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IX. Das Gemüt und die deutsche Gemütlichkeit.

»Wenn der Engländer ein Kamel malen will, so macht er eine Karawanenreise; der Franzose läuft in den Jardin des plantes, der Deutsche studiert das Skelett und die ausgestopfte Haut in einem Museum – und schöpft es im übrigen aus der Tiefe seines Gemüts.«

H. Heine.

»Kossuth, Der ungarische Revolutionsheld Ludwig Kossuth (1802–1894), der seit 1849 abenteuernd die Welt durchzog der in Edinburg eine Vorlesung über die verschiedenen Charaktere der Deutschen, Engländer und Franzosen hielt, stellte uns mit unserm weder ins Französische noch ins Englische übersetzbaren »Gemüt« am höchsten, obgleich er gebührend hinzusetzte, daß wir weder mit unserm philosophischen Sinn noch mit unserm Gemüt etwas Großes erster Klasse produzieren könnten. Zu dem vollkommenen Menschen und einer kulturgeschichtlichen Nation erster Klasse gehörten außer deutscher Gründlichkeit und Gemütlichkeit auch die ebenso unübersetzbaren Eigenschaften des englischen common sense Englisch: gesunder Menschenverstand. (nicht, ›Gemeinsinn‹) und des französischen Esprit. – Deshalb seien die drei Nationen nur im Vereine die Blüte der Menschheit.

»Ich bin während der Jahre hier in manche englische Gesellschaft gekommen. Nicht selten ganz gute, liebe, brave Menschen und Familien, aber keine Wärme, kein Fluß, kein herzliches Herauskommen. Immer sehr artig, sehr freundlich, sehr gemessen, sehr reserviert, sehr arm, unerträglich arm an Geist, Gemüt, Herz und Humor. Zum Davonlaufen langweilig. Man kann in der englischen Gesellschaft Reden halten, aber nicht sprechen. Die französische ›Konversation‹ fehlt ganz, und das deutsche Gemüt, das in englische Gesellschaft kommt, zittert vor Angst wie ein steckbrieflich Verfolgter, hinter welchem berittene Konstabler herjagen.

»Es scheint, als könne man uns Deutschen am wenigsten den Vorwurf nationaler Abgeschlossenheit und Einbildung machen. Wir leben in der Mitte verschiedener Kulturen und eignen uns mehr davon an, als den eigentlichen Nationalen lieb ist. Gleichwohl werden die uns eigenen charakteristischen Vorzüge nicht selten zu Fehlern und zum Lachstoffe für andere Nationen.

»Die Engländer sprechen fast stets mit Geringschätzung und Spott von unserer philosophischen Gründlichkeit, noch mehr von unserer bescheidenen, träumerischen, feigen, zögernden Gemütlichkeit, die so leicht in Rechthaberei und Zanksucht ausartet, wenn dem zarten Herzen praktische Opposition entgegentritt. Es mag Fehler der Engländer sein, daß sie die Trauben deutscher Eigentümlichkeit, die ihnen zu hoch hängen, sauer nennen, aber die vergleichende Anatomie verschiedener Völkercharaktere zeigt, daß unsere Vorzüge in philosophischen und gelehrten Dingen, unser Gemüt, unsere Gefühlsweise in nüchternen, praktischen Dingen oft lächerliche Karikatur werden; daß wir bei aller Tiefe und Wärme alles leichter treffen als der Sache Kern.«

(Korrespondenz aus London im »Magazin des Auslandes«.)

Man hat diejenigen verspottet, welche die deutsche Gemütlichkeit als eine Volkstugend hervorhoben; man hat das Gemüt eine Grobheit genannt und ihm die französische Politesse, die rücksichtsvolle Lebensart als eine Herzensdelikatesse gegenübergestellt; dagegen von der deutschen Gemütlichkeit angeführt, sie bestehe außer behaglicher Klatsch- und Absonderungssucht oder zynischer Derbheit in einer unmännlichen Selbstschwelgerei, welche sich außer unzähligen garstigen Eigenschaften auch darin bekunde, daß der eine deutsche Volksstamm den andern sogar um des modifizierten Dialektes und gewisser aparten Manieren oder Redensarten nicht leiden könne, während doch alle Stämme mit diesen verzweifelten Eigenartigkeiten wie mit Flechten und Pockengruben behaftet seien. Das Faktum ist richtig, aber seine Ausdeutung und Nutzanwendung ist falsch. Ein Kind empfindet keine entschiedenen Antipathieen oder Sympathieen, weil sich seine Eigenart noch nicht entwickelt hat. Es befreundet sich selbst mit dem häßlichsten alten Weibe, mit einem garstigen Krüppel und Monstrum in kürzester Zeit, es empfindet kaum einen augenblicklichen Ekel und ebensowenig eine Begeisterung für seine schönen Formen. Um starke Antipathieen zu empfinden, muß man eine Gemütstiefe, einen originellen Charakter und kritischen Verstand besitzen, muß man eine Person sein. Franzosen, Italiener und Polen sind so viel höflicher, freundlicher und flüssiger im Verkehr als die Deutschen, weil sie flacher, sinnlicher, kindlicher, kindischer und charakterloser sind als wir. Wer eine schwache, träge Urteilskraft, eine lebhafte Sinnlichkeit besitzt wie der Franzose, muß sehr natürlich über die Mängel und Eigenartigkeiten seines Nebenmenschen hinwegsehn. Die eigne Leere ruft den Geselligkeitstrieb, die Geschwätzigkeit und eine nichtssagende Höflichkeit hervor. Der Franzose ist flach und eitel genug, sich für eine gebildete und bedeutende Person zu halten; das gibt ihm den Impuls, sich mit einer Delikatesse zu benehmen, die er in dem Augenblick ablegt, wo er sich keinen Effekt von ihr weiter versprechen darf. Zur Herzensdelikatesse gehört eine Gemütstiefe und Erziehung, die man unendlich häufiger unter den Deutschen als unter Franzosen antrifft, deren bonhommie mit ihrer guten Laune ein Ende nimmt, wie das die Deutschen an französischer Einquartierung in Erfahrung gebracht haben.

Wir Deutschen allein verstehn unter dem Gemüt ein konstant gewordenes, sich selber treues und vergeistigtes Gefühl, ein Seelenleben, das, vom sinnlichen Untergrunde abgelöst, gleichwohl mit demselben korrespondiert. Das Gemüt ist eine Grundgestalt der Seele, welcher alle augenblicklichen Gefühle und Gedanken inkorporiert werden; so entsteht eine sittliche Konstitution.

Das deutsche Gemüt, dies Muttererbe der deutschen Menschen, ist die Norm, welche unsere leisesten und stärksten Augenblicksempfindungen, unsre Leidenschaften, unsre sinnlichen und übersinnlichen Impulse reguliert und mit ihnen einen Gefühlscharakter konstituiert. Dies deutsche Gemüt war es, welches sonst nicht nur die Herzenseitelkeiten und Wetterwendigkeiten, sondern auch die Schulvernünftigkeit und den zu hastigen Bildungsprozeß, die lustigen Ideen wie die Phantasie-Ideale inhibiert hat. Daß die Neudeutschen dies dreimal heilige Erbe ihrer Voreltern zu mißachten beginnen, daß die neudeutschen Psychologen in dem Gemüte nur eine Mythe oder die deutsche Winkelbehaglichkeit, Lästerungssucht, Breitspurigkeit und Grobheit ersehn, das ist die Diagnose einer Sinneswandlung und Entartung, welche sich bereits in dem Mangel an solchen Charaktermenschen zu rächen beginnt, wie sie die deutsche Geschichte noch zur Zeit der letzten Freiheitskämpfe in Stein und York, in Blücher und Bülow aufzuweisen hat, um nicht an Friedrich den Großen, an seinen Vater, an den Großen Kurfürsten, an all die Generale der Heldenzeit und an die Heroen im Kampfe der Geister, an einen Luther und Hutten zu mahnen.

Man kann nichts Reelles vom Gemüte aussagen, wenn man nicht von den Tatsachen, von den Mysterien spricht, in welchen sich das deutsche Gemüt bis zu diesem Tage beglaubigt und einen Leib zugebildet hat, von den Sitten, den Gewohnheiten, dem Familienleben, dem Heimatsgefühl.

Eingelebte Formen sind das Geheimnis der Erziehung, der Zivilisation, der Poesie, des Gemüts, welches sich aus sittlichen Gewohnheiten und Herzensrepetitionen konsolidiert. »Der Mensch«, sagt Schiller wunderschön, »arbeitet nichts mit den Händen, woran sich nicht sein Herz beteiligte.« Er verkehrt selbst nicht mit toten Dingen und Formen, ohne daß mit ihnen seine Seele verwächst; dies ist der Segen und Zauber der Heimat.

Wir Menschen finden erst in dem gewohnten Raum und Himmelsstrich, in den bekannten Sprachtönen und Stimmen, in den vertrauten Gestalten und Gesichtern, in allen heimatlichen Lebensarten und Erscheinungen, auf dem vaterländischen Grund und Boden, im nordischen Winter, wenn wir dem Norden angehören, im südlichen, dunkelblauen Himmel, wenn wir Spanier und Italiener sind, unsre eigne Seele wieder.

Die Heimat gehört zu unserm Körper, sie ist unser ätherischer Leib.

Wir können ebensowohl unsre sinnlichen Organe missen als die Jahres- und Tageszeiten, den Himmelsstrich, den Grund und Boden, die Berge und Täler, das Meer oder die Wüste, wenn unsre Sinne mit diesen Naturszenen von Kindesbeinen an verkehrten und zusammengewachsen sind.

Mit den gewohnten Naturbildern und Verwandlungen, mit der eingeatmeten rauhen oder schmeichelnden Luft kehren ja die alten Stimmungen und Gedanken, die Sorgen und Freuden unseres ganzen Lebens zurück. Nur an den gewohnten Gegenständen, Situationen und Beschäftigungen repetieren wir unsere Biographie, nur in den eingelebten Formen behalten wir unser Selbst, haben wir eine Geschichte und diejenige Stabilität, ohne welche es zu keiner festen Charakterbildung, zu keinem Grundton der Seele, zu keinen mit der Seele verwachsenen Gewohnheiten, zu keiner Sitte, zu keinem Gemüt kommen kann. Nur die Heimat kann ein Familienleben erzeugen, kann Sitten und sittliche Charaktere, kann Sinn und Verständnis für die Geschichte bilden. Ohne Heimat sind wir einer Felsenpflanze gleich, die ihre Nahrung allein aus den Lüften saugen muß.

Der beklagenswerteste Grundirrtum unserer Zeittendenzen ist der, daß nur der vollständige Bruch mit den letzten mittelalterlichen Grundlagen und Erinnerungen das neue Leben von seinem letzten Hemmnis befreien könne, daß Ablösung von dem geschichtlichen Boden, von der heimatlichen Scholle, von Sitte und Religion für eine Erlösung gelten soll.

Wer uns die Heimat nimmt, schneidet uns die Gegenwart von der Vergangenheit ab, nimmt unsern Sinnen die gewohnten Anknüpfungs- und Anhaltspunkte, der Seele ihr Vehikel, dem Körper den Boden unter den Füßen. In der Fremde denken wir an unser heimatliches Leben als an ein anderes und begrabenes Ich; die Heimat ist Leben, Poesie, Freude, Witz und Zeugungskraft, die Fremde ist Mechanismus, Unmacht, Prosa und Tod.

Der Geist wächst nur auf einem festen Boden groß, dieser Boden ist die Natur; nur die Gewohnheit fleischt uns die Naturgeschichten so ein, daß sie dem Geiste getraut werden. Wer keine Heimat, keine eingelebten Formen, wer gar keine Gewohnheiten hat, dem fehlt auch die Natur und die Art von Charakter, welche Natur und Geist im untrennbaren Zusammenwüchse zeigt; das ist eben das Gemüt. In ihm allein ist die sinnliche Natur mit der übersinnlichen Welt, sind Geist und Seele, Wissen und Gewissen, Wille und Vorstellung, Eigenart und Gottesgefühl, sind natürliche Akkommodation und sittliche Charakterenergie versöhnt.

Nur das Gemüt des Deutschen begreift die Poesie des Alten, die veredelnde, versöhnende und vergeistigende Kraft der Zeit, der Geschichte, welche allen Geschichten den Goldgrund und allen Helden den Heiligenschein malt.

Der Deutsche ist es, welcher in seinen Sitten die Vergangenheit mit der Gegenwart und das Alte mit dem Neuen zusammentraut; der Untergrund des religiösen Gefühls im deutschen Volke ist das Mysterium, wie die Ewigkeit auch in den sinnlichen Augenblicken bewegt, wie die elementare Natur zu einer Abbildlichkeit aller übernatürlichen Geschichten, zu einer Naturreligion erhöht und vertieft werden kann, mit der immer wieder der grübelnde Geist brechen muß, wenn es zur christlichen Religion kommen soll, welche den Menschengeist ebenso über die Natur erhöht hat wie den Schöpfer Himmels und der Erden über das Geschöpf.

Edgar Quinet Der französische Dichter und Literarhistoriker (1803-75 erklärt irgendwo, »er begreife den deutschen Charakter nicht: wir hätten Eigenschaften und Fakultäten, die einander aufheben. Nicht einmal die architektonischen Linien unseres Verstandes könne man verfolgen, ohne sich aus der Mathematik in die Mystik transportiert und von aller Konstruktion verlassen zu sehn.« Ich habe die Worte nicht mehr präzis behalten, wohl aber den Sinn. Man hört aus solchem Räsonnement über die deutsche Natur den mathematischen, spirituellen und doch profanen, seelenlosen Franzosenverstand heraus, der mit natürlichem Instinkt zu politisieren, zu handeln, zu konversieren versteht, aber schematisch und hölzern wird, sobald er dichtet oder philosophiert. Frau von Staël Germaine von Staël-Holstein (1766-1817), die berühmte Verfasserin des Werkes » De l'Allemagne« (1813, 3 Bde.). sagt zutreffend: »Der Deutsche bedarf ebensosehr der Methode im Handeln als der Unabhängigkeit im Denken; der Franzose hingegen betrachtet die Handlungen mit der Freiheit der Kunst, die Ideen aber mit der Knechtschaft der Gewohnheit.« Er ist also ein Mechaniker, ein Pedant in der Poesie und Philosophie. Die französische Sprache gibt das nächste und schlagendste Zeugnis davon. Der französische Stil wird, wie bereits Börne bemerkt hat, so vollkommen von der Sprache selbst vollzogen, daß den gewöhnlichen Stilisten nur eine passive Rolle übrigbleibt. Der französische Stil bleibt ein Sprachschematisnms, den selbst der geistreichste Autor nichts in eine natürliche Evolution des Geistes oder der Seele zu verwandeln vermag.

Nur im Deutschen verschmilzt die Seele mit allen Phasen des Geistes, nur die deutsche Sprache ist der griechischen gleich, die Fortsetzung der Naturprozesse und zugleich der exakteste Ausdruck des Geistes. Nur der deutsche Verstand manifestiert sich als ein vollbeseelter, poetischer und divinatorischer Verstand.

An uns deutschen Menschen ist aufs deutlichste zu erkennen, daß die Seele vielerlei Entwicklungsstadien aufzeigt, die als gleichzeitige ihre konkrete Natur ausmachen, daß die Verhältnisse zwischen Seele und Leib, zwischen Seele und Geist, Seele und Natur, Seele und Übernatur gleichsam ebensoviel verschiedene Seelen in demselben Menschen bilden. Diese Mysterien treten an unfern Lebensarten und Lebenswerken so deutlich heraus, daß sie sogar der französische Profanverstand und sein mathematischer Realismus abtasten, wenn auch nicht begreifen kann. Zum deutschen Glaubensbekenntnis, zu den innern Erfahrungen, welche der Deutsche macht, falls er seine Rasse repräsentiert, gehören die nachstehenden Tatsachen, Welche die modern-populäre Naturforschern zu verneinen bemüht ist:

Die Seele ist nicht nur »die Funktion der Gehirnsubstanz«, nicht nur das Destillat der Materie, sie ist nicht nur den körperlichen Atomen als physische Lebenskraft angetraut, sondern sie entbindet sich als eine überschüssige, transzendente Kraft und konstituiert sich als eine selbständige Macht, als Realität, als ein absolutes Prinzip.

Vogt Der Naturforscher Karl Vogt (1817–95). meint die Seele auf den Begriff von Materie reduzieren zu müssen, weil sich doch die Seele nicht des Körpers als eines Instruments bedienen könne. Abstrahiert davon, daß ohne Polarität und ohne allen Dualismus von Materie und Geist kein Lebensprozeß denkbar ist, so hat Vogt nicht bedacht, daß der in allen Atomen beseelte Körper, daß das Ineinander von Materie und Geist, von Stoff und Gesetz den Verkehr von Seele und Körper so leicht und graziös macht, wie es die Tatsache des Lebens bezeugt.

Als solches steht die Seele mit dem Geiste wie mit der körperlichen Basis in einem dynamisch-mechanischen und zugleich in einem mystischen, d. h. in einem solchen Verhältnis, welches natürlich und übernatürlich, vermittelt und unmittelbar, peripherisch und punktuell, immanent und transzendental, fest und flüssig, also nicht mehr der förmlichen Verstandeskonstruktion zugänglich ist. Die Seele ist es, welche in der Summe jener Prozesse das Gemüt ausmacht. Dieses deutsche Gemüt ist kein Phantom der Psychologen und Poeten; auch kein bloßer Naturalismus und Grobianismus, für den es sogar sehr feine und gemütreiche Denker aus bloßem Ärger über den Mißbrauch deklariert haben, sondern das deutsche Gemüt manifestiert sich als die historische, mit dem Geiste in Ehe lebende Seele, als unsre ideale Konstitution. Es ist der absolute Charakter des Menschen, die vom Leben, vom Himmel und der Hölle durchgespielte Seele, ihr Ätherleib, die Summe der Herzensgewohnheiten, der Herzensenergieen und Aktionen. Dies Gemüt ist der Grundstock der Seele, auf den alle jüngsten Erfindungen und Gefühle bezogen werden, und mit dem sie zusammenwachsen wie die Jahresringe an einem Baum.

In diesem Gemüte, in diesen Geschichten der Seele und ihren ätherischen Verkörperungen, die sich für den symbolischen Verstand des Deutschen in seinen Künsten und Literaturen, in seinen Sitten, Gewohnheiten, Lebensordnungen und Humoren, im deutschen Volksmärchen, im deutschen Volkslieds, in den deutschen Münstern, in allem deutschen Tun und Lassen, in der deutschen Sprache und Geschichte abspiegeln, da liegt der Unterschied des deutschen und des französischen Geistes, welcher letztere ganz und gar die Erbnahme und Wiedergeburt des altrömischen Geistes, also ein mathematisch-mechanischer, ein profaner, politischer Erdenverstand ist, der zusamt seinen Repräsentanten an dem Mangel eines übernatürlichen, eines mit der Seele korrespondierenden und vernünftigen Geistes zugrunde gehen wird; denn dieser Mangel war es, der bei den Römern den idealen Sinn, die Humanität, den Glauben an Menschenwürde, an Menschenbestimmung und das Gewissen unmöglich machte, durch welches ein Volk in den Stand gesetzt wird, ein weltbeherrschendes, weil ein weltbegreifendes und welterziehendes zu sein, wie es das deutsche Volk ist und bleiben wird, solange es nicht geflissentlich seine Mission verkennen will. Ein solches Verkennen darf man aber vielen Deutschen in Nordamerika schuld geben, weil sie mit den Amerikanern, diesen Römern der neuen Welt, ein zweites römisches Zeitalter präparieren. Tatkraft, Nationalstolz, Freiheitssinn, Eroberungsgeist, Rechtsverstand, Staatsverstand, mechanischer Verstand Luxusverstand, Handels-, Geld- und Industrieverstand, aller mögliche Verstand, so viel Verstand, daß Seele und Idealsinn zugrunde gingen, das war der römische Fall, wie es der nordamerikanische ist. Schade, daß dieser Kasus von der Weltgeschichte so rasch bis zum Vokativus dekliniert wird; die Nordamerikaner könnten andernfalls die zukünftigen Beherrscher des Erdbodens sein. Die Kultur und die Geistesherrschaft, welche seit Erschaffung der Welt von Osten nach Westen gegangen ist, könnte sich von Kalifornien nach Europa und Asien zurückstauen, falls dem amerikanischen Materialismus mehr Geist und Seele inwohnten. Kommt es aber endlich einmal zu dieser Potenz, so rührt sie von den deutschen Kolonisten her. Höchstwahrscheinlich ist's also der deutsche Geist, die deutsche Potenz, welche den Amerikanern instinktmäßig so grundverhaßt sind; denn wie die nordamerikanischen Tugenden in der Geist- und Gemütlosigkeit wurzeln, in dem Mangel an aller Pathologie des Geistes, so die Schwächen des Deutschen im übertriebenen, luxuriös gebildeten Geist, in der Reflexion und permanenten Kritik und ebenso im Seelenleben, in der Mitleidenschaft, im verwöhnten Gemüt, in einer unmännlichen Gemütlichkeit.

Der Referent eines Buches von Kapp Der Geschichtschreiber und Politiker Friedrich Kapp (1824-84) lebte seit 1849 in Amerika, seit 1870 aber wieder in Deutschland und war von da an bis zu seinem Tode Mitglied des Reichstages. Sein »Leben des amerikanischen Generals Friedrich Wilhelm von Steuben« erschien 1858 in Berlin. (»Magazin des Auslands«) über das Leben des deutschen Generals von Steuben, aus der Schule Friedrichs des Großen, der im amerikanischen Freiheitskriege ein Kommando geführt, macht folgende Bemerkungen, die besonders von den Enthusiasten für nordamerikanische Charaktere und Freiheitshelden beherzigt werden mögen.

»Die amerikanische Geschichte des Befreiungskrieges, wie wir sie bisher kennen lernten, ist mehr darauf berechnet, die Augen der Welt zu blenden und das nüchterne Urteil des Aus- und Inlandes zu bestechen. Aus Kapps Buche wird es uns sonnenklar, daß wir gelehrt worden sind, eine viel zu hohe Meinung zu haben von der revolutionären Energie der Amerikaner, von ihrer Vaterlandsliebe, ihrer Begeisterung für die Menschenrechte, ihrer unerschütterlichen Ausdauer und kaltblütigen Tapferkeit, von den Talenten und dem Charakter selbst mancher ihrer revolutionären Größen. Es wird in den hiesigen Zeitungen oft geklagt, daß die modernen Amerikaner von der Tugend ihrer Vorfahren des letzten Jahrhunderts ausgeartet sind. Aus den bisher ungedruckten Quellen Kapps tritt uns dagegen ganz das Bild der modernen Amerikaner entgegen. Es kann fortan nicht mehr geleugnet werden, daß alles, was groß und bewunderungswert ist in der Geschichte der Gründung der Union, das Werk einiger wenigen, guten und erleuchteten Männer, oder aber das Werk der Umstände war. Die Masse des amerikanischen Volkes war viel weniger gebildet, viel weniger denkfrei und vorurteilslos, viel weniger heldenmütig und freiheitsliebend, viel weniger opferbereit und hingebend, als man uns hat glauben machen wollen; es bedurfte ganz unsäglicher Anstrengungen der wenigen Besseren, der Urheber der ganzen Bewegung, um zu verhüten, daß die einmal begonnene Erhebung im Sande der Verzweiflung und Gleichgültigkeit verlief; ein ganz klein wenig mehr Tätigkeit der englischen Generale hätte allen Widerstand brechen können.«

Von radikalen deutschen Gelehrten gibt es entgegenstehende Räsonnements. Herr Julius Fröbel Der Schriftsteller und Politiker Julius Fröbel (1805–93), ein Neffe Friedrich Fröbels, lebte 1849–57 in Amerika, später als deutscher Konsul in Smyrna und Algier. z. B., der aus Verzweiflung über die kritische Natur und das kritische Leben der Deutschen, vornehmlich aber über die unbewährte Volkssouveränität von 1848 nach Amerika ging, um in New Jork ganz geschwinde und ex abrupto ein Lichtziehergeschäft zu etablieren, resümiert uns in seinem neuesten Buche – »Aus Amerika: Erfahrungen, Reisen, Studien, 1857« – folgendes: »Das Charakteristische der nordamerikanischen Demokratie besteht darin, daß sie die Idee der Gleichheit nicht, wie es in der Alten Welt leider so oft geschehen ist, durch ein Herabziehen alles durch Bildung und Besitz Hervorragenden auf das Niveau der großen Masse, sondern durch die Freiheit und das Bestreben jedes Einzelnen, sich zum Höheren und Besseren emporzuarbeiten, zu verwirklichen sucht, daß sie deshalb aus demokratischen Gründen jedem applaudiert, dem es gelingt, sich über andere zu erheben, wie sie umgekehrt das Interesse verliert für jeden, der bei dem allgemeinen Wettrennen zurückbleibt.« In diesem Wettrennen besteht also das Ideal der nordamerikanischen Gemütlichkeit.

Ein Wort von der Gemütlichkeit.

Gemütlichkeit ist im besten Falle die Disposition für eine leichte Verquickung und Verschmelzung mit wahlverwandten Gemütern, die universelle Wahlverwandtschaft zu solchen Charakteren, welchen die Elemente der Humanität inwohnen. Gemütlich ist ein Mensch, welcher die Poesie und Behaglichkeit einer Situation rasch begreift und mit richtigem Takt alles fördert, was diesem geistigen Komfort entspricht, das Störende aber ohne Eklat zu entfernen versteht. Gemütlich ist ein Mensch, der in Mitleidenschaft lebt, alle Dinge wie Geschichten auf das Gemüt bezieht und mit Leichtigkeit den Gemütszustand des Nebenmenschen errät, ihn schont und mit aller Welt in Harmonie zu kommen sucht. Die Kleinstädtergemütlichkeit pflegt in einem Naturalismus zu bestehen, der den Geist absorbiert hat, oder in einem Geiste, der so andauernd in die elementare Seele untertaucht, daß er zuletzt gar nicht mehr den Kopf über Wasser behält. Wenn sich die deutschen Jünglinge von sonst dieser Naturgeschichte überließen, so pflegten sie sich gemütlich mit dem linken Vorderfuß über den rechten großen Zeh zu treten, den Brustkasten einzuziehen und den Vokabelnkasten über den gefühlvollen Busen zu neigen. Desselbigengleichen lag es in ihrer Art, mit weich gewordenen krummen Knieen einherzugehn, welchen auch eine naturell-gemütliche Ellbogenhaltung entsprach. Blonde lange Haare, die wie Nachtlichte über den Rockkragen hingen, vollendeten das Bild.

Mit Rücksicht auf die Forderungen der gegebenen Gesellschaftsverhältnisse muß man es freilich für ein schlimmes Symptom halten, wenn junge Leute sich besonders gemütlich oder humoristisch erweisen, denn man darf sich in diesem Falle versichert halten, daß ihnen die sittliche Straffheit und der Ernst des Charakters gebricht. Besonders gemütliche, liebenswürdige, romantisch geartete oder zu Späßen und Schnurren aufgelegte Männer bringen es weder zu Geld noch hohen Ehren in dieser Welt. Wer sich zu viel Spielraum nimmt, verliert den Strich und Kurs.

Der Jüngling, vornehmlich aber der junge Mann, sollen ein bestimmtes Ziel fest und einseitig ins Auge fassen und es mit dramatischer Kraft verfolgen, und wenn sie das tun, so fallen Humore, Allotria, Sentimentalitäten oder lyrische und romantische Stimmungen von selber fort. Dies alles ist wahr, aber nur die eine Seite des Prozesses, denn der Mensch ist nicht nur ein sittliches, sondern mit gleichem Rechte ein natürliches Geschöpf. Als solches soll er sich auch passiv, rezeptiv verhalten, und aus dieser Rezeptivität folgt dann Seelenleben, Stimmung, Gemütlichkeit, Romantik, Humor und Sentimentalität von selbst. Wenn der junge Mann nichts Lyrisches und Romantisches an sich kommen läßt, so wird er allerdings um so dramatischer sein und um so effektiver und praktischer operieren können, aber ein Dichter und beseelter Denker, ein liebenswürdiger deutscher Mensch kann aus einem solchen Charakter nicht hervorgehn. Dazu kommt aber noch, daß die prosaischen Leute nicht nur so untätig und nichtsnutzig als die poetischen sein können, sondern sie sind noch unliebenswürdig, egoistisch und unerträglich langweilig obenein.

Gemütlichkeit ist die kleine Ausgabe, die Münze des Gemüts. Ein echter Deutscher vermünzt aber nie so viel, daß ihm zuletzt die Barren des Gemüts ausgehn. Zur Illustration sei der nachfolgende Scherz vergönnt.

Es kommen in der Schulwelt kostbare Anekdoten vor, man hört nur selten von ihnen, denn der sublimste Humor gewisser Persönlichkeiten und Szenen entzieht sich jeder Formulierung und Stilisation.

Ein unfleißiger, träumerischer, etwas schmuddliger, aber sehr gemütlicher, bei seinen Mitschülern wie bei den Dienstboten beliebter Junge wird bei Gelegenheit einer schlechten Schulzensur zur Rede gestellt; er soll sagen, was aus ihm werden wird, und antwortet treuherzig kleinlaut: nichts. Weiter examiniert, was er sich dabei denke, sagt Inquisit mit einer unbeschreiblichen Innigkeit und Unschuld: »Ach Gott, ich denke mir nichts, ich fühle ›mir‹ so glücklich.« Sein Papa, der den Inquirenten macht, ein echt deutscher Humorist, sagt darauf mit angenommener Strenge: »Dummerjahn, es heißt, ich fühle ›mich‹ glücklich«; darauf meint der glückliche Sohn Diszipulus, indem er dem Vater mit Zärtlichkeit die Hand streichelt: »Ach, das ist ja gleich«; dann schließt das kuriose Examen mit folgender erbaulichen Betrachtung des Vaters: »Na, da haben wir's, das Rindvieh ist glücklich; ich wollt' ihn ausprügeln: was kann ich ihm nun tun? Wie soll einer Lust kriegen, Vokabeln zu lernen, wenn er ohne Vokabeln glücklich ist? – Ich war als Junge akkurat so ein glücklicher Esel wie du. Ich hab' aber von meinem Vater Prügel für meine schönen Gefühle profitiert, und die sollst du auch haben, wenn du nicht Anstalten machst, unglücklich zu sein. Du hast doch schöne Gefühle?« – »Ach ja, lieber Vater«; und dabei fällt der faule Junge dem Alten um den Hals, und dieser sagt für dasmal mit nassen Augen: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.«

Die kleine Geschichte ist unverdorben deutsch.


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