Glauser, Friedrich
Gourrama
Glauser, Friedrich

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15. Kapitel

Der Frühling

Die Eisentische auf dem Trottoir trugen weiße Tischtücher. Aber die Marquise, die gegen die Sonne ausgespannt war, warf ein gelbes Licht darauf, das angenehm hell und beruhigend wirkte. Der Kellner hatte in den Kolonien Dienst getan und bediente Lös mit kameradschaftlicher Freundlichkeit; der Anzug, den Lös trug, schien ihn nicht zu stören. Es war ein sogenannter ›Habit Clemenceau‹ und in ganz Frankreich als die Uniform der aus dem Dienste Entlassenen bekannt: der Rock war eine Art Litewka, aus grauem Stoff und wie Röhren umgaben die Hosen die Beine. Lös betrachtete seine Schuhe; es waren dieselben, die er noch in Gourrama getragen hatte, an den Spitzen hielt das Leder nicht mehr fest, an der Sohle und bei Regenwetter bekam man nasse Füße. Das war alles, was man ihm für drei Jahre Dienstzeit gegeben hatte, mit einem Paar zerrissenen Unterhosen und einem ebenfalls zerrissenen Hemd. Langweilig war nur, daß die Füße nicht heilen wollten: er hatte sie sich auf den letzten Märschen wundgelaufen.

Wie hellblau der Himmel war zwischen den Fransen der Marquise! Ganz nahe dehnte sich die Seine in ihrem Bett (›sie hat es gut, wenigstens hat sie ein Bett‹). Aber der Kaffee, den der Kellner soeben brachte, verscheuchte die aufsteigende Traurigkeit und die Angst vor der Zukunft. Braungebackene, warme Brötchen standen auf dem Tisch.

Es war noch früh am Tage. – Das Gras in den Anlagen am Fluß hatte wahrhaftig Tautropfen. Lös dehnte sich, der Kellner meinte, der frühe Gast habe ihm gewinkt und kam gemütlich näher; ob der Kamerad etwas brauche? –»Nein.« – Das sei wohl nicht ganz leicht, sich jetzt wieder hineinzufinden in das neue Leben, nach den vielen Jahren Bled, meinte er. Wo denn Lös gewesen sei, zuletzt? In Gourrama? Kenne er nicht. Er sei mehr in Tunis gewesen. Auch dort sei es nicht gerade angenehm. Diese Hitze! Und wie das eigentlich sei in der Legion? Wirklich so schlecht, wie man überall höre?

Lös mußte nachdenken… Schlecht? Nein, schlecht eigentlich nicht, bloß ungeheuer langweilig. Und eigentlich auch nicht langweilig. Überhaupt sei das schwer zu formulieren; die Legion sei eben die Legion. Eine bedrückende Atmosphäre, ein seelisches Fieberklima, wenn der Kamerad den Ausdruck verstehe. Und das mache das Leben dort so schwer, weil man immer wieder in Versuchung komme, aus reiner Langeweile Dummheiten zu machen.

Ja, das kenne er gut, meinte der Kellner und kratzte sich die glatte Wange. Auch in Tunis seien immer alle unzufrieden gewesen, wegen des Essens, wegen der Korporäle, die frech gewesen seien.

»Denk dir«, sagte Lös, (das Duzen verstand sich von selbst) »da haben wir letzten Herbst eine Revolte gehabt. Ich lag im Krankenzimmer; weißt du: ein Messerstich; die Wunde hat sehr geblutet. Die Kompagnie, es war eine Compagnie montée, du weißt doch was das ist?« Der Kellner nickte. »Ja, und da wurde die Kompagnie von einem Dschisch angefallen, kam ein wenig überreizt in den Posten zurück, der Capitaine (übrigens war er ein lieber Kerl, dieser Capitaine) gab den Leuten ein paar Ruhetage, und aus lauter Langeweile fingen einige an zu revoltieren. Nicht böswillig, nein, nur ein schwarzer Korporal mußte dran glauben. Dann kamen die Gums über den Posten und räumten auf… Der Capitaine wurde abgesetzt, ein Neuer kam, aus Frankreich, und der brachte den Leuten Anstand bei. In zwei Monaten zwölf Klagen fürs Kriegsgericht! Gehorsamsverweigerung allesamt. Aber dann ging es plötzlich wieder. Geschlaucht hat er uns, der Neue, ich war froh, daß ich für die Reform vorgemerkt war. So konnte er mir nicht mehr viel tun. Ich meldete mich einfach immer krank, und da der Major mich gern hatte, war ich immer dienstfrei. Aber zum Schluß mußte ich doch noch ausrücken zum Straßenbau, das war… wart einmal… vor zwei Monaten. Und plötzlich an einem Sonntag, ich weiß das noch genau, ruft mich der Chef. Ich lag im Zelt und schlief halb. Darum antwortete ich nur ›Merde‹, wie es sich gebührt. Da lachte der Chef, übrigens war er lustig, was der für Sachen aufgeführt hat, du machst dir keinen Begriff. Wie der neue Capitaine gekommen ist, sollte der Chef natürlich auch ausrücken… Weißt du, was er gemacht hat? Am Tag des Abmarsches läßt er sich von seinem Zimmer auf einem Schiebkarren in die Messe fahren, mit dickverbundenem Bein: Er habe Gicht, könne unmöglich reiten. Was sollte der Capitaine tun? Damals war's Winter… und kalt sag ich dir! Wir haben manchmal das Eis aufbrechen müssen, um die Maulesel zu tränken. Ja, also der Chef ruft mich. Ruft mich noch einmal, ich soll doch kommen. Eine gute Nachricht. Ich krieche aus meinem Zelt heraus, und weißt du, was der Chef mir sagt?« Die ganze Freude dieses Augenblicks zitterte in Lös' Stimme, auch der Kellner hatte sich vorgebeugt und lauschte interessiert. »Ja, der Chef sagte also, ich käme am nächsten Tag nach Oran. Mit den Camions bis Colomb-Béchar und von da mit dem Zug. ›Und schau, daß du nicht mehr zurückkommst‹, sagte der Chef. In Oran ging's dann gut. Der Experte war ein Zivilist, kein Militärarzt, untersuchte mein Herz, fand es bedenklich. Dann mußte ich noch vor einer Kommission dicker Leute erscheinen, Colonels, was weiß ich. Die haben mich nur angeschaut. Und dann hieß es: Reform No. 1 ohne Pension. Und jetzt steh ich da.«

Der Kaffee war kalt geworden, aber das schadete nichts, er war auch so noch viel besser als in der Legion. War die Tasse daran schuld? Lös griff an seine Brust. Ja, die alte Brieftasche war immer noch da. Sie enthielt noch die aus der Verpflegung geretteten zweihundert Franken; fünfzig waren mit der Zeit draufgegangen und zwanzig hat der Chef behalten. »Das bist du mir schon schuldig«, hatte er damals gemeint, »denn ohne mich hätte dich der Alte sicher nach Fez geschickt.« Das stimmte nicht ganz. Denn der Capitaine war die letzten Tage vor seiner Abreise rührend gewesen. Er hatte Lös nach Rich geschickt, ins Lazarett, er solle sich dort ausruhen, und dann sei es besser, Lös sei nicht da, wenn der Neue komme… Diesen Neuen haßte Capitaine Chabert, das merkte man, und später wurden die sonderbarsten Geschichten erzählt von der Übergabe der Kompagnie. Der Neue mußte alles alleine ansehen, Chabert blieb in seinem Turmgemach, erschien nicht einmal zum Essen. Samotadji mußte es ihm bringen.

Lös stand auf. Der freundliche Kellner wollte sich nicht bezahlen lassen. »Wir sind doch Kameraden, nom de dieu, ich kann dir schon einen Kaffee zahlen«, meinte er. »Du hast sicher nicht viel. Und wenn du einmal nicht weißt was anfangen, so komm nur wieder hierher, am besten am Morgen, ich werd' dir schon helfen. Frag nach Jean.«

Ein Menschenstrom begann die Straßen zu überschwemmen. Mädchen in hellen Kleidern liefen vorbei, Lös sah sie an, es war so sonderbar, wieder saubere Frauen zu sehen. Ein bißchen blaß waren sie, aber sie lachten doch, ein ganz anderes Lachen als Zeno. Wie schnell die Vergangenheit die Dinge unwahr machte. Zeno! Er hörte plötzlich ihr Lachen und drehte sich um. Ein Mädchen war es, das wohl Lös' Schuhe sehr komisch fand. Mag sie doch, dachte er, und lächelte zurück. Das schien dem Mädchen zu gefallen, sie strich an ihm vorbei. »Auf dem Hund?« fragte sie mit rauher Stimme, die an die Stimme Zenos erinnerte. Lös nickte ernsthaft. »Armer Kerl«, sagte die Kleine und lief weiter.

Ja Zeno! Er hatte Zeno verkauft, für eine Flasche Anisette und wem? Pierrard. Er hatte ihr die Sache erklärt. »Ich kann nichts mehr für dich tun. Jetzt geh ich ins Lazarett nach Rich, und wenn ich wiederkomme, muß ich Dienst machen in der Kompagnie. Aber mein Nachfolger ist auch ein guter Kerl, er wird für dich sorgen.« Zeno war traurig gewesen zuerst; aber dann hatte sie gelacht (wie das Mädchen vorhin), dies Lachen war Pierrard teuer zu stehen gekommen. Denn Zeno hatte ihn gequält, ihn gezwungen, ihr Kleider zu kaufen und Schuhe und Strümpfe, auch der Spaniol hatte bei diesem Geschäft gut verdient. Er war es, der die Kleider (europäische Kleider!) von Fez hatte kommen lassen. Lös hatte Zeno gesehen in ihrer neuen Tracht, als er von Rich zurückgekommen war. Ein langer Rock, der ihr bis über die Knöchel fiel, eine Bluse mit Spitzen und Rüschen. Zeno sah wirklich sehr komisch aus. Aber mit Pierrard war es nicht lange gegangen. Der Chef paßte auf. Eines Abends wurde Pierrard in die Zelle geführt. Das war für ihn das Ende. Pierrard war tapferer als Lös, er führte kein Theater auf; auch waren die Zeiten anders, der neue Capitaine machte nicht viel Federlesens. Nach kaum vierzehn Tagen kam Pierrard mit einem Transport von vier Mann nach Fez vor Kriegsgericht – fünf Jahre Travaux Publics.

Lös zog tief die Luft ein; trotz des Staubes, der sie durchsetzte, schmeckte sie kühl, wie im Kern erfrischt vom Frühling; er steckte die Fäuste tiefer in die Hosentaschen und ließ sich gerne von der eiligen Menge weiterschieben, die sich um ihn drängte und an ihm vorbeihastete. Er setzte sich auf eine Bank und starrte auf das Wasser des Flusses, das wie ein Spiegel blendete – und schloß die Augen.

Das Wohlgefühl, in der warmen (nicht heißen) Sonne zu sitzen, verschwand allmählich. Zuerst tauchte das Lazarett in Rich auf, wie er es zuerst gesehen hatte, von einem Weinfaß, auf dem er saß. Ein Camion hatte ihn mit seinem geschwollenen Arm nach Rich mitgenommen. Es war schwierig gewesen, sich auf diesem wackligen Faß zu halten, denn er hatte ja nur einen Arm frei. Lange Morgen hatte er dann auf der Terrasse des Lazaretts gesessen, in der Sonne, und hatte seinen Arm bescheinen lassen, der nach und nach heilte. Aber etwas anderes war noch in Rich geschehen, und seine Gedanken wichen immer aus, sobald sie an die Grenze dieses Erlebnisses gelangten. Auch jetzt riß er wieder angstvoll die Augen auf. Immer noch warf der flüssige Spiegel des Flusses ein scharfes Blinken in seine Augen; als Lös die Lider wieder senkte, sah er einen andern, einen kleinen Spiegel. Todd hielt ihn, betrachtete darin seine kümmerlichen Barthärchen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß mich rasieren. Schilasky hat gesagt, ich soll mich rasieren!« Das war zwei Tage vor seinem Tod gewesen.

Lös seufzte auf, wie unter einem Alpdruck. Ja, damals hatte er viel zu tragen gehabt. Erst Türk, den die anderen gequält hatten; und dann war auch Todd gestorben. Wundbrand, Gangräne hatte Bergeret gesagt und die Achseln gezuckt. Todd hatte arge Schmerzen und Lös hatte die Nächte bei ihm gewacht. Es war nicht viel gesprochen worden. Nur: »Liegst du gut?« »Ja, danke.« »Brauchst du nichts?« »Nein danke.« Sie waren beide ein wenig hergenommen. Nur einmal hatte Todd gesagt: »Siehst du jetzt, mein Name hat mir doch Unglück gebracht.« »Ach was!« hatte Lös geantwortet, »du wirst doch wieder gesund und gehst auf Reform mit voller Pension. Mit dem Geld kannst du in Wien herrlich und in Freuden leben.« Damals hatte sich Lös sehr über sich selbst geärgert. Es kam ihm vor, als hätte er nur Gemeinplätze zur Verfügung, sein Verstand wollte einfach keine anderen Sätze hergeben als solche, die Generationen schon in gleichen Augenblicken gebraucht hatten. Tröstende Worte, die doch gar keinen Trost enthielten; Todd war übrigens nie sentimental geworden. Ein einziges Mal hatte er Tränen in den Augen gehabt, damals, als er seine Wangen geschabt hatte… »Ich denke, jetzt werde ich Schilasky doch gefallen«, murmelte er.

Lös sprang auf. Seine Hände auf dem Grunde der Taschen waren unangenehm feucht, und auch auf seiner Stirne glänzten kleine Schweißtropfen. Nein, er wollte nicht mehr an all diese Dinge denken, die waren vorbei, jetzt galt es sich durchzuschlagen, und daran wollte er denken, aber nicht an sterbende Freunde. Doch eine unsichtbare und sanfte Hand schien ihn auf die Bank zurückzudrängen, eine leichte Hand: wie oft war Todds Hand auf seinem Ärmel gelegen, und so war er auch plötzlich gestorben… »Hier«, sagte Lös laut, und strich über den groben Stoff.

›Wir haben uns doch kaum gekannt‹, dachte er. ›Einmal nur wirklich zusammen gesprochen. Warum hab ich ihn so gern gehabt? Weil er aus Wien war? Nein! – Wir haben uns einfach gern gehabt; ja, aber Schilasky hatte ihn auch gern, und doch war ich Todd näher, als der andere. Nicht einmal eifersüchtig war ich auf diesen Schilasky… ‹

»So, so, wird hier gepennt«, sagte eine rauhe Stimme über Lös' Kopf. Vor der Bank stand ein breitschultriger Polizist, lächelte unter einem schöngeschwungenen Schnurrbart und nickte aufmunternd. »So. Kommt man aus den Kolonien; man sieht das an der Hautfarbe und an den Kleidern. Na, bleib nur sitzen. Ich will dich nicht stören. Wenn ich nicht Dienst hätte, gingen wir zusammen ein Glas trinken. Aber so… du verstehst?«

Lös verstand vollkommen. Der Polizist grüßte, wahrhaftig mit der gleichen Bewegung, die auch der Chef bevorzugte. Ein Greifen nach dem Mützenschild mit gebogenen Fingern, dabei eine leichte Neigung des Oberkörpers, die überaus herzlich wirkte.

»Die sind freundlich hier«, murmelte Lös, froh über die Ablenkung. Er stand auf und ging weiter. Die Straßen waren leerer geworden. Lös blieb vor Auslagen stehen. – Ich muß mir zu allererst einen Anzug kaufen und Schuhe, dachte er. Dann erinnerte er sich an Stefan, an den Abschied von ihm. »Wenn du nach Paris kommst«, hatte Stefan gesagt, »So mußt du zu den ›Dames de France‹ gehen. Die schenken dir einen neuen Anzug und Wäsche und alles was du brauchst…«

Das hat Zeit bis am Nachmittag, dachte Lös, als er vor einer Buchhandlung stand. Was gab es für neue Bücher? Ein Titel, in roten Buchstaben auf schneeweißem Grunde leuchtete ihm entgegen. ›Le temps retrouvé‹ – ›Die wiedergefundene Zeit‹. Es war – ja, es war die Fortsetzung der ›Suche nach der verlorenen Zeit‹.

Und Lös sah eine Baracke – auf den leeren Weinfässern ist die Bühne aufgeschlagen worden… Ein halbes Dutzend Bretter auf fünf Weinfässern…

»Et puis si par hasard
Tu voyais ma tante…«

Schallendes Gelächter. In einem Klubsessel lehnt eine Gestalt, der schwere Körper steckt in einer schneeweißen Uniform. Der Weißgekleidete sagt: »Übrigens, große bittere Neuigkeit: Proust ist gestorben…«

Lartigue! Leutnant Lartigue! Er war vor Lös abgereist – ganz plötzlich, und der neue Capitaine hatte sich schwer geärgert. Und was hatte er zum Abschied gesagt? »Hoffentlich treffen wir uns in Paris, Lös. Hier haben Sie meine Adresse…«

Lös riß seine Brieftasche heraus, zog einige schmierige Blätter aus einem Fach, suchte, suchte… Da: »Lartigue, 10, Rue Wilhem in Auteuil…«

Auteuil! Das war das elegante Viertel. Beim Bois de Boulogne. Aber zuerst mußte er sich einen Anzug kaufen, Schuhe… Zweihundert Franken würden nie für einen Anzug langen, aber vielleicht würde ihm Lartigue helfen?

Eigentlich war es doch schön gewesen in der Legion, dachte er. Gespräche fielen ihm ein – mit Sitnikoff, mit Pierrard, mit Smith, mit Koribout, dem Dichter, – aber vor allem mit Lartigue. Lartigue, der nie den Offizier hervorkehrte, Lartigue der Kamerad, ja, man durfte ruhig das Wort wagen: der Freund! Es war doch ganz gleichgültig, in was für einem Anzug man Lartigue besuchen ging…

Auteuil…! Lös war in die Buchhandlung getreten und hatte den Proust gekauft. Dann stand er vor einem Plan von Paris und studierte die Linien der Untergrundbahn.

Die Rue Wilhem war nicht schwer zu finden.

Geruch nach Staub, nach Lysol, nach erhitzten Schienen. Lös saß in einer Ecke des dröhnenden Wagens und las: »Der Wunsch, der Hunger uns wiederzusehen werden endlich wiedergeboren im Herzen, das augenblicklich uns mißversteht. Nur braucht es Zeit. Und unser Verlangen – was die Zeit betrifft – ist nicht weniger ungeheuerlich als unser Verlangen, das Herz sich ändern zu sehen…«

Ein ungeheuerliches Verlangen…

Treppen, die Luft wird dünner, leichter. Wie still die Straßen sind in Auteuil! – Rue Wilhem 4 - 6 - 10…

Die ›Concierge‹, die das verschlossene Haustor öffnete, sah aus wie eine gepflegte Dame.

»Monsieur Lartigue?« Die gepflegte alte Dame rümpfte die Nase. Leise meinte sie dann, sie wisse nicht, ob Herr Lartigue zu sprechen sei. »Ein alter Freund will ihn besuchen…« Die alte Dame ließ sich erweichen. »Vierter Stock«, lispelte sie.

Das Haus war neu, der Lift stieg, stieg – nein er blieb nicht stecken.

Auch das Dienstmädchen, das öffnete, musterte mißtrauisch Lös' Anzug. »Ich hätte doch zuerst…« dachte er, »wenigstens neue Schuhe kaufen sollen!«

Ein Salon vollgestopft mit Möbeln. Plüschvorhänge, schlechte, sehr schlechte Ölgemälde. Zahnpasta-Frauenköpfe, Landschaften, Landschaften, Landschaften. Auf dem Klavier Noten: Massenet…

Dann trat ein Herr in den Raum. Wer war das? Steifer Kragen, grasgrüne Krawatte, violetter Anzug. Aus dem Ärmel zog der Herr ein seidenes Taschentuch – (Lös schnupperte, was war das für ein Parfüm? Chypre? Richtig! Chypre!) wedelte mit dem Tuch, tupfte sich die Stirn, reichte zwei Finger. Dann, in einem Zug:

»Es tut mir schrecklich leid, lieber Freund, aber ich habe keine Minute Zeit. Wichtige Unterredung, man erwartet mich im Nebenzimmer. – Habe mich nur einen Augenblick frei machen können. – Aber vielleicht ein andermal? Warten Sie. – Heut abend verreise ich für zwei Monate, aber bei meiner Rückkehr, wenn Sie mich anläuten wollen, lieber Freund. – Vielleicht erlauben Sie mir, es geht Ihnen wahrscheinlich nicht gut. – Haben doch schöne Stunden – wenn ich mir gestatten darf – miteinander verlebt. – Einstweilen nehmen Sie wohl dies. – Und selbstverständlich, wenn Sie eine Empfehlung brauchen, stehe ich zu Diensten.«

Die Salontüre war offen geblieben, sanft aber bestimmt wurde Lös zu dieser Öffnung hin gedrängt, er stand im Korridor. »Vor allem, lieber Freund, sollten Sie sich auskurieren, nicht wahr? Ich würde Ihnen anraten, sich in ein Spital zu begeben, ausgezeichnete Spitäler in Paris. – Und nicht wahr, Sie vergessen mich nicht. – Hier, Sie werden mir erlauben. – Sie lesen Proust, wie schön! – Immer in den Wolken, lieber Freund, müssen auf die Erde steigen. – jaja, nein, nicht adieu, auf Wiedersehen, lieber Freund, auf Wiedersehen…«

Die Gangtür fiel zu. Langsam stieg Lös die Stufen hinab. Er öffnete die Hand. Eine Banknote. Fünfzig Franken…

Vor ihm breitete sich eine Straße aus, in ihrer Mitte wuchsen hohe Bäume, die zartgrüne Blätter trugen und leere Bänke beschützten. Lös setzte sich. Erst jetzt merkte er, daß er den linken Zeigefinger immer noch zwischen die Seiten seines Buches geklemmt hatte. Er schlug es auf:

»Und unser Verlangen, die Zeit sich ändern zu sehen, ist wohl nicht weniger ungeheuerlich als unser Verlangen, das Herz sich ändern zu sehen…« Dies war der Sinn. Und vorher hatte er es falsch verstanden.

Also: Die Zeit ändert sich nicht, die Herzen ändern sich nicht. Was ändert sich? Die Umgebung. Gourrama, ein kleiner Posten, nur schwer auf einer Landkarte zu finden, Menschen darin – ein Mensch vor allem, ein Freund, ein Kamerad…

Lös schlief ein. Kein Polizist störte ihn. Es war später Nachmittag, als er erwachte.


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