also die beiden Dichterfürsten nicht charakterisiert. Schiller ist der zweckbewußte didaktische, Goethe der improvisierende Naturpoet.

Der Idealismus Schillers ist so objektiv wie der Realismus Goethes. Während Schillers philosophischer Idealismus von einer sittlichen Begeisterung getragen wird, die sich durch eine männlich-vernünftige Selbstvergessenheit charakterisiert, ist eben Goethe der weiblich geartete Mann, der gebildete Naturalist, der sein Ich selten vergißt. Nur dem Schillerschen Geiste ist die ganze, unverkümmerte Mitleidenschaft für den Menschen vermählt. Seine Geistersprache, die uns als ein Wunder berührt wie die Goethesche Naturempfindung, durchzittern alle Sympathieen einer schönen Menschenseele. In Schillers Worten pulsiert das ganze vernunftveredelte Herz. Goethes Lieder, seine Naturempfindung und Naturdurchschauung, seine musikalische Bildkraft und divinatorische Naivetät bleiben ein Wunder der Natur im Menschengeiste und in einem Gelehrten dazu. Aber Schillers durchgeistigte Sprache ist ein Wunder des Geistes und eines rethorischen Witzes, von dem die Wiedergeburt, die Grazie, die Beredsamkeit unsrer deutschen Schreibart datiert. Vor Schiller hat kein Deutscher wie er geschrieben, und noch schreibt keiner mit diesem edeln Schwung und zugleich mit dem stilistischen Facettenschliff eines demantharten und reinen Charakters, dessen Feuer in Brillantfarben spielt. Nichtsdestoweniger spricht dieser spirituellste aller Poeten sein Ideal dahin aus, der Geist solle sich die Ökonomie der Natur zum Ziele setzen, wie in dieser, so solle auch im menschlichen Leben und Handeln Freiheit und Gesetz zur Schönheit versöhnt sein.

Die Einseitigkeit beider Geschlechter ist der Grund ihrer Zeugungskraft und Lust; sie kann nur ein Ergänzungsprozeß sein, der seinerseits aus der Integrität alles Lebens hervorgeht. So muß denn auch im lebendigen Stil wie in aller schönen organischen Form das männliche Element zugleich mit dem weiblichen vertreten sein. Erst aus solcher Polarität und Neutralisation kann die wahre genugtuende Bildkraft hervorgehen. Die weibliche Art, ihre Anmut und Harmonie, ihre Flüssigkeit und Mitleidenschaft nimmt dem Stil und jeder Form den Kraftüberschuß, den Rhythmus, durch welchen er den Hörer und Leser übermannen soll; aber die männliche Natur allein ermangelt der Milde, der Weichheit und Schmiegsamkeit, der Flüssigkeit, durch die der Geist des Redners und Stilisten mit dem des Publikums verschmilzt.

Die vereinte Wirkung des weiblichen und männlichen Elementes im Stile Schillers ist es aber, die ihn so hinreißend und befruchtend, so erhaben und anmutig, so graziös und energisch zugleich, so vollkommen schön macht, daß selbst die einschmeichelnde Anschaulichkeit, die Unmittelbarkeit Goethes gleichwie die einfach-verständige, harmonische Plastik in der Sprache der griechischen Klassiker gegen Schillers Sprache in der sittlichen Wirkung zurücktreten müssen. Der Prosa Goethes fehlt die stürmende rhythmische Kraft, die Charakterenergie, die Entschiedenheit und Offenheit des männlichen Geistes; und den Alten gebricht trotz aller schönen Natur und Unmittelbarkeit der Seelenüberschuß nicht minder wie die religiöse Begeisterung, die der Gewinn und das Kriterion des christlichen Geistes ist, der auch den sittlichen Enthusiasmus, den Idealismus unseres grunddeutschen Schillers im Schöße gezeitigt hat. Eine Magie, einen Magnetismus, einen Adel der Sprache wie dieser Genius hat kein Sterblicher mehr; denn in ihm vermählt sich ganz und gar der Philosoph mit dem Poeten und eine sympathieengeschwellte Seele mit dem vernünftigen Geists. Daß wir Deutschen uns in der Schriftsprache als ein ungeteiltes Volk begreifen, ist Luthers und Schillers Verdienst.

Goethe ist Realist, aber sein Realismus arbeitet sich nicht bis zur Weltgeschichte durch wie bei Shakespeare, sondern bleibt im Genrebilde hängen; und der Idealismus, den er als ergänzenden Faktor gibt, wird von dem Faktischen so aufgezehrt, daß er es zu keinem spirituellen Überschuß, zu keiner transzendenten Kraft bringen kann. In einem frei von allen materiellen Basen entbundenen Idealismus, in einer überschüssigen Begeisterung, von welcher die Wirklichkeit nur als Vehikel gebraucht wird, liegt aber Schillers Liebenswürdigkeit, seine sittliche Naivetät und fortreißende Kraft, die Erhebung über die gemeine Wirklichkeit, die eben der praktische Mensch, der gequälte Werktagsmensch so dringend ersehnt.

Eben die Schulgebildeten empfinden, daß Goethe ein so großer Dichter durch Lebensunmittelbarkeit ist, durch die glückliche und wunderbare Art, wie sich in seinen Liedern und auch in seiner ungebundenen Rede die Seele des Lebens in Bildern, in einer solchen Ökonomie von Worten abfängt, mit der für unsere Phantasie Dinge und Geschichten wie auf einen Zauberschlag ins Dasein treten. Das ist ein Wunder, das ist Poesie im bevorzugten Sinn, das ist ein unbezahlbarer Faktor gegenüber dem Schulverstande, gegenüber einer Bildung, die nichts unmittelbar an sich kommen läßt, sondern alles förmlichermaßen reguliert und vermittelt haben will. Bei diesem Räsonnement aber dürfen wir nicht stehen bleiben, wenn wir Schiller gerecht würdigen wollen. Falls die Welt aus lauter gebildeten Leuten, aus Pedanten und Philosophen bestände, so wäre Goethe mit seiner divinatorischen, plastischnaiven Art der Erlöser von Überkultur, von Dialektik, Rhetorik und Grammatik, von Schematismus und Schulmeisterei; da aber Volk und Naturalisten die Masse der Menschheit ausmachen, so wird Schiller, weil er der Architekt, der Stilist unter den Poeten, weil er der förmlich prozessierende, der reflektierende, der sittlich-begeisterte tendenziöse Dichter und Denker ist, auch der Literaturheroe der deutschen Nation bleiben, denn er bringt ihr das Element zu, welches ihr gebricht. Natur- und Lebensunmittelbarkeit, Plastik und Tatkraft hat die Masse selbst; aber es fehlt ihr förmliche Bildung, sittlicher Rhythmus, sittliche Akzentuation, Charakterfestigkeit und Stil. Diese Fakultäten können aber allein durch Begeisterung für die Idee der Geschichte, der Wahrheit, des Rechts, der Gesellschaft, der Geistesfreiheit, das heißt der Geistesinitiative erzogen werden; nicht aber dadurch, daß man mit Goethe singt: »Ich hab' mein Sach' auf nichts gestellt, Juchhe!« Goethe ist sublimierter Naturalist, das gebildete Publikum befindet sich der Hauptsache nach in demselben Fall; die große Masse ist dem Materialismus ergeben, eben darum wird sie nur durch den Idealismus eines Dichters und Denkers erlöst, den die Natur zum Idealisten gestempelt hat, der sich nie geschmeidig wie die Natur, nie wetterwendig und verwandlungsreich zeigt, der immer in der Arbeit des Geistes, in der Offensive bleibt, der nie zum Temporisieren, zu Naturellisten, zu ausweichenden Zickzackmanövern, zu Praktiken geneigt ist. Dem rigorosen Gelehrten imponiert nach dem Gesetz der Reaktion der Realismus, die Naivetät, die Inspiration und Lebensunmittelbarkeit, die plastische Objektivität, die natürliche Akkommodation Goethes und alles das, was dem Schematiker, dem Denker fehlt; aber dem Naturalisten, dem Empiriker und Praktikanten, der Jugend, dem sinnlich gearteten Weibe, der Masse der Nation, welche sich in elementaren Banden gefangen fühlt und ihnen durch Vernunftkultur, durch Ideen und Begriffe, durch sittliche Formen, durch eine Lebensnorm, durch einen Lebensstil und Schematismus, durch ideale Charakterbildung, durch Begeisterung für die Menschheit entfliehen will: sie alle empfinden Schillers Worte und Werke als eine sittliche Macht, als das Literaturevangelium; sie bekennen in dem edeln Württemberger den Dichter und Denker der deutschen Nation. Goethe, so groß er dasteht, kann leicht schädlich auf diejenigen wirken, die schon zur Versatilität, zur diplomatischen Grazie und Akkommodation, zur Charakterlosigkeit, zum natürlichen Egoismus hinneigen; Schiller veredelt jedermann, er sei, wer er und wie er sei. Goethes sinnlich-seelische Empfindungen und Anschauungen scheinen ohne seinen Willen, ohne Arbeit und Anstrengung, fast durch glückliche Organisation allein, so objektiv, so normal und der Natur der Dinge so glücklich abgelauscht, daß jeder gesund organisierte Mensch an des Dichters Darstellung die eigne, natürliche Auffassung und Empfindung wiederholt und rektifiziert; aber Schillers Gedanken und Ideen, Schillers Intentionen und sittliche Impulse fühlen wir alle als durchgekämpfte Prozesse, als einen Bruch von Sinnlichkeit und Vernunft, als einen Sieg des generellen, des rhythmischen, des förmlichen, des präzisen, also des sittlichen Geistes über den natürlichen Egoismus, die natürliche Trägheit und Gedankenlosigkeit, über die elementare Unregelmäßigkeit, Sinnlichkeit und Selbstschwelgerei, als Siege des Charakters und des historischen Verstandes über die natürliche List und Akkommodation, über die natürliche Wetterwendigkeit, Akzentlosigkeit und Treulosigkeit. Schillers Gedanken und Intentionen sind die Gesetze, in und mit denen die Menschheit, der Staat, die Kulturgeschichte, die sittliche Welt besteht.

In Goethes Liedern und Romanen bespiegelt sich das Individuum wie in einem See; man sieht, je nachdem man will, bald den Grund, die Ufer, den Himmel oder das eigne Gesicht, man kommt ins Träumen, ins Schauen, man fällt in den Mittelpunkt seiner elementaren Natur zurück. An Schillers Gedichten und Dramen bespiegelt sich aber die menschliche Vernunft, der ideale Mensch. Schiller hält der Menschheit, der Geschichte selbst einen Spiegel vor. Wenn Goethe nicht mehr verstanden, wenn er zusamt Schillers Werken verschwunden, vom Strome der Geschichte ins Meer der Vergessenheit fortgespült sein wird, dann werden die Ideen, die Wahrheiten und Intentionen fortwirken und vielleicht realisiert sein, welche Schiller vertreten, durchdacht und überdichtet hat.

Goethe lieben und fürchten wir zugleich, wie die Natur; wir lieben ihn wie das Weib, dem wir um der natürlichen Listen und Wetterwendigkeiten selten ganz und gar trauen; Goethe, der Dichter, hat seinen Glauben, seine Sache und Philosophie auf alles und auf nichts ausschließlich gestellt; Schiller auf heilige Wahrheit und heiliges Recht, auf die Menschheit, die Geschichte und den vernünftigen Geist. Schiller der Dichter, der Denker und Mensch ist eine und dieselbe Person; von Goethe läßt sich das nur mit Einschränkungen behaupten. Wir lieben Schiller wie einen herrlichen, totgetreuen Freund; wir vertrauen ihm, die Besten fühlen sich ihm geistesverwandt wie dem edelsten der Männer, welche die Kultur, die Menschenerziehung, die Kunst und Wissenschaft aus ihrem Schoße gebar. Goethe ist uns so einfach und durchsichtig und doch so allgestaltig und mysteriös wie unsre eigne Natur; wir trauen ihr alles in natürlichen Augenblicken und nichts in einem übernatürlichen Moment, wo das Gewissen, wo Gott, die Ewigkeit und der heilige Geist der Weltgeschichten zu uns sprechen. Aber mit Schiller möchten wir in allen Zeiten und in allen Augenblicken Verkehren; ihm geben wir uns hin wie unserm bessern Geiste und Genius; von ihm lernen wir nicht nur, durch ihn werden wir etwas, weil er nicht nur Dichter, sondern der tiefste und edelste Charakter ist, den die deutsche Literatur und die deutsche Bildung ausgeprägt haben.

Goethe erscheint neben Schiller als eine weibliche Organisation, als die Inkarnation der Natur, welche alle unsre Sinne umbuhlt und den Geist gefangen nimmt; während Schiller, der Mann, durch die Ausstrahlungen seines hehren sittlichen Geistes unser übersinnliches Teil frei macht und der idealen Welt entgegenführt. In Goethe ist der Realismus, die vielgewandte, allgestaltige und vieldeutige Kunst- und Weltpraxis, in Schiller die geradsinnige und hehre Theorie, die im Weltgeist angeschaute, einfache ideale Lebensordnung, der hochsinnigste Idealismus inkarniert, der alle sinnliche Naturwucherung wie mit Messern durchschneidet.

Schiller hat tiefer als irgend ein anderer Dichter alle die Spaltungen des Lebens herausgefühlt, welche aus dem Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft, von natürlicher Akkommodation und sittlicher Charakterstärke, von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Gebundenheit hervorgehen; aber er hat den »großen Riß« weder mit Witz und Naivetät noch mit Humor oder mit nüchternem Verstande zu überbrücken und zu maskieren gesucht. Es ist der unerschütterliche Glaube an die ideale Kraft im Menschen, es ist ein hehrer Vernunftidealismus im Beistande der Phantasie und Dialektik, welcher unsern Dichter wie diejenigen, die sich seinen Schwingen anvertrauen, über alle großen und kleinen Lebenszwiespalte hinwegträgt.

Der Idealismus ist heute aber mit einer realistischen Weltanschauung vertauscht worden, die es nicht einmal zum Humor bringen kann, da ihr der ideale Faktor gebricht. So hat sich denn die Begeisterung für Schiller auf den Schillerkultus in der gebildeten Jugend und der Enthusiasmus für Goethe auf die Gelehrten und einen kleinen Kreis von gebildeten, einer natürlichen Abfrischung bedürftigen Beamten reduziert. Die forciertesten Präparaturen Zur Schillerfeier dieses Jahres [1859] sowie die Versuche, den großen Idealisten zum Realisten umzustempeln, verraten das schlechte Gewissen, mit welchem auch die Literaten dem Feste entgegengehen. Man ergreift die Gelegenheit, sich zu berauschen. Nichtsdestoweniger gibt es noch eine Schichte von deutschen Humoristen; von ihnen wie von dem Verhältnis der Goetheschen Poesie zum Humor werden noch ein paar Andeutungen am Orte sein. Schiller hatte nicht Weltkenntnis, nicht prononciert praktischen Verstand genug, um Humorist zu sein; aber dieser Mangel des Gemeinen wie die treue Hingebung an das Ideal adelt den Dichter um so mehr und leiht ihm den Heiligenschein.

Zwischen dem poetischen Menschen, welcher das Schöne zu empfinden, und einem Dichter, welcher es zu schaffen vermag, liegt noch eine Kluft.

Gelehrte und Praktiker mit einem vollen Herzen werden eben in dem Bewußtsein, ihre Lebenspoesie nicht künstlerisch schön ausgestalten zu können, Humoristen. Der Humorist fühlt den Zwiespalt von Natur und Schule, von Ideal und Wirklichkeit; er fühlt die Differenz zwischen dem Wunder der Lebensökonomie und seinem formalen Ungeschick, und so maskiert er sein Schisma, seine künstlerische Unmacht und seinen Schmerz mit einem ironischen Witz, welcher das Idealste und Individuellste, das Kleinste und Größeste, Seele und Verstand, alle Weltreiche und alle Formen vermengt. Ein Humorist vermag an verwandten Gemütern die kuriosesten und widersprechendsten Empfindungen zu begreifen, er vermag das Weltbild, das Ideal aus den barocksten Formen herauszufühlen, er verfolgt den großen Zug der Leidenschaft auch in dem Wellengekräusel entgegenstrebender Winde und Strömungen. Ein Humorist stellt sich das Ideal auf den Kopf, J. Paul vergleicht den Humoristen mit dem fabelhaften Vogel Rock, der, mit dem Kopf der Erde zugewendet, gen Himmel fliegt. er setzt ihm eine Pudelmütze auf oder verkleidet ein Monstrum und Wechselbalg seiner Launen zu einem Idol und trägt doch das unentstellte Bild der Schönheit und Wahrheit in seinem Herzen; aber wir Menschen sind selten genug zu Humoristen erschaffen, und auch diese macht erst das reife Lebensalter und der Schmerz über die Unverträglichkeit so vieler Lebensfaktoren, über das Schisma von Natur und Konvenienz, von Traum und Wirklichkeit, von Lebensbegeisterung und Verstand, von Seele und Schulform, von Kunst, Stil und Persönlichkeit, von Akkommodation und Charakter zum Humoristen. Also bedürfen wir solcher Poeten, in welchen die Naturkräfte, die Naturmysterien nicht in neckischer, auch nicht in schulförmlicher, sondern in kunstschöner Weise mit dem gebildeten Verstande versöhnt sind. Dies Wunder leistet aber kein Dichter so vollendet als Goethe. Goethe verbindet, den alten Griechen ähnlich, ein anmutendes Gemeingefühl mit individueller Selbständigkeit; die Mitleidenschaft seiner Seele mit den Seelen der Dinge ist keine kranke, sondern eine normale und graziös geartete Pathologie, ähnlich derjenigen, welche die Musik auf den Menschen hervorbringt. Schiller ist ein Denker, ein Mensch, der die Mysterien und Probleme der Menschheit, der Geschichte im Kopfe und im Gemüte bewegt. Schiller ist ein großherziger, herrlicher Charakter, ein ganzer Mann, welcher die ihm wahlverwandten, sittlich akzentuierten Menschen aufs tiefste ergreift, welcher eben dem nobel gearteten Praktiker, dem ungeschulten Menschen das Element herzubringt, welches ihm fehlt, nämlich den formengebildeten, in der Zucht des Gedankens und der Schule gekräftigten Geist. Die von Naturprozessen geschwellte Jugend, die von Natur und Liebe getragenen Frauen, die Goetheschen Naturen ergänzen und kräftigen sich durch den philosophischen Idealismus, durch die gewaltige Geistersprache, durch den sittlichen Rhythmus, die Formenstrenge, durch die geprägte Rhetorik Schillers, sie erstarken an seinem rhythmischen, objektiven, prononciert sittlichen und männlichen Geist, aber eben die reifen, philosophisch gebildeten Männer, die Gelehrten, die Schillerschen Naturen und alle die, welchen es versagt ist, die Naturmysterien schön und leicht zu deuten oder an ihrer eignen Persönlichkeit zur Erscheinung zu bringen, sie alle entschädigen und ergänzen ihr Defizit an dem divinatorischen Genius Goethes; sie empfangen die Natur wiedergeboren in seinem Geiste zurück und an diesem schulgebildeten Geiste eine Handhabe, welche die elementare Natur nur dem verleiht, der ein Menschenalter hindurch in einem inspirierten Verkehr mit ihr gestanden hat.

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Gervinus vergleicht gegen den Schluß des 4. Bandes über Shakespeare Gervinus' »Shakespeare« erschien 1849–52 in vier Bänden. den Weltpoeten mit Schiller und Goethe in nachstehender Charakteristik, welche eine von den unzähligen Zeugnissen der dem Deutschen eigentümlichen Tiefe, Wahrheitsliebe und Unparteilichkeit abgibt. Er sagt:

»Mit Goethes vielumfassender Menschenkenntnis verband Shakespeare Schillers unerschütterliche Menschenachtung, die Goethe verlernt. Goethe verlernte sie im einzelnen Umgange, in einem zerstreuten Leben von vielfach kleiner Tätigkeit, in seiner Abneigung und Unkenntnis der großen Welt der Politik und Geschichte; in dieser Welt bewegte sich gerade Shakespeare und fühlte sich in ihr wohl und erhielt sich in ihr seine Menschenachtung, weil da immer, selbst in Goethes Ansicht, ein großes Wesen wirkt, wo die Menschheit vereinigt arbeitet. Shakespeare reißt uns daher immer zu den Höhen des tätigen Lebens, in Schillers Geiste, hinan, die Goethe immer mehr aus den Augen verlor, je näher er uns den Höhen der Bildung zuzuführen strebte. Wenn sich aus Goethes vielseitiger Beschäftigung und seinem allgemeinen Interesse an allen Dingen ein umfassender Geist bildete, so aus Shakespeares Interesse an der tätigen Welt, sollte man glauben, zu gleicher Zeit ein Charakter. Wenn Schillers moralische Würde auch dem Achtung abnötigt, der ihn als Dichter weniger liebt, und Goethes Anmut auch dem Liebe entlockt, der ihn sittlich weniger hochachtet, so ist man bei Shakespeare in dem glücklichen Falle, stets zugleich achten und lieben zu können, ja zu müssen. Goethe selbst hat die höchste Spitze des Gegensatzes zwischen sich und Schiller so bezeichnet: Schillern habe die Idee der Freiheit bewegt, er aber sei auf der Seite der Natur gestanden; dieser Gegensatz ist in Shakespeare nicht zu finden. Er macht Goethen gegenüber den Eindruck der Freiheit, gegen Schiller den der Natur, aber auch umgekehrt selbst Goethe gegenüber den Eindruck der Natur und gegen Schiller den der Freiheit; ebensosehr ein Bild gegebener Vollkommenheiten wie freier geistiger Schaffung, begünstigt von der Natur wie Goethe und ihre Gunst mit freiem Bestreben heimzahlend wie Schiller. Schiller nannte das vollkommene Werk der Kultur: ›das sinnliche Vermögen in die reichste Berührung mit der Welt zu setzen und seine Empfänglichkeit aufs höchste zu steigern, und das geistige Vermögen unabhängig und selbständig zu erhalten und seine Aktivität und bestimmte Kraft möglichst zu erhöhen‹ – dies ist ganz eigentlich die Charakteristik des Shakespearischen Geistes. Er hat uns zugleich wie Goethe den Umfang der rezeptiven Natur und wie Schiller die Kraft des produktiven Geistes gelehrt. Er hat weder, wie Schiller Goethen vorwarf, die Gaben der Natur versäumt in echten Besitz des Geistes zu verwandeln, noch, wie Goethe Schillern schuld gab, den Instinkt durch die Tätigkeit des Geistes in Gefahr gebracht. Die Natur hatte ihn köstlich ausgestattet, aber er wucherte mit dem Pfunde, das sie ihm geliehen, und diesen Erwerb durfte er sein Eigentum nennen. Goethen war die Dichtung, wie sie Schiller betrieb, schon eine zu ernste Beschäftigung; aber Shakespeare trieb sie in noch viel größerer Anstrengung als beide.«

Wie der Idealismus und der Realismus an Schiller und Goethe zu verteilen sei; ein Thema von spezifisch deutscher Art.

»Shakespeare ist intuitiver und realistischer als Schiller, aber auch als Goethe, wenn man seine glückliche Beherrschung der geschichtlichen Welt bedenkt; er ist idealer als Goethe, aber auch als Schiller, wenn man die viel tiefere Vergeistigung und poetische Erfassung der Geschichte erwägt oder auf seine Sittenlehre und seine menschlichen Ideale zurückgeht. Prüfe man diese Verbindung der realen und idealen Natur, in der Schiller das Höchste erkannte, wohin die menschliche Natur gelangen kann, an Shakespeare zusammenfassend noch an folgendem. Fast in allen Zeiten und Landen finden sich die Dichterpaare nebeneinander, die sich zwischen beide Seiten des vorherrschenden sinnlichen und geistigen, realen und idealen Elementes teilen; bei uns in Deutschland allein finden sich so im vorigen Jahrhunderte Haller und Hagedorn, Klopstock und Wieland, Lessing und Herder und zuletzt im völlig bewußten Gegensatze Schiller und Goethe gegenüber; aber Shakespeare hat diese Seiten so zusammengefaßt, daß nur in seinen Nachahmern seine Doppelnatur sich spaltete: er selbst hat in seiner Nation und Zeit keinen Gegensatz weder nach der einen noch nach der andern Seite gefunden.« (»Shakespeare« von Gervinus.)

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In diesen Tagen ist behauptet worden, Schillers Idealismus sei etwas Angelerntes, der Realismus [d. h. »der anschauende Verstand, welcher die charakteristischen Momente und Züge der Wirklichkeit zu einem lebendigen Bilde zu konzentrieren versteht«] wäre des schwäbischen Dichters wahre Natur und das Beste an ihm; wiewohl dabei nicht außer acht gelassen werden müsse, daß zu dieser Charakteristik eine ideale Kraft erforderlich sei, die man freilich nicht mit Träumerei und Phantasterei verwechseln dürfe. Goethe wäre der wahre Idealist; denn er habe die Ideen für das Reellste und Lebendigste gehalten und unter andern nach der Idealpflanze geforscht, deren Bild vor seinem innern Auge gestanden, während von Schiller die Realität dieses Bildes geleugnet worden sei ec.

Solche Behauptungen finde ich von den modernen Literaten in der Ordnung, denn weil es ihnen an originellen Anschauungen gebricht, so werden die herkömmlichen Urteile und Lebensordnungen auf den Kopf gestellt. Es kommt doch, wie der Bäckerjunge in der Posse von Kalisch Der Possendichter David Kalisch (1820–72), der Schöpfer des modernen Couplets und Begründer des »Kladderadatsch«. sagt, indem er die Mumie im neuen Museum auf die andre Seite kehrt, »eine Abwechselung« ins Spiel.

Der sublimierte Streit über Idealismus und Realismus (abstrahiert von Schiller und Goethe) kommt mit Hülfe der von Hegel erborgten Dialektik ganz auf die polarische Reziprozität von »Theorie und Praxis« heraus, und zwar so, daß die Theorie in der Praxis, und daß die Praxis nur in der Theorie zur Wahrheit, d. h. zur Wirklichkeit komme; welche Wirklichkeit wieder nur in Kraft der Wahrheit möglich sei. Also: Sein, polarisiert mit dem gefälligen und fügsamen Nichts (dem Nichts-Etwas), gibt das Wirkliche heraus, welches Wirkliche eines romantischen Augenblicks davon sterben muß, daß in ihm das Seiende ein bißchen zu stark mit dem Nichts versetzt und verfälscht worden ist. Es scheint mir mit unserer modernen Begriffseskamotage und Begriffsreiterei wie mit der Wechselreiterei, wo der Industrieritter so lange wechselt und reitet, bis er vom Pferde auf den Esel und von diesem auf den Hund gekommen ist; bei welchem Changement alle die, welche auf sich reiten und ziehen ließen, das kürzeste Ende ziehen und in den Kot getreten werden. Ich sehe es kommen, daß namentlich die Dialektik der Ästhetiker, welche in Deutschland wie die Pilze aus der Erde schießen oder vielmehr wie Frösche aus der Luft herabregnen, ganz so reell bankrott machen wird als der unbegrenzte papierne Kredit in der kaufmännischen Welt. Der Vorwurf der Ideologie für die Deutschen, den zuerst Napoleon in die Mode gebracht hat, läßt sich nicht abwälzen. Wir ziehen doch, unter uns gesagt, allzu leichtfertig auf Begriffe, denen die Valuta der Anschauungen, der Erlebnisse, der Empfindungen des natürlichen Instinktes, des Gemeingefühls fehlen.

Wer sich aber einmal unter die unausstehlich liebenswürdige Sorte der deutschen Ästhetiker gemengt hat, muß Begriffe reiten, und so werde auch ich mit meiner ästhetischen Dialektik bescheidentlich normieren, wie der Idealismus und der Realismus unter Schiller und Goethe verteilt werden dürfte.

Schillers Intentionen zeigen ihn als Idealisten, wenn auch in einzelnen Momenten der Ausführung sich ein realistischer Sinn und Verstand bewährt, wie z. B. in gewissen Szenen des »Tell« und der »Räuber«, in »Kabale und Liebe«, mit welchem Stück Schiller das realistische Genre und die Verstandespoesie von »Emilia Galotti« expreß nachgeahmt hat. In »Wallenstein« aber legt der Dichter sogar dem »ersten Kürassier« einen Idealismus in den Mund, welcher den Realismus nicht nur der Kapuzinerpredigt, sondern des ganzen Lagerlebens aufwiegt.

»Frei will ich leben und also sterben,
Niemand berauben und niemand beerben
Und auf das Gehudel unter mir,
Leicht wegschauen von meinem Tier.«

In diesen Worten eines gemeinen Soldaten ist die ideale Lebensanschauung des Dichters auf die eklatanteste Weise ausgeprägt, ungeachtet dessen, daß sie ganz gegen das historische Kostüm von einem Wallensteinischen Soldaten aus der Masse vertreten wird.

Bei genialen und ganzen Menschen macht sich eine Reaktion geltend gegen die Einseitigkeiten der Bildung, der Schule, der Leidenschaft, der Lebensbeschäftigung wie der Konvenienz. Diese Versuche der Natur, ihre Integrität zu konservieren, dürfen uns aber ebensowenig den überwiegenden idealistischen Faktor an Schiller als den vorherrschenden heilen Realismus an Goethe verdecken. Goethe erscheint nur da als Idealist, wo er sich mit Dingen beschäftigt, von denen er keine reellsten Kenntnisse besitzt, mit denen er als Dilettant verkehrt.

Goethe hatte so wenig Sinn und Witz für die Philosophie der Geschichte als für die Geschichte der Philosophie; wohl aber lagen dem idealistischen Schiller die Ideen der Geschichte unendlich mehr am Herzen als die Naturgeschichten, um welche sich Goethe vielmehr als Anatom, Empiriker und Sammler wie als berufener Naturphilosoph bekümmert hat. Schiller aber legitimiert sich schon durch die architektonische Kunst seiner Dramen, durch sein planmäßiges, auf ein festes Ziel gerichtetes Arbeiten als einen Idealisten von Bildung und Natur. Der Realist hat nie ein Talent für die ideale Konstruktion in einem Absoluten, wie dies unsern Schiller charakterisiert. Schulfüchse mögen in ihm einen Realisten wittern, weil sie selbst gar keinen intuitiven und praktischen Verstand haben; wenn man aber Schiller für einen Realisten nehmen soll, so weiß man in der Tat nicht, wofür die Rabelais, Cervantes, Lesage, Fischart und Hans Sachs zu halten sind. Goethe war nur der Geschichte, dem Staate, der Kirche wie gewissen Tatsachen und Problemen der sittlichen Welt, z. B. der Ehe und dem politischen Leben gegenüber, ein Idealist, und zwar im abstrakten und schlechten Sinn; d. h. er ersetzte seine Unkenntnis gewisser Sphären, seine mangelnde Sympathie für dieselben mit Phantasterei, Reflexion und Allegorie. In »Egmont« z. B. findet sich der Dichter für den Mangel an politischem Verstande und Charakter (den der Held des Stückes darlegt) mit der Traumerscheinung der Freiheit ab, durch deren tadelnde Kritik Schiller ebensowenig zum Realisten wird als dadurch, daß ihn auch an dem Helden des Stücks das »souveräne Ignorieren« der wirklichen Verhältnisse verschnupft. Wer, wie Schiller, in so hohem Grade ein historisches und politisches Organ besitzt, dem wird eben durch politische und kosmopolitische Begeisterung der reelle Verstand geschärft. Dieselbe Steigerung des Scharfsinns und der Praxis beobachten wir an allen Menschen, die einer idealen Leidenschaft hingegeben sind: an den Liebenden wie an den Schwärmern und in der Religion. Die Praxis wird in genialen Menschen durch Theorie erhöht und ebenso der Realismus durch Idealismus, der Spezialblick durch den Umblick geschärft. Die Deutschen und insbesondere die Schwaben hören darum nicht auf, Ideologen und Theoretiker, Theosophen, Philosophen, Weltbürger und Idealisten zu sein, weil sie zugleich so praktisch, so mikrologisch, so detailverständig und in vielen Fällen so materialistische »Fußwurzler«, so an der Scholle klebende Pfahlbürger sind.

Ebensowenig wird der Ethnograph die Franzosen etwa zu den Idealisten und Ideologen zählen, weil ihre dramatische Literatur so abstrakt phantastisch und schematisch ist wie ihre Revolutions- und Sozialphilosophie. Schiller schlug sich ohne Aufhören mit Ideen herum; mit welcher angebornen Vorliebe er dies tat, entnehmen wir aus einer leidenschaftlichen Äußerung in einem Briefe an Goethe oder an Körner, wo der Dichter erklärt, daß er tausendmal lieber den Täuschungen einer Theorie verfallen als sich mit der tausendköpfigen Hydra »Praxis« herumschlagen wolle. Das große Publikum verbindet aber ganz richtig den Begriff des Realismus mit der Praxis, nicht aber mit der Theorie und ihren Ideen. Den Schulphilosophen mögen die Ideen für die absolute Realität oder für die »Einheit von Ding und Vorstellung gelten«. Wir andern Menschenkinder halten die konkret sinnlichen Erscheinungen für die wirkliche Welt und verstehen unter einem Realisten denjenigen, der sich von diesen sinnlichen Dingen zur übersinnlichen Welt der gedachten Ideen orientiert, wie Goethe unbeschadet dessen getan hat, daß er bei Gelegenheit seiner naturforscherlichen Liebhabereien in den Ideen die Wesenheit des Lebens anerkannt hat.

Da aber Schiller den Trieb und die Gewohnheit hatte, sich als philosophischer Kopf und Ästhetiker par excellence von den Ideen zu den Geschichten, zu den Dingen und Spezialitäten zurechtzufinden, so geschah es nach dem Gesetz der Ergänzung und Polarität, daß er auch von Zeit zu Zeit dem Realismus Rechnung trug, daß er sich positiv zeigte, daß er den Unterschied zwischen Ideen und Erfahrungen strenge festhielt, wie er es z. B. in jenem vielzitierten Zwiesprach mit Goethe über die Pflanzenmetamorphose getan. Wobei noch die bekannte Tatsache in Rechnung kommt, daß selbst ein Idealist einem Idealisten gegenüber sich dadurch von Einseitigkeit zu befreien sucht, daß er die Gerechtsame der Wirklichkeit, der Beobachtung und der positiven Lebensart vertritt.

Schon der Geradsinn, die Schroffheit, die Offenheit, die Ehrlichkeit, die Entschiedenheit Schillers, sein prononciert männlicher Charakter, dem alle weibischen Winkelzüge, Balancen, Listen, Praktiken und Versteckspiele, alle passiven Rollen, Zweideutigkeiten, Verkleidungen, Metamorphosen und Akkommodationen zuwider sind (in welchen Goethe als Virtuose erscheint), stellen ihn als den reinsten Idealisten hin, welchen die poetische Literatur aufzuweisen hat, während sein großer Freund und Gegenfüßler Goethe von sich aussagt, daß er es liebe, sein wahres Ich mit seiner Erscheinung zu maskieren, und daß er namentlich in seine spätern Dichtungen, z. B. in den zweiten Teil von »Faust«, in »Meisters Wanderjahre«, in die »Novelle« vom Löwen mit dem Kinde ec. allerlei »hineingeheimnisset« habe (wovon, um mit Lichtenberg Der satirische Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 99) zu reden, weder im Himmel noch auf Erden sonderlich viel zu finden ist).

Schäferknechte, Rattenfänger, Topfbinder, Viehdoktoren, Winkeladvokaten und andere Praktikanten sind darum nicht weniger Realisten und Empiriker mit Leib und Seele, weil sie zugleich nach dem Gesetz der Reaktion und ihres natürlichen Genies schlechte Idealisten, d. h. abstrakte Theoretiker sind. Die Reaktionen, ich wiederhole es, dürfen uns keinmal über die ursprünglichen Intentionen und Charaktere irre machen. Der Venusmaler Tizian hat tiefernste, idealkonzipierte Porträts geschaffen, ohne deshalb weniger ein Realist zu sein, und in J. Paul wie in Hippel verkennt kein deutsches Gemüt die Idealisten, trotz ihrer Genremalerei, die humoristisch mit dem Ideal kontrastiert.

Bauers- und Bürgersleute sind nicht selten viel eifriger auf die Schul- und Universitätsbildung ihrer Kinder erpicht als Honoratioren und Professoren, ohne deshalb Idealisten zusein.

Die sinnlich gearteten, offenbar realistischen und zu Praktiken disponierten Frauen sind, dem natürlichen Ergänzungsprozeß zufolge, in der Liebe zum andern Geschlecht viel idealer, viel unsinnlicher als die Männer, welche doch sonst den Spiritualismus, die Theorie und Ideologie vertreten, und so zeigt sich auch der entschieden weiblich geartete Goethe in seinen Liebesaffären unpraktisch, unpositiv, der reellen Liebe, der Ehe abgeneigt, unsolide, wetterwendig und abstrakt, während Schiller, der prononciert männliche Geist, seiner ersten Liebe getreu bleibt und sie durch eine Ehe zur Wahrheit macht.

Aber weil er in der Liebe so positiv, praktisch und reell zu Werke geht, wird er ebensowenig den Realisten als Goethe aus entgegenstehenden Gründen den Idealisten zu vindizieren sein. Wie sehr der Sinn und Geist Goethes im Realismus (man könnte diesmal sagen: im Materialismus) wurzelte, wird aus einer Stelle seines Briefes an Frau von Stein ersichtlich, wo er der Ärmsten, nachdem er das ärgerliche Verhältnis mit Christiane Vulpius eingegangen ist, auf ihre Vorwürfe ganz im Ernste anrätig ist, »sich in Zukunft nicht durch zu starken Kaffee zu überreizen«.

Daß unserm prächtigen Schiller der Realismus angeboren war, wie ein Aufsatz in den »Grenzboten« vom Dezember 1858 behauptet, ist demnach paradox und grundfalsch. Dieser deutscheste Dichter hatte allerdings Herz und Verstand für die charakteristischen Züge und Prozesse der sittlichen Welt. Er verstand sie darum auch witzig und effektvoll zu porträtieren; die Beweise liegen in den »Räubern«, in »Kabale und Liebe«, in »Wallensteins Lager«, im »Tell«, in der »Geschichte des Abfalls der Niederlande« vor. Im »Geisterseher« bekundet sich ein bewundernswertes Geschick, nicht nur für die minutiöseste Auffassung und Verknüpfung, sondern auch für eine geschmackvolle Darstellung von positiven Kleinigkeiten und Verhältnissen, die allerdings einen realistischen Verstand voraussetzen; aber der Verfasser dieses interessanten Kunststückes, einer anschaulichsten Handhabung von verwickelten Situationen, Maschinerien und Apparaten, die einer raffinierten Betrügerei und Intrige angehören, behielt weder Lust noch Willen für die Vollendung eines Experiments, welches seiner einfachen, idealen, schwunghaften und auf das Höchste gerichteten Natur widerstand. An den Balladen und Lehrgedichten Schillers, am »Taucher«, am »Kampfe mit dem Drachen«, am Gange nach dem Eisenhammer, an dem »Liede von der Glocke« bewundern wir einen Genius, der auch mit Liebe und Sachverstand die materielle Welt mit ihren Detailarbeiten und Mühen, der die irdischen Bedingungen des Menschendaseins bis in die kleinsten Züge zu photographieren versteht; aber nicht nur die große Masse der lyrischen Gedichte, die Ideale, die Künstler, Resignation, die Götter Griechenlands, die Worte des Glaubens, der Spaziergang, der Jüngling am Bach, des Mädchens Klage, Amalia, eine Leichenphantasie, Elysium, Melancholie an Laura, Hektors Abschied ec., sondern die Dramen »Don Karlos«, die »Braut von Messina«, die »Jungfrau von Orleans«, »Maria Stuart«, »Wallenstein«, besonders die Charakteristik des Helden, die Episode Thekla und Max, ganz besonders die ästhetischen Aufsätze über die Schaubühne, über das Erhabene und Anmutige, nicht minder Schillers Briefe, sein ganzes Leben manifestieren ebenso eklatant den Idealisten aus Seele und Geist heraus, wie sich Goethe in der Schöpfung einer so konkreten Gestalt wie Klärchen als Realisten zeigt, wenn er auch den Helden Egmont falsch idealisiert und ihn uns im rosaseiden Wams der Liebe statt im Harnisch eines die Zeit und Pflicht begreifenden Verstandes dargestellt hat. Werfen wir einen Blick auf die andern Dramen Goethes, so treten uns, neben der zerfließenden, knochenlosen, schlecht idealisierten Gestalt eines Tasso, nicht nur so in Fleisch und Bein erschaffene Individuen wie Hermann und Dorothea entgegen, sondern wir sehen die antik und ideal angestrebte Iphigenia, obwohl in antikem Duft verklärt, doch in ein herziges, deutsch ausgeprägtes Mädchen verwandelt, die jeder gebildete Mann trotz dessen lieben und heiraten könnte, daß er vielleicht ein deutscher Pfahlbürger wäre. Selbst im »Faust« hält die durch und durch realistische Ausführung der idealen Intention mehr als erforderlich die Wage; und erst der zweite Teil zeigt in der Wüste von abstrakten Weltanschauungen und Phantastereien die schönen Hautreliefs aus dem alten Griechenleben auf.

Gegenüber den Werktagspraktikanten darf freilich Goethe durch und durch für einen Idealisten gelten; und so ist auch Schiller durch seine Herzensintensität, durch seine Begeisterung für die Schweiz und ihre Freiheitskämpfe ein Realist geworden, der den Vierwaldstätter See wie ein Augenzeuge geschildert hat. Aber derselbe Schiller erscheint zugleich als echter Idealist, indem er den Sohn des geblendeten Melchthal wiederholt Tiraden über den Wert und die Schönheit des Augenlichts in dem Augenblick halten läßt, wo dem Sohne über die Mißhandlung an dem Vater die Sinne vergehen sollen.

Umgekehrt zeigt sich Schiller in seinem Liede von der Glocke so en detail in dem Technischen des Gießens informiert, daß man ihn allenfalls für einen Glockengießer halten könnte. Wenn dies aber geschähe, so folgte daraus keineswegs, daß man den Sänger nicht zugleich auch für einen großen Dichter und in specie Lateinisch: insonderheit. für einen Idealisten, d. h. für einen solchen Poeten halten müßte, welcher die Welt und alle Dinge überdichtet, überdenkt und in allen Augenblicken an einem Ideal bemißt.

Jener Aufsatz in den »Grenzboten« führt sogar das Gedicht »Die Ideale« als einen Beweis an, daß der Verfasser das Ideal aufgegeben habe. Weiter kann man aber die ästhetische Naivetät nicht treiben, als wenn man annimmt, daß ein Idealist nicht momentane Rückfälle zum Realismus haben solle, und daß in denselben jedes verzweifelte Wort für bare Münze zu nehmen sei. Kann doch eben nur ein Idealist wie Schiller an der Verwirklichung seiner Ideale mit solchen Schmerzen verzweifeln, aus denen wir bereits das Hoffnungsgrün und den übersinnlichen Trost hervorkeimen sehen.

Wie wundervoll hat der unverwüstliche Idealismus des deutschen Dichters auf jene scheinbare Abdankung seiner Ideale in den Gedichten »Das Ideal und das Leben«, »Die Poesie des Lebens« und in so vielen andern geantwortet! Auch in jener Verdunklung aller Ideale wirft sich Schiller der Freundschaft an die Brust. Er verzweifelt im »Pilgrim« an dem Wege zum Ideal und findet ihn gleichwohl in den Versen, welche er »Sehnsucht« überschrieben hat. Ebenso schön und erhebend halten sich Zagnis und Hoffnung, Trauer und Freude in der »Klage der Ceres« das Gleichgewicht.

Man könnte alle Gedichte Schillers exzerpieren und interpretieren, um zu beweisen, daß ihr Schöpfer ein unsterblicher, unergründlicher und unverwüstlicher deutscher Idealist gewesen ist; die Mühe wäre aber sicherlich für alle diejenigen umsonst, welche aus Hang zum Verkehrten und Aparten oder wegen ihrer Wahlverwandtschaft mit den realistischen Tendenzen der Zeit sich in den Kopf gesetzt haben, daß Schiller ein Realist sein soll.

Jedenfalls kann ich mein Thema nicht besser schließen als mit ein paar Versen aus dem wunderschön gedachten Gedicht »Das Ideal und das Leben.«

Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen,
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Die ganze sinnliche Welt wird ein »Garten des Todes« genannt, weil alles, was hier wächst und blüht, sterben muß. Frucht!
An dem Scheine mag der Blick sich weiden;
Des Genusses wandelbare Freuden
Rächet schleunig der Begierde Flucht. –

Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet,
Wehrt die Rückkehr Ceres' Tochter nicht:
Nach dem Apfel greift sie, und es bindet
Ewig sie des Orkus Pflicht.

Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Göttlich unter Göttern die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch!
Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Ideales Reich!

Und vor Im Original Druckfehler: von. jenen fürchterlichen Scharen
Euch auf ewig zu bewahren,
Brechet mutig alle Brücken ab!
Zittert nicht, die Heimat zu verlieren!
Alle Pfade, die zum Leben führen,
Alle führen zum gewissen Grab.
Opfert freudig auf, was ihr besessen,
Was ihr einst gewesen, was ihr seid;
Und in einem seligen Vergessen
Schwinde die Vergangenheit.

Wem nach diesen Versen noch ein Zweifel bleiben möchte, was Schiller unter dem Ideal verstanden, und wie er es mit dem schönen Schein gehalten, der lese das Gedicht »Poesie des Lebens«, welches in der Zeitfolge eines der letzten ist. Darin irrt Goltz; das Gedicht entstand schon 1795.

»Wer möchte sich an Schattenbildern weiden,
Die mit erborgtem Schein das Wesen überkleiden,
Mit trüg'rischem Besitz die Hoffnung hintergehn?
Entblößt muß ich die Wahrheit sehn.
Soll gleich mit meinem Wahn mein ganzer Himmel
schwinden ec.«

So rufst du aus und blickst, mein strenger Freund,
Aus der Erfahrung sicherm Porte
Verwerfend hin auf alles, was nur scheint.
Erschreckt von deinem ernstern Worte,
Entflieht der Liebesgötter Schar,
Der Musen Spiel verstummt, es ruhn Im Original Druckfehler: ruhen. der Horen Tänze,

Still trauernd nehmen ihre Kränze
Die Schwestergöttinnen vom schöngelockten Haar;
Apoll zerbricht die goldne Leyer
Und Hermes seinen Wunderstab.

Des Traumes rosenfarbner Schleier
Fällt von des Lebens bleichem Antlitz ab,
Die Welt scheint, wie Schiller: was sie ist, ein Grab.
Von seinen Augen nimmt die zauberische Binde
Cytherens Sohn, Eros. die Liebe sieht,
Sie sieht in ihrem Götterkinde
Den Sterblichen, erschrickt und flieht;
Der Schönheit Jugendbild veraltet,
Auf deinen Lippen selbst erkaltet
Der Liebe Kuß, und in der Freude Schwung
Ergreift dich die Versteinerung.

G. Theodor Hippel. Vgl. S. 20, Anm. 3.

Theodor von Hippel wie Justus Möser gehören zu den Männern, in welchen sich der deutsche Verstand und Charakter so essentiell konzentriert hat, daß fast jeder Ausspruch von ihnen den ganzen Mann bedeutet und jeder ein Kernschuß mit deutscher Ladung ist. Die natürlichsten und ehrlichsten Schriftsteller von heute produzieren uns immer noch den Literaten, die literarischen Lernstücke, Standpunkte, Maßstäbe, Manieren, Phrasen, Affektationen und destillierten Dummheiten. Die Masse unserer modernen Schriftsteller scheinen aus lauter Literaturgas und Literaturambitionen zusammengefahren zu sein. Die süße Milch der alten Weisen und Dichter haben sie mit dem Weinstein der Kritik zur Molkenkur gemacht. Aus den Schriften und dem Stile Hippels wie Mösers fühlt man nirgend den Schriftsteller, den Stilisten, den literarischen Putzmacher, sondern den heilen Menschen heraus, der das Zentrum behält, welches ihm Gott und die Natur verliehen haben.

Hippel und Möser, obgleich in ihren Grundrichtungen so entgegengesetzt wie Roman und Politik, behalten ihre individuellste Verfassung, die Treuherzigkeit und Naivetät, in welcher so erbaulich die deutsche Art und Weise repräsentiert wird. Hippel insbesondere, mit dem ich es hier zu tun habe, zeigt sich bei allen Gelegenheiten so nobel-derb, mutterwitzig, schlecht und recht, so gottesfürchtig, wie man nur einen Schriftsteller von deutschem Stamme und keinmal einen Franzosen findet, wenn man den alten ehrlichen Montaigne ausnimmt. Ein Pariser kann witzig und scharfsinnig wie Voltaire, er kann ein zersetzender Chemiker sein, der alle Formen changiert oder auf ein Nichts reduziert, aber darum trifft er noch lange nicht einen Nagel auf den Kopf, mit dem etwas Festes und Wohnliches im Reiche des Geistes zusammengezimmert werden kann. Der französische Witz schleift Spiegel, in welchen man die Dinge auf den Kopf gestellt erblickt, er findet mit Leichtigkeit und sogar mit Grazie Formeln, Wendungen, Nutzanwendungen und Analogieen, durch welche Sitten, Gesetze und die ganze Weltgeschichte lächerlich gemacht werden; wie man aber mit einem Worte der Wahrheit, der Liebe, des Glaubens, mit einem einfältigen Gleichnis die Narrheiten und Lügen der Welt bannen und zum Hades hinabscheuchen kann, wie man die Heiligtümer des Lebens vom Schmutz des Lebens säubern, den alten Gott im Herzensschrein wieder aufstellen und die Welt zum andernmal im menschlichen Gemüte auferbauen soll, das versteht der französische Witz und Esprit nimmermehr.

Wie herzergreifend aber diese Wunder unserem ostpreußischen Hippel gelingen, wird man an den hier zusammengestellten Kernsprüchen ersehen, die seinen »Lebensläufen in aufsteigender Linie« entnommen sind.

»Mein Vater hatte den Grundsatz, die Andacht gehöre ins Kämmerlein.«

»Erziehen heißt aufwecken vom Schlaf, mit Schnee reiben, wo Teile erfroren sind, abkühlen, wo's brennt.«

»Ein Genie auf dem Lande bleibt nicht lange allein; die Natur geht ihm an die Hand. Ein rechtes Talent brennt sich durch den Scheffel.«

»Die Sprachen rechnete mein Vater zum Departement des Leibes und der Seelen. – Man muß nur eine vollkommen besitzen, das ist reden, schreiben und in ihr denken können. Ein Gott, eine Taufe, eine Sonne, ein Weib, ein Geist, ein Leib, ein Freund, eine Sprache.«

»Wenn ein Deutscher französisch betet, so läßt er sich vom lieben Gott französische Vokabeln überhören. Die letzten Worte sind all' in der Muttersprache, auch die letzten Seufzer so. Zu jeder Sprache gehört eine andre Zunge und ein andrer Mensch.«

»Es gibt keine nackte Wahrheit. Worte finden, heißt denken; sie sind die Kleider des Gedankens. – Der beste Lateiner bleibt ein Deutscher, wenn er deutsch gedacht hat. Cicero würde ihn für keinen Landsmann halten. Französisch zu schreiben, muß man ein Franzose, um englisch zu schreiben, ein Engländer sein. Wer fremde Sprachen zu etwas mehr braucht, als sich andern Leuten, die nicht unsere Mutter kennen, verständlich zu machen, ist allzumal ein Schwachkopf; es fehlt ihm wo, es sitze das Übel, wo es wolle.«

»Meine Mutter war der Gesinnung jenes Königs, welcher gesagt hat, drei Wasser verdürben: das süße Wasser im salzigen Meer; das Wasser im Wein; das Taufwasser auf dem jüdischen Kopf.«

»Wir vergessen, daß wir aus der Kirche nur eine glühende Kohle vom Altar heimholen sollen, um im gemeinen Leben Gott Opfer der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zu bringen, die allein ein süßer Geruch vor dem Herrn sind.«

»Die Gewalt, die sich die Großen des Nachruhms wegen antun, die sie zu Knechten ihres ganzen Lebens macht, ist von der Hofmanier ungefähr wie ein Fechter vom Tänzer unterschieden; alles ist solch eines Großen wegen da, bis auf den lieben Gott, den er aber auch nur der Kurialien halber in Ehren hält.«

»Ich sah bei dieser Gelegenheit, was ich oft gesehen, daß das schlechte und rechte Christentum eine edle Gleichgültigkeit, einen gewissen Liederton im Leben wirkt, der uns bei allem Wechsel und Wandel Ruhe ins Herz weht.«

»Der Staat braucht viel Hände, aber wenig Köpfe; die Kenntnisse des gemeinen Mannes müssen bei der Hand bleiben. Wer dem Menschen das Denken nehmen will, setzt ihn herab; denken kannst du, aber das Grübeln ist dem Menschen schädlich, und die Presse kann schlimmre Verheerungen anrichten wie Pulver und Blei.«

»Die Sinne sind die Bauern: sie stehen zwar unter der Obrigkeit, indessen, – wenn sie nicht wären? – Ich ärgre mich, wenn man die Sinne wie das liebe Vieh nimmt und herabsetzt.«

»Die Bibel ist das einzige Buch, das für alle Menschen paßt, ein göttliches Elementarbuch.«

»Je länger ich studiere, je kürzer wird die Predigt. Welch ein Haufe Baumaterialien zu einem kleinen Hause!«

»Aratus Der griechische Dichter Aratos aus Soloi in Kilikien (315– 245 v.Chr.), der das im Altertum vielbewunderte astronomische Gedicht »Phaenomena« ohne eigene Kenntnisse nach den Werken des Eudoxos abfaßte. hat ein berühmtes Gedicht über die Astronomie geschrieben; er würde es nicht getan haben, und das Gedicht wäre nicht berühmt geworden, wenn er Astronomie verstand.«

»Weiß ein Professor nur einerlei, so ist er ein Pedant.«

»Ein Autor ist ein so stolzes Ding, daß er zum ganzen menschlichen Geschlechte spricht.«

»Auf Universitäten sagt dir jeder Lehrer weniger, was du zu wissen nötig hast, als was er weiß.«

»Ein Wort, das vielleicht ein Lehrer im heiligen Enthusiasmus verlor, fällt nicht auf die Erde. Der Jüngling faßt es: Aus dem Meeresschaum wird eine Venus.«

»In der Schweiz, in Holland, in England haben die Leute feine Wäsche. – Wo ein Tyrann herrscht, will ich das Hemde nicht sehen. Die Menschen achten ihren Leib nicht, der ihnen nicht gehört.«

»Ein böses Gewissen ist ein Ofen, der immer raucht, ein Gewitter ohne Regen. Es ist Kläger, Richter, Henker in einer Person. Die Nachtigall singt dir: Du bist ein Dieb, die Lerche: Du hast gestohlen!«

»Der Mensch hat zuweilen einen schrecklichen Hang zum Aufruhr.«

»Ich bin's gewohnt: Eis im Wasser, Speck im Kohl, Ehr' im Leibe, Gewissen im Herzen.«

»Wenn man den Kindern auf alle Fragen antwortet, kuriert man sie durch Aderlassen: man macht sie schwach.«

»Der Engländer hat Baß-, der Franzose Diskantsaiten. Aus einem englischen Gedanken macht der Franzose ein halb Dutzend.«

»Einem von Leidenschaften gefesselten Menschen vorpredigen, heißt, einen Galeerensklaven Glück greifen lassen.«

»Ich bin sehr für geliehene Bücher; hat man das Buch selbst, so denkt man, du liest es ein andermal.«

»Wenn ich einen Sarg machen sehe, wird mir das Herz abgehobelt.«

»Laßt Leben und Tod aus einem Stücke sein.«

»Das Leben ist so etwas Niedrig-Komisches. Alle Toten haben Ernst in ihren Zügen, das Lachen kann kein Hauptstück des Lebens sein.«

»Der Zeit kann und muß nichts vorgreifen, nicht Religion, nicht Weisheit: sie leidet es nicht; nur sie kann den Schmerz lindern.«

»Zeremonien sind des Herzens Hurtigkeit wegen da.«

»Es gibt auch ein sehendes Heidentum, wie ein blindes.«

»Einsamkeit stärkt die Nerven.«

»Das männliche Alter schürzt den Knoten des Lebens, der Tod löst ihn.«

»Der Tod nimmt von jeder Minute die Hälfte, von jeden: Atemzuge sein Teil. Der Genuß, wie schmeckt er? Hast du ihn schon gekostet?«

»Schon der Mechanismus tröpfelt Tränen in den Wein unsrer Freuden.«

»Unser Heißhunger nach Existenz ist Gotteshauch.«

»Die Essenz des Lebens ist Wunsch und Hoffnung.«

»Der Mensch kann alles und kann nichts.«

»Eine Handvoll Erde ist eine Handvoll Welt; schaudre nicht vor Verwesung.«

»Aus Erden sind unsre Windeln und unser Leichentuch.«

»Die Natur ist das perpetuum mobile, sie steht nirgend und nie still; sie wirkt Leben im Tode, Tod im Leben so schön durcheinander, daß es eine Lust ist anzusehen dem, der ein Auge dazu hat.«

»Man sollte allen Subtilitätenkrämern das Handwerk legen. Es sind die ärgsten Zeitverderber in der Welt. Sie gewinnen uns die Zeit ab wie die falschen Spieler das Geld.«

»Was ist es denn, was die künstlich gezogne Wortschleuse des Redners erzeugt? Schaum; und wenn auch eine Venus daraus entstiege, nicht jedem ist mit dieser Schaumgöttin gedient.«

»Was hilft die reine Vernunft, wenn das Herz nicht rein ist! Nur die reines Herzens sind, werden Gott schauen.«

»Jeder Mensch hat so etwas bei sich, was ja oder nein bei allen Dingen sagt. – Es gibt ein Verstandes- wie ein Willensgewissen. Die wichtigsten Wahrheiten können nur durchs Leben bewiesen werden. – Ich lebe, sagt Christus, und ihr sollt auch leben.«

»Sobald wir zweifeln, so bricht die Sinnlichkeit Tür und Tor.«

»Jungen Leuten ist Leben und Sterben wie Wachen und Schlafen: alles an einem Rosenkränzchen.«

»Wie selten ist der Mensch ein Mensch!«

»Studieren ist eine Art von Geisterseherei, eine Empfindung höhrer Kräfte, ein Vorgeschmack des Himmels. – Die Alten wußten nicht, wo diese Empfindung zu Hause gehöre.«

»Die Menschennatur hilft sich durch die Krankheit, wie sich die große Natur durch Donnerwetter hilft.«

»Ich bin nicht Wider Selbstgefühl. Wer nicht im Geist und in der Wahrheit sagen kann: ich, wie kann der sagen: du, er, wir, ihr, sie?«

»Der Bediente des Königs ist ein Bediente.«

»Wer ein kluges Buch schreibt, hat ein Edikt ausgeschrieben, das die Welt respektiert; er ist mehr von Gottes Gnaden als diese durchlauchtigen Häupter.«

»Das Futter des Kleides soll Heller sein als seine Farbe.«

»Der König Friedrich der II. liebte wohl den französischen Verstand, aber nicht den französischen Willen.«

»Heuchelei ist der Erbfehler der Monarchien.«

»Beim Exerzieren hustet kein preußischer Soldat, er verbeißt es; er hält sich gerade; das hilft für alle Krankheiten, und selbst die Bitterkeit des Todes ist damit zu vertreiben.«

II. Jean Paul, die Romantik, die Klassizität und der Geschmack.

J. Pauls Gedankenreichtum ist so immense und so dichtgewachsen, daß es bei ihm zu keiner Form kommen konnte, insbesondere zu keiner schönen Figuration. Er ist ganz erfüllt, ganz hinweggenommen von den Tatsachen des Lebens, seine Seele kommt nicht aus dem Zeugen, sein Verstand nicht aus dem Gebären heraus. Milliarden von Eierchen füllen seine Phantasie wie der Fischrogen einen Hausen oder Stör; und was hat der Ärmste noch mit dem Einsalzen seines Laichs zu tun, wenn man erwägt, daß er jedes Körnchen besonders beguckt, bedenkt und ihm eine Leichenrede hält, bevor er es als Kaviar in die Fässer, d. h. in die Bücher tut. Der alte Arndt nennt uns Deutsche im guten und schlimmen Sinn ein kribbelndes, wimmelndes Wurmvolk; und in der Tat, wenn man J. Paul studiert, muß man die Deutschen für eine Ameisennation halten. Unseres Poeten Hirn und Herz ist ein Ameisenberg von Gedanken und Empfindungen, der bis zum Himmel reicht; und nun kriechen ihm die Gedanken zum Herzen, die Erfindungen zum Gehirn, und jede Ameise ist noch dazu mit Flügeln versehen und trägt ein Stückchen Harz und Weihrauch zu Hauf. Unser Poet aber präpariert mit diesen Ameisengedanken die kleinsten und die größten Tiere zu säuberlichen Skeletten und bekleidet sie wieder mit einer vorsündflutlichen, Welten gebärenden Traumphantasie, in welcher wir aber gleichwohl noch wirkliche Fleischteilchen, Muskelbewegungen und Nervenreizungen wahrnehmen, welche durch den Kontrast mit den Phantasiestücken einen humoristischen Humor produzieren, den oft nur der Autor versteht. Wie soll nun dieser närrischweise Humorist die Umrisse und Gestalten der wirklichen Welt- und Naturgeschichte erfassen? Er hat nicht Luft, nicht Raum und Ruhe vor sich selbst.

Er ist ein Gebirge von lebendigen und toten Gedanken; wer es ersteigen will, kommt in dem »Gekribbel und Gewibbel« nicht vorwärts, es sei denn, daß ihm Flügel zu Hülfe kommen wie dem Autor selbst; aber wenn er diese Flügel schwingt, tragen sie ihn wieder so weit ins Blaue, »daß ihm die Wirklichkeit und Erde zum Kindergärtchen einschrumpft«.

So kurios und so erhaben, so labyrinthisch und so prinzipienfest, so minutiös und doch in einem so großartigen Stil und Rhythmus hat noch kein Sterblicher den Idealismus und den Realismus ineinander und durcheinander bewegt und konfiguriert wie J. Paul.

Die Romane dieses seltsamsten und gleichwohl normalsten Deutschen, dieses phantasierenden Denkers und denkenden Enthusiasten sind den Phantasiestücken zu vergleichen, welche Kinder und Jungfern am Neujahrsabend aus Zinn zu gießen pflegen. Diese Gebilde stellen mit Hülfe der Phantasie das Steinreich, das Tier- und Pflanzenreich, selbst Menschen dar, und man kann sich an diesen Labyrinthen spielend zum Propheten erziehn. Unser Dichter nimmt zu der Kurzweil anstatt der Zinnlöffel vererztes Gold, welches er aus den Eingeweiden der Berge aller Länder holt und nicht im Wasser, sondern in seinem Herzblut ablöscht. Solchen Experimenten ist die Werktagskritik mit ihren der Literatur entnommenen Maßstäben, Prinzipien und Weltanschauungen nicht mehr gewachsen. Über einen Jean Paul Friedrich Richter muß ein zweiter Richter richten, denn seine Humore spielen im Himmel und im Mittelpunkt der Erde in demselben Moment. Nichtsdestoweniger sei hier versucht, was im Grunde genommen über alle Experimente hinausgeht; denn Richters Humore und methodische Delirien haben ansteckende Kraft. Unser Wundermann schleppt, zerrt und zitiert die diskrepantesten Dinge, Formen, Sphären, Situationen Stirn an Stirn auf Rendezvous oder Mensur. Er ist seinen Lesern die Wissenschaft und Fertigkeit von lauter zufälligsten, lokalsten und minutiösesten Dingen wie Geschichten am Muten; und dann wieder wächst bei ihm aus Pilzen und Modermysterien, aus einem Ungezieferunwesen im Moose (welches er aus ineinandergeschachtelten Gleichnissen, Reminiszenzen und Witzreden zusammenwuchert) eine Riesenlilie zum Himmel, ein Gedanke, welcher Himmel und Erde umrankt und seine Wurzeln in des Dichters Herzen treibt.

Jean Paul präpariert mit seiner Witzlauge ein Seifenwasser, in welchem er den Leuten die Schmutzflecke aus der Leibwäsche und vom Leibe wäscht; aber dann macht er es wie die Kinder und bläst bunte Seifenblasen in die Luft, in denen sich Himmel und Erde bespiegeln; und endlich macht er wieder den Professor der Naturgeschichte und zeigt uns in einem Wassertropfen eine Welt von durchsichtigen Infusorien, durch welche die große Welt parodiert wird, da es unter jenen kleinsten Geschöpfen auch solche Exemplare gibt, welche aller Mysterien bar und nach dem Prinzip der Öffentlichkeit Herz und Eingeweide nach außen gekehrt tragen.

Eine Weile umtanzen uns diese Richterschen Gedanken, Redefiguren, Zitate und Launen wie ebenso viele Witzteufelchen, Gnomen und Kobolde; und dann wächst einer von ihnen zu einem Riesengenius empor, der mit seinem Haupte über die Wolken hinausreicht und mit Sonne, Mond und Sternen spielt.

Dieser J. Paul bringt unser ästhetisches Gewissen durch seinen nirgend Maß und Ökonomie kennenden Stil, durch seine Superfötationen zur Verzweiflung. Bei diesem modernen Urmenschen geht es wie im Urwalde her; jeder Gedanke klettert auf ganzen Gedankenpyramiden von Voreltern umher; Detailgedanken winden sich mit Detailbildern und Detailempfindungen wie ein Rest von Kleisterälchen und Käsemaden durcheinander, die eines Augenblicks zu Meeraalen und Seeschlangen heranwachsen, um ebenso plötzlich vor unsern Augen als Hydrarchen, als Plesiosaurier zu erstarren und zu versteinern. Und dann wieder entzückt dieser Zauberer, dieser Nebelbilder- und Phantasmagorieenpoet unsere Seele, wenn er endlich erschöpft all' diese Witzquälereien und Empfindungsungeheuerlichkeiten, diese ganze Museumswirtschaft von Spirituskuriositäten und anatomischen Präparaten, von Herbarien und Petrefakten verschwinden und ein Idyll erstehen läßt, wo alles klar und bar ist, wo wir den firnen Wein des Lebens und die Elemente des Lebens kosten.

Dieser Autor ist mit einem Worte ein konkretester, reellster Extrakt aus dieser sublunaren Welt. Wie in dieser selbst, so sind bei ihm Perlen und Kot, Staub und Äther zusammengeknetet, Weisheit und Narrheit zusammengegattet, Tod und Leben ineinandergeflochten, Idealismus und Realismus, Mechanismus und Organismus, Sympathieen und Antipathieen, Symbolik und Buchstäblichkeit im himmlischen Humor durcheinandergerührt; grüne Saaten wachsen bei ihm auf Moder und Blumen, auf Gräbern und Schutt. Wie in der wirklichen Welt, so hasten in Richters Romanen Maschinen auf eisernen Bahnen durch Urwälder, über Abgründe und Ströme oder durch die Labyrinthe der Zivilisation; oder es fließen Weltströme, deren Quellen unerforscht bleiben, 1000 Meilen weit durch Sandwüsten und Felsen zum Meer, wie der Nil, und befruchten mit dem Schlamm von unbekannten Gegenden das unfruchtbare Land. Man muß Ägypten gesehen haben, dann hat man einen Schlüssel, eine Analogie und ein Gleichnis für Jean Paul. Auch in ihm haben sich, wie in Ägypten und in jedem essentiellen Deutschen, alle Kontraste vermählt, aber auf eine Weise, welche dem Welt- und Sinnenmenschen und dem guten Geschmack als die umgekehrte Welt erscheint. Auch bei J. Paul ist das Leben auf den Tod bezogen, sind die Gräber sorgfältiger wie die Wohnungen ausgebaut, ist unter der Erde mindestens so viel gearbeitet wie über der Erde, ist das Ungeheuerliche ein Lieblingsprinzip, ist der Materialismus mit dem Idealismus, die Philisterei mit der Himmelsbürgerschaft, die Tyrannei der Sitte und Tradition mit den Kapricen und Phantastereien, mit dem Naturalismus und der Romantik in die Wette zum Himmel gewachsen, wie wir an den Pyramiden und Königsgräbern ersehn; und ein Nilstrom läuft aus unerforschten Quellen und Himmelsstrichen zwischen Felsen und Wüsten dahin, aber mit gesegneten Fluren an seinen Ufern, so daß sich das Brüllen der Wüstentiere mit den Gesängen der fröhlichen Paradiesbewohner vermischt.

Um über J. Paul anschaulich und gründlich zu berichten, müßte man ein monströses Buch schreiben, in einem monströs überladenen und überwucherten Gleichnisstil, mit einem »Bilderwitzstil«, der nach dem Ausdruck von W. Schlegel »wie Reichstruppen zusammengetrommelt ist«. So viel ist aber gewiß, an J. Paul kann man, gleichwie an G. Hamann, ersehn, daß eine Literaturgeschichte der Deutschen unmöglich ist, weil ein einziger Schriftsteller ein lebenslängliches Studium in Anspruch nimmt.

Hegel spricht naserümpfend von J. Paulschen »Trivialitäten« und hat zur Hälfte recht, wie mit »den Täuschungen eines vergoldeten Alltagslebens«, die er dem Philosophen Jacobi schuld gibt; aber der große Metaphysiker hat nicht begriffen, daß in den Richterschen Trivialitäten die Geschichte des Menschenherzens und die Metaphysik des Alltagslebens enthalten ist, und daß beides nur ein Deutscher zu geben vermag. J. Paul ist wie ein buckliger Engel, wie ein Seraph mit rotem Haar oder mit Pockengruben im Gesicht; mir zu Gefallen lasset diesen Seraph noch eine gepuderte Perücke und einen »Eiselefrack« ohne Beinkleider und mit einem Feigenblatt anhaben. J. Paul kann, mit Kunstmaßstäben gemessen, zu einem Ungeheuer gemacht werden, aber »sein Herz (sagt, glaub' ich, Carlyle) und sein Blick sind eines Engels!«

Man kann J. Paul zum Vorwurf machen, das Größte und das Kleinste sei von ihm bald gut, bald übel zusammengereimt, der Bruch zwischen Ideal und Wirklichkeit nur mit Humor maskiert, aber keinmal in einer Form versöhnt worden. Er habe immer die Extreme geliebt, demzufolge bald mit Teleskopen die Milchstraße examiniert und dann wieder mit Mikroskopen den »Rädertierchen« das Eingeweide beschaut; Helden- und Märtyrertaten und dann wieder Kinderherzen mit ihrem Spielzeuge auf der Wage des Jüngsten Gerichts gewogen. Er habe selbst erklärt, das Lebensglück bestehe in einem Ätherfluge über allen Schmutz und alles Elend der Wirklichkeit hinweg, oder darin, daß man sich in eine Erdfurche festsiedelt, wie eine Lerche, oder mit beiden Extremen wechselt. Es ist wahr, J. Paul hat selten die gesunde Mitte festgehalten. Bald schwingt er sich über die Sterne hinaus, bringt Weltschöpfung und Weltgericht vor unsere Sinne, improvisiert »eine Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab«, träumt einen entsetzlich speziellen Traum von einem Schlachtfelde und drechselt sich dann wieder »Blumen-, Frucht und Dornenstücke« zum Zeitvertreibe vor; erfindet das »in sich vergnügte Schulmeisterlein Wutz« oder »Katzenbergers Badereise« mit seinen Pfefferkuchen, die der Held den Patienten auf den Magen legt und nach der Kur an Kinder fortschenkt. Der Witz unseres Poeten vergleicht in der »Selina« die Erde mit einem ungeheuern Leichenwagen, der um die Sonne fährt, und im »Kampanertal«, wo das Thema ebenfalls die Unsterblichkeit ist, wird man von zwei »Sofakissen« zur Verzweiflung gebracht, mit denen der kuriose Witz des Dichters bis zum Aberwitz in Metaphern spielt. Dieses Sündenregister des schlechten Geschmacks läßt sich bei unserem kuriosen Poeten bis zur halben Bogenanzahl seiner gesammelten Werke vermehren; aber der philiströse Realismus abstrahiert aus diesen »Richterschen« Extremen eine gar zu hausbackene Mittelmäßigkeitsphilosophie. Selbst gescheite Leute machen bei Gelegenheit dieser Exzentrizitäten J. Pauls darauf aufmerksam, daß die Natur uns an dem Auge die gesunde Mitte und Lebensharmonie gelehrt. Der Geist des Menschen solle die irdischen Dinge weder zu groß noch zu klein sehn; er dürfe aus seiner Vernunft keine Teleskope und aus seinem Verstande keine Mikroskope schleifen, d.h. also, der Mensch dürfe wohl ein Astronom und ein Anatom, aber er solle in der Philosophie kein Sterngucker, kein Geisterseher und als Poet kein Seelenzergliederer, sondern am liebsten so einer sein, der sich von den natürlichen fünf Sinnen und vom gesunden Menschenverstande die Grenzen und die Weiten für den Geist, für die Phantasie und das Gemüt geben läßt. Eine solche Philosophie ist aber nicht nur Trivialität, sondern Unwahrheit und borniertes Räsonnement. Die lebendige Mitte muß in Extremen ihre Lebenskraft erneuern; eine fix und fertige Idee gibt es für den Dichter nicht, und für ihn liegen die Pole weiter auseinander als für jedermann.

Wir können nicht alle Dichter und Philosophen, aber wir sollen und können Menschen sein, welche das Wirkliche überdenken und überträumen; denn die Bedeutung und Bestimmung des Geistes ist eben dies, daß er übersinnlich denkt, wie des Gewissens, daß es über das Verstandeswissen und die Natur hinausgeht. Wenn uns aber schon die Astronomie und Anatomie zur Lehre vom Größten und Kleinsten anführt, wie soll dann dem Geiste und der Phantasie eine Grenze gesteckt sein; und warum soll der Dichter und Denker das Augenmaß und die praktische Mitte für das absolute Maß und die absolute Wahrheit ansehn?

J. Paul beleidigt unser ästhetisches Bewußtsein nicht nur durch einzelne Geschmacklosigkeiten, sondern auch dadurch, daß er fast nie ein Ganzes zu geben, daß er keine Idee festzuhalten, daß er nicht die Partikularitäten zu beherrschen, zu figurieren und zu färben vermag. Alle poetische Mannigfaltigkeit soll sich als der Reichtum eines und desselben Lebens darstellen, ähnlich wie die bunteste Flora eines Landes den Charakter desselben Himmelstrichs darlegt. Wie sich die nordische Fauna und Flora von der tropischen unterscheidet, so muß auch im Dichtwerk oder im Tonwerk bei aller Mannigfaltigkeit ein Grundton, eine generelle Form und Färbung festgehalten sein.

Miserabel ist eine Idealität ohne Kerngestalten und ebenso trostlos ein Individualisieren, in welchem sich nicht die Kraft der Idee, das Weltgesetz und die Lebensintegrität erkennen läßt.

J. Pauls Romane und Studien symbolisieren die Zerkrümelung, die musivische Mosaikartige. Geschichte der deutschen Nation. Nicht nur des Mannes Witz, sondern seine Intentionen, Situationen, Charaktere und Motive, seine ganze Kunst, d.h. seine Künste sind aus allen Weltreichen und allen Schriftstellern der Welt zusammengeholt; aber als echt deutsches Universal- und Museumsgenie hat er gleichwohl alle Kontingente mit seiner Persönlichkeit verbunden (wie er sagen würde, mit seiner Nabelschnur verknüpft), mit seinem Genius gestempelt, mit seinem Witz gekittet und jedes musivische Stiftchen mit seinem Herzblut gefärbt; das Ganze hat er zum Sarkophage seines Geistes gemacht.

Ein geschmackvoller Dichter, ein Formenkünstler und Klassiker ist J. Paul freilich nicht und wollte er nicht sein, aber er bleibt nichtsdestoweniger ein höchst merkwürdiger Naturalist und Autodidakt, d.h. ein echt deutscher Poet, der die Kunst auf eigne Faust erfinden will und bei diesem Experiment unleugbar solche Saiten der Seele gespielt, solche Herzenstiefen ergründet und akzentuiert hat wie kein klassischer Poet.

Die Natur bleibt ewig unser Muster, wenn man sie nur auszudeuten versteht. Wir Menschen haben nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Dichtkunst die Genremaler und die Historienmaler; wir finden in allen Künsten und Wissenschaften, auf allen Bildungsstufen die Realisten und Idealisten, die Detailkrämer und die Grossisten, die Pfahlbürger und die philosophischen Weltbürger wieder. Jean Paul macht den Idealisten und Kosmopoliten mit Recht den »Nihilismus« (d.h. den Schematismus und den abstrakten Stil) zum Vorwurf, während er selbst mit seinen kleinstädtischen Humoren und Detailkünsten selten aus der Alltagsmisere, »aus dem warmen Lerchennestchen« herauskommt, sondern die kleinbürgerlichsten Kapricen und Gewohnheiten vor dem großen Publiko auskramt.

Wenden wir uns, angewidert von solcher Selbstschwelgerei, von einer Romantik, die unablässig in den Eingeweiden mantscht und für die Liebhaber Herzblut verspritzt, zu den objektiven und klassischen Poeten, so fühlen wir den Augenblick, daß wir's mit leidigen Stilisten, mit Mathematikern, Mechanikern und Schematikern, mit Weltumseglern im Luftballon zu tun haben, die uns Landkarten aus der Vogelperspektive zeichnen oder Barometerbeobachtungen aus dem Luftäther mitteilen und fertiggehaltene Phrasen für Empfindungen oder Eingebungen am Muten sind.

Den romantischen Naturen kann es bei keiner Gelegenheit natürlich und übernatürlich genug und den Klassikern nicht kunstgerecht und methodisch und mathematisch förmlich genug hergehn. Sie haben die unerträgliche Kunst erfunden, wie man nicht nur mit abstrakten Gedanken, sondern mit abstrakten Empfindungen und mit dem unvermeidlichen Literaturstil einen Dichter, Künstler und modernen Menschen debütieren darf.

Es gab einen reisenden Engländer, der sich quälte, die schönsten Landschaften in der kuriosen Stellung anzusehn, daß er den Kopf durch seine eignen Beine steckte, weil das ins Gesicht strömende Blut eine augenblickliche Phantasmagorie erzeugt; und es gibt viel verständige Leute, welche eben ihrer Nüchternheit wegen das Natürliche und Poetische auf den Kopf stellen, um es dann gar nicht zu verstehen. Auch unter den Dichtern gibt es solche Phantasten, welche das Wunder des Lebens mehr an kranken und abnormen als an normalen und gesunden Erscheinungen zur Darstellung bringen. Callot-Hoffmann, Vgl. S. 151, Anmerkung. obgleich ein tiefsinniger, origineller und wirklich poetischer Mensch, war gleichwohl ein solcher exzentrischer Geist und Phantast, der nicht selten die Ebenbilder Gottes und das menschliche Leben in seinen Humoren bis zur dämonischen Fratzenhaftigkeit verzerrt hat. Nichtsdestoweniger wird er auf Grund dessen, daß er Humorist ist, von den Literaturhistorikern und Ästhetikern mit J. Paul in Parallele gestellt, obgleich eben dieser Poet darin seine Größe und Originalität besitzt, daß er die Mysterien des Daseins aus den alltäglichsten Tatsachen und Situationen extrahiert und in ihren kleinsten Zügen nachweist; daß er, wie schon bemerkt, eine Poesie und Metaphysik des Alltagslebens gibt. Während Hoffmann durch eine ungezügelte, dämonische Leidenschaftlichkeit die Phantasie befleckt und nicht selten durch aberwitzige Phantasterei seine idealen Grundzüge und Intentionen verzerrt, so bleibt J. Paul immer keusch und wird nur durch zu individuelle, aber nie in Sinnlichkeit ausartende Herzenstriebe und Energieen zu Geschmacklosigkeiten, d. h. zu einem Überschreiten der Grenzen verführt, die selbst der Dichterfreiheit in der Darstellung ganz persönlicher Empfindungen, Formen und Lebensarten gezogen bleiben. Die Pole und Faktoren des J. Paulschen Humors sind Herz und Gemüt in ihrem Gegensatz zu Witz und Verstand; also ein echter Gemütswitz, der das Größeste, das Idealste und Heiligste im Kleinsten, Zufälligsten und Persönlichsten nachweist und sich zum Spaße mit einem Brennglase die Pfeife an der Sonne ansteckt; während Callot-Hoffmanns Humor an einem Kunstfeuerwerk die Fratzereien und den Teufelsspuk einer Walpurgisnacht zeigt, wenn er auch bewiesen hat, daß er das Beste zu leisten vermag, daß er nicht nur die gemeinsinnliche, sondern die trivialdämonische Natur der Leute selbst in den poetischen Masken und sittlichen Harnischen viel sichrer und mit mehr Witzroutine herauszufinden weiß als J. Paul, dessen Malicen hochkomische Kunststücke sind.

Die ästhetischen Päpste suchen dieses Beste in den Erzählungen »Meister Martin und seine Gesellen«, »Das Fräulein Scuderi« u.s.w.; aber ich meine, das Beste steckt bei Hoffmann wie bei allen ungeregelten und unbändigen Naturen in ihrem Schlimmsten, und bei dem ostpreußischen Poeten enthält ein und dieselbe Novelle (ähnlich dem Aberwitz) den Witz und das »Aber«, die Phantasie und das Delirium, den idealen Traum und die Fratzerei des Traumes. Einen »Meister Martin« kann auch ein anderer guter Poet schreiben, aber einen »Kater Murr«, »Klein Zaches«, »Sandmann«, »Goldnen Topf«, einen Geigenspieler wie »Rat Krispel« erdichtet und erphantasiert nur einmal und ursprünglich so ein Original und keiner mehr.

Callot-Hoffmanns Humore dienen keiner großen Idee und Weltanschauung, sondern nur persönlichen Sympathieen und Antipathieen, die zu Idiosynkrasien und Narrheiten stimuliert und zu Schwelgereien im kuriosen Selbst ausgeartet sind. Jedenfalls steht fest, daß der echte Humor auf einer passageren Vorübergehenden. Stimmung beruht, die man nicht für ganze Bücher fixieren kann, auf einer Persönlichkeit, die man nicht zur Literatur und Kunstnorm machen, und auf einem Schisma, also auf einer Scham, die man nicht ohne Schamlosigkeit systematisch ausbeuten kann.

Die Hauptanklage gegen J. Paul lautet mit gutem Grunde auf Formlosigkeit überhaupt, insbesondere auf Versündigungen gegen den guten Geschmack. Da nun aber unser Dichter nicht nur ein Träger der kleinstädtischen, sondern der, im Auslande verrufenen, deutschen Geschmacklosigkeit ist, so erlaube ich mir eine kurze Explikation über das Thema vom Geschmack, und zwar nicht allein mit Rücksicht auf den Romantiker, den Humoristen und Autodidakten J. Paul, sondern auch mit Beziehung auf die patenten Leute, welche den guten Geschmack für Deutschland in Entreprise Pacht. genommen haben, d. h. auf die Klassiker und Stilisten vom jüngsten Stil.

Der Begriff des Geschmacks muß reduziert werden auf den Begriff der Versöhnung von Natur und Konvenienz. von Lebensunmittelbarkeit und Form, von Phantasie und Verstand, von Selbstverleugnung und Selbstschwelgerei. Geschmacklos ist der Mensch, welcher seine Persönlichkeit, Landsmannschaft und Rasse so in den Vordergrund stellt, daß der generelle Charakter verschwindet; wenn man sich aber (wie unter überfeinerten Leuten Sitte ist) nur abstrakt begegnet, wenn man einander nur die Verstandesmathematik oder die Schlaube Hülse, Schale. seines Wesens präsentiert und das Eingeweide, das individuelle Leben absperrt, so verschuldet man Unnatur, also Absurdität.

Geschmacklos ist im allgemeinen jeder Mangel an Verstand, d.h. an immanentem Geiste, jede Kraft, die nicht alle Augenblicke Endlichkeit, Form und Realität zu werden versteht, jede Übertreibung, Exzentrizität und Formlosigkeit, also die Phantasterei, die Ekstase, Begeisterung, die nicht ihren Inhalt zum angemessenen Ausdruck bringen kann; aber eben drum auch jede Form, die so weit ausgearbeitet ist, daß von ihr die Natur, der lebendige Inhalt, die überschüssige Kraft und Divination absorbiert wird. Geschmacklos ist der Philosoph, wenn sein transzendenter Geist, d.h. seine Schulvernunft, sein Idealismus nicht fort und fort zum immanenten Geiste, d. h. zum reellen Verstande verdichtet, und wenn dieser nicht zur Transzendenz, zum Ideenleben expandiert wird. Denn an dem absoluten Maßstabe der Weltökonomie, der Gottesvernunft bemessen, ist jedes halbierte Leben, also auch der konkrete Verstand der Empiriker und Naturforscher so abgeschmackt als der abstrakte Verstand und die Schulvernünftigkeit der Metaphysiker.

Geschmacklos ist ein Poet wie J. Paul, weil er Poesie, Schönheit und Leben aus Einzelheiten zusammensetzen, weil er in seine Individualität das Universum abfangen, bei aller Gelegenheit alles sagen und sein will, weil er nirgend Maß und Ziel kennt, sich nirgend verleugnet, und weil er überdies noch die unverträglichsten Sphären, Intentionen, Formen und Farben so durcheinandermengt, daß jede Illusion und Lebensbewegung von der andern verlöscht wird.

Geschmacklos ist der J. Paulsche Humor, weil er aus Millionen Witzbläschen besteht, von denen ein jedes Himmel und Erde abspiegeln will; nicht minder geschmacklos aber wird eine Klassizität, die ihre Formen ohne Witz und Seele behändigt, von jeder Persönlichkeit und Divination abstrahiert, alle Lebensmysterien ignoriert und nur den idealen Schematismus, d. h. die Schreibart zum besten gibt.

Die Deutschen werden abgeschmackt, weil sie zu transzendent, die Engländer, weil sie zu immanent, zu positiv und realistisch sind; die Franzosen, weil sie bald das Romantische, bald das Klassische affektieren und mit beiden Lebensarten, weder natürlich noch übernatürlich umzugehen verstehen.

Geschmacklos ist eine Form, die für sich selbst eine Macht bedeuten, also ein Stil, der sich nicht irgendwie und -wann von seinem Inhalt und vom Leben auflösen lassen will. Geschmacklos ist die Romantik wegen ihrer schaukelnden Phantasiehängebrücken, die der Verstand nicht ohne Schwindel betreten kann; aber nicht minder geschmacklos ist die moderne Intention, auch solche Prozesse vermitteln oder solche Spaltungen solide überbrücken zu wollen, welche die Phantasie verbinden oder die Seele als irdisch geschiedene Sphären und Momente empfinden soll. Geschmacklos ist die christlichheidnische Humanität und Klassizität, wenn sie (wie heute) auch da architektonisch konstruierend zu Werke gehen will, wo Naturwucherungen in ihrem angestammten Rechte sind, wo die Mathematik des Schulverstandes von dem vegetativen Leben der Seele umrankt oder momentan absorbiert werden soll, wie im christlichen Glauben, in der christlichen Liebe und Kultur.

Geschmacklos ist eine Klassizität, die lauter Zeichnung, Form und Schlaube geworden ist und weder Seele noch Farben noch Perspektive oder natürlichen Untergrund hat; eine Klassizität, die ohne Pathologie, ohne entschiedene Sympathieen und Antipathieen, ohne Fleisch und Blut, ohne Witz und Herz Geschichte machen will.

Es kann kein Verständiger eine Wildnis geschmackvoll finden, aber ebensowenig einen französischen Garten im geometrischen Stil von Lenôtre, Der Schöpfer des französischen steifen, regelrechten Gartenstils André Lenôtre (1613–1700). durch welchen die schöne Freiheit der Vegetation unter die Schere gebracht wird. Es reimt sich aber gleichwohl gut zusammen, daß die Gärten in Versailles, die auf den Ruf eines allmächtigen Selbstherrschers, Tyrannen und Staatsmechanikers entstanden, aus verschnittenen Alleen und Hecken bestehen, und daß man hier der frei wuchernden Natur stereometrische Räsons beigebracht hat. Im allgemeinen sind alle Extreme und Einseitigkeiten abgeschmackt. Ein Halbbarbar oder Bauertölpel, dem Gras zum Halse herauswächst, ist so wenig geschmackvoll als ein Schulpedant, der alle natürliche Poesie, alle Zeugungskraft der Seele und des Geistes mit Schulformen verschnitten oder reguliert hat, der fort und fort einen Begriff durch den andern vermitteln will, weil er nicht begreifen kann, daß sich zuletzt alle Begriffe auf etwas unmittelbar Gegebenes, auf das Wunder des Lebens beziehen müssen, und daß alle Verständigung, namentlich aber der poetische Verkehr auf dem gemeinschaftlichen Lebensinstinkt, auf Divination und Gemeingefühl beruht; daß demnach zu wenig Naivetät und zu viel Vermittlungsprozeduren ebenso abgeschmackt werden als eine zu formlose und primitive Naivetät.

Der Geschmack kontrolliert die Persönlichkeit, die persönliche, lokale oder augenblickliche Illusion; er berechnet die Differenz zwischen der eignen Information und dem Publikum, welches informiert, illuminiert und au fait gesetzt werden soll. Ich bin geschmack- und taktlos, wenn ich meine Naturgeschichte dem Publiko unterschiebe, wenn ich meine unmittelbarsten, individuellsten Sympathieen und Empfindungen, wenn ich zufällige Illusionen oder Antipathien ohne Methode und ohne förmliche Vermittlungen auf einen zweiten Menschen übertragen will; wenn ich nicht die Eventualitäten oder die Heterogenität der eingelebten Formen, die versöhnt werden sollen, in Rechnung nehme; wenn ich nicht den Prozeß ermesse, welcher absolviert werden muß, bevor aus der Lebensunmittelbarkeit, aus der Seele, sich eine Wissenschaft und Realität, eine förmliche Gestalt und ein Verstand erzeugen kann.

Die Extreme berühren sich aber überall, und so geschieht es denn, daß nicht nur die Romantiker und Humoristen geschmacklos werden, indem sie von Form, Stil und Methode oder wohl gar vom ordinären Verstände abstrahieren, welcher die zufällige und endliche Natur der Dinge ins Auge faßt, sondern daß dieselbe Geschmacklosigkeit sich auch bei den Klassikern, den Stilisten, aus dem übertriebenen Schematismus, aus einem »ästhetischen Formalismus« erzeugt, welcher von der Seele, vom Gemüt, vom Instinkt und Gemeingefühl, von allem individuellen Leben abstrahiert, indem er sich absolute Objektivität, d. h. Unpersönlichkeit zum Ideal gesetzt hat.

Der Naturalist ist schlechtweg naiv, also geschmacklos, denn er schiebt seine Persönlichkeit und zufällige Stimmung dem Publikum unter; er ermißt nicht den Weg aus dem Auge bis zur Hand, von der Empfindung zum Wort; die Differenz zwischen Natur und Form, zwischen einer Form und der andern; zwischen Ekstase und Konvenienz, Natur und Sitte ec. Der Witz überbrückt und überspringt oder übertreibt diese Differenz; der Humor beutet sie aus, wird also prinzipiell abgeschmackt und braucht den feinsten Takt, wenn er nicht de facto geschmacklos werden soll.

Der Sprachgebrauch unterscheidet den Takt von dem Geschmack ziemlich richtig und konsequent so, daß er unter dem Takt die divinatorische, also mehr passive und unmittelbare Erkenntnis sittlicher Verhältnisse und Gesetze, unter dem Geschmack aber den ästhetischen Verstand begreift, der sich im richtigen Gebrauch von künstlerischen Formen und Prozeduren gleichwie im Produzieren derselben darlegt.

Die Geschmacklosigkeit kann auch eine sittliche, die Taktlosigkeit eine ästhetische Verschuldung involvieren. In diesen Fällen verstößt die Geschmacklosigkeit mehr gegen die positive Form, gegen den sittlichen Schematismus, kurz gegen den sittlichen Verstand, als gegen die Mysterien des sittlichen Gewissens und Gefühls, mehr gegen ein Einzelmoment als gegen den Rhythmus und die Ordnung der sittlichen Welt. Andrerseits wird unter der Taktlosigkeit in der Kunst weniger ein Verstoß gegen die natürlichen als gegen die konventionellen Gesetze der Kunst, also ein Mangel an dem sittlichen Gefühl verstanden, welches den Untergrund auch der Kunstformen bilden muß.

J. Paul z. B. zeigt sich selten taktlos, weil seinem edeln Herzen das natürliche Sittengesetz, d. h. die zur andern Natur gewordene Vernunft selbst da gegenwärtig ist, wo sie mit dem konventionellen Verstande versöhnt erscheint. Aber geschmacklos ist J. Paul insofern, als er die endlichen Formen, Prozeduren und Bedingungen ignoriert, in welchen das Ideale und Unendliche allein verwirklicht und zur Anschauung gebracht werden kann. Die Kenntnis dieser Formen ist aber eben der künstlerische und sittliche Verstand; seine Manifestation ist der Schematismus, die Methode, der Stil, der Geschmack.

Die Verführung zu einer monströsen Einseitigkeit des subjektiven Lebens hat zunächst darin ihren Grund, daß dem Menschen, der sie verschuldet, nicht Stoff genug oder ein solcher zugeführt wird, den die Persönlichkeit zu leicht verzehrt, also in ihren Luxus verwendet, wie es z. B. bei Kleinstädtern geschieht.

Wenn sich der Mensch, der Mann zumal, zu einem großen Lebensstil erziehn, wenn er einen objektiven Sinn und Verstand, wenn er Geschmack gewinnen soll, so muß er auch einem großen Gegenstande und zwar einem solchen hingegeben sein, in welchem ein konkretester Geist mit einem reichen, vielgestaltigen Material zu bewältigen ist. Dies erwogen, scheint es, als wenn die Großstädter, die Diplomaten und Historiker schlechtweg die geschmackvollsten Menschen sein müßten, aber ihre Geschmacklosigkeit und ihre Einseitigkeit pflegt an dem den Kleinstädtern entgegenstehenden Ende herauszutreten. Die Menschen »des großen Stoffs« werden in der Regel Realisten, obwohl sie ihren Materialismus hinter einem konventionellen Schematismus verstecken, welcher von ihnen Ton, Façon, Methode und Stil genannt wird; darin besteht dann der großstädtische Geschmack, der bei Diplomaten und Publizisten noch mit wunderschön unausstehlichen Arabesken, nämlich mit Feinschnitzeleien, Parteiintrigen, Konsequenzmachereien, Balancierkünsten und Taschenspielerei, mit verschrobenen Standpunkten und optischen Künsten in Szene gesetzt wird.

Das sind aber nur die Geschmackskünste im kleinern Stil; der große unserer Historiker besteht mit verzweifelt wenigen und daher weltberühmt gewordenen Ausnahmen darin, daß man die philosophische und die realistische Methode ineinszubilden, daß man in einem Luftballon aufzusteigen und aus der Vogelperspektive ein Land, einen Weltteil oder den ganzen Erdball mit den Fernröhren einer sublimierten Einbildungskraft zu betrachten und mit dialektischen Formeln zu photographieren versteht, daß man nicht nur das persönliche Leben, sondern die Weltgeschichte zu entfärben, zu entfleischen. zu entseelen, daß man das Weltleben auf einen wissenschaftlichen Schematismus zu reduzieren versucht. Dies ist dann der absolute Witz, nämlich die Ironie, welche unsere Seele für den Verstand zu eskamotieren versteht. Sie bleibt aber dabei nicht stehen, sondern verleugnet den subjektiven Verstand für die objektive Weltvernunft und diese letztlich für die welthistorische Grammatik, Dialektik und Mathematik, die in Kraft literarischer Lizenz und Naivetät mit der konkreten Weltgeschichte identifiziert wird.

Die Leute des großen Stoffs und Stils abstrahieren, wie die antiken Tragöden, von der Seele und Persönlichkeit; sie stecken Masken vor das Gesicht und schreiten auf dem modernen Kothurn, nämlich auf welthistorischen Siebenmeilenstiefeln, einher. Die Poesie dieser Leute vom großen Stil und Geschmack besteht nur darin, mit einem spekulativen Spinnefaden den Erdball oder am liebsten das Weltall zu umfassen und lauter Meridiane zu ziehen, ohne irgend eine Gravitation gegen irgend einen bestimmten Punkt; von einer Verschmelzung mit einem solchen kann also keinen Augenblick die Rede sein. Es ist eine Geschmacklosigkeit, wenn man, wie Jean Paul, zehntausend Gravitationspunkte etabliert, wenn man ohne Aufhören von allen kleinsten Dingen angezogen und absorbiert wird, wenn man die ganze Seele und den ganzen Geist an die kleinsten Stoffe, an kuriose Einfälle und noch kuriosere Formen zu verschwenden Pflegt. Aber es ist ebenso abgeschmackt und noch unerquicklicher, noch widernatürlicher, wenn man, wie die Klassiker und Stilisten der jüngsten Zeit, lauter Weltkreise und keine Herzpulse, lauter Formen und keinen Kern, lauter Anatomie oder Zeichnung, aber kein Fleisch und Blut, lauter Schulvernünftigkeit und keine natürlichen Sympathieen besitzt; wenn man die Weltgeschichte ohne ihre Fleischwärzchen und ihr Blut in Besitz nehmen will.

Ein junges Genie, zugleich mit edler Dreistigkeit und Tatkraft betraut, ist ein Ungeheuer, die schrecklichste Pönitenz für die gute Gesellschaft, da sie von der Tradition und Konvenienz in Künsten, Sitten und Wissenschaften lebt. Ein junges, unreifes und reformsüchtiges Genie ist die Antipathie aller Leute, welche vom guten Geschmack, von den konventionellen Akkommodationen, von den liebenswürdigen Manieren und von dem auf sie gegründeten Geisteskomfort Profession machen. Die distinguierte Gesellschaft, welche in der Aisance, Französisch: Leichtigkeit, Ungezwungenheit. im Aplomb, Französisch: sicheres Auftreten, Benehmen. in dem Verkehr mit ästhetischen, elastischen und bequemen Formen ihr Wesen ausgestaltet, kann alles leichter vertragen als die Alterationen ihres Komforts und ihrer Freimaurerei des guten Tons durch dreiste und schroffe Genies. Aber nicht nur die Aristokraten, sondern wir alle leben nur mit Hülfe von Formen, die eine exoterische und esoterische Geschichte, einen Idealismus und einen Realismus, einen Geist und einen Körper haben und neben der Buchstäblichkeit eine Symbolik in Anspruch nehmen, der man nicht ohne symbolischen Verstand gerecht werden kann. Diese Formen sind ebensowenig in ihren elastischen als in ihren festen Teilen, ebensowenig in ihren Konsequenzen als in ihren kapriziösen Inkonsequenzen zu explizieren, zu begreifen oder zu entschlagen, falls man sich nicht der ganzen kultivierten Welt, den Künsten, den Wissenschaften, den Sitten und Literaturen als Barbar entgegenstellen will. Die Handhabung dieser Formen, mit denen unser ganzes Leben verwachsen ist, ihre Zügelung, Lockerung, Vereinfachung und Komplikation, ihre feine Interpretation und Kritik, das ganze Geheimnis, mit diesen sittlichen Formen zu leben, sich und andere an ihnen zu bilden, sich und seine Nebenmenschen mittelst ihrer zu binden, zu lösen, zu herrschen, zu verstehen und zu taxieren; die Kunst, mit diesen Formen zu chikanieren, zu soulagieren, Erleichtern, helfen. zu mystifizieren, zu prellen, zu dupieren, zu heiligen und lächerlich zu machen, setzt eine lebenslängliche Routine und dazu noch ein angebornes Talent, ein Kulturerbe gebildeter Eltern und Vorfahren voraus, wenn es zur Virtuosität, zur wahrhaft feinen Lebensart, zur geselligen Bildung, zum feinsten Witz, Takt und Geschmack kommen soll. Für diese Mysterien hat das junge Genie, hatte auch Jean Paul keinen Sinn und Verstand. Er produzierte Formen aus seinen Eingebungen heraus, alterierte die künstlerische wie die wissenschaftliche Konvenienz, die Methode, den Schematismus, den Stil und wurde nicht selten ein Ungeheuer von Geschmacklosigkeit, so daß selbst Schiller und Goethe, die doch mit ihrem Genius den Genius Richters herausfinden mußten, den Autor der unsichtbaren Loge und der Hundsposttage ec. nicht mit Unrecht einen »Bockshirsch« (Tragelaphos) nannten. Aber der edle Hirsch hat gleichwohl den unedlen, garstigen Bock abgestoßen, oder er ist nur scheinbar mit einem solchen verwachsen gewesen. J. Paul war und wurde ein Dichter sui generis, ein Genius, der zwar keinen Kunst- und Literaturmaßstab verträgt, aber dafür auch keine Schullineale, keine fremden Ebenmaße, und wären es solche von Griechen und Römern, verschluckt und schlecht oder gut assimiliert hat. Wir brauchen neben so vielen Literaten, die mit einem Mengefutter, oft nur mit Schablonen, aus allen Zonen und Zeiten großgezogen worden sind, auch Menschen, die auf der vaterländischen Weide groß geworden sind und an der Eigenart ihres Volksstammes ihre Individualität in aller natürlichen Herzenskraft entwickelt haben: zu ihnen, zu den Hamann, Hippel, Möser, Lichtenberg gehört J. Paul; er ist ihr Herz und ihr Haupt.

Da unserem Jean Paul und den Romantikern überhaupt nicht mit Unrecht ein Mangel an Weltverstand zum Vorwurf gemacht wird, so mag mir über jenen Verstand noch ein Schlußwort vergönnt sein.

Eine tiefe Leidenschaft, ein Wehe oder eine wahre Freude, ein einziger Augenblick des entzündeten Herzens, ja nur des sehenden Auges, des hörenden Ohrs, weiht uns tiefer in das Geheimnis des Lebens ein als aller Verstand der Welt. Es gibt einen vollbeseelten Poetenverstand; aber was in der profanen Welt »Verstand« genannt wird, das ist eben nur die Erkenntnis der endlichen Natur der Dinge, der Menschenkräfte, der Ideen. Wem die sinnlichen Grenzen, die Formen aller Kraftäußerungen und Entschlüsse, die Reibungen der Kräfte, die Zufälligkeiten, welche sich zwischen Ursach' und Wirkung einschieben, die Metamorphosen der menschlichen Natur und Verhältnisse, die Formen, in welchen alles Ideale und Subjektive vermittelt werden muß (wenn es verstanden und effektiv werden soll), alle Augenblicke gegenwärtig ist, der hat nach dem Urteil der Welt Verstand. Ein solcher Verstandesmensch orientiert sich nicht von den Ideen und Idealen zur Wirklichkeit, sondern von dieser und von den konventionellen Formen zu den Ideen; er versteht die Formen mit überlegenem Geiste zu kombinieren, zu handhaben und effektiv zumachen; er weiß Menschen, Dinge und Verhältnisse zu seinen Diensten zu zwingen, den Wind in die Segel zu fangen und den Geschäftsmechanismus zu traktieren, und er beherzigt vor allen Dingen die lächerliche Kluft zwischen den Ideen, den Formen, den Leuten, den Stoffen und der Alltagswirklichkeit. Diese Praxis nennt die Welt den positiven Witz. Ihn besitzt der Romantiker allerdings nicht und wird dadurch oft lächerlich; aber derselbe Mensch, welcher mit seiner Kenntnis der trivialen, der endlichen, formalen und mechanischen Seite aller Dinge, Menschen und Geschichten dieselben seinem Willen unterwirft und, wie Napoleon, der tyrannische Maschinist eines ganzen Weltteils wird, der hat darum noch lange keinen beseelten Verstand und begreift oft nicht so viel von der Seele und Genesis, von der Bildkraft und den Gottesmysterien der Dinge wie ein solcher Romantiker, der für einen Träumer, Taugenichts und Simpel passiert. J. Paul wie Schiller besaßen keinen exakten Leuteverstand; aber eben dieser Mangel ist es, in welchem ihr Adel und ihr Zauber über alle edleren Naturen besteht.


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