Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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5. Kapitel

Der Ausmarsch

Die Tage zogen über den kleinen Posten hin, und nichts unterbrach ihre Gleichförmigkeit. Es pfiff am Morgen zum Reveil, schon eilten die dazu Bestimmten zur Küche, den Kaffee zu holen, brachten ihn zurück, während hinter ihnen, wie Fahnen, der Geruch des Getränkes wehte. Ein neuer Pfiff: ohne Sattel wurden die Maulesel zum Fluß geritten, zur Tränke. Der Sergeant vom Wochendienst lief herum: Krankenappell. Dabei war der Capitaine zugegen, denn der Arzt kam nur alle drei Wochen. Der Capitaine war gutmütig. Er verordnete wenig Medizin, weil er nur Aspirin und Jodtinktur kannte. Auch Chinin. Aber freigebig war er mit Ruhe. Zwei Tage dienstfrei, drei Tage dienstfrei. War es dann noch nicht besser, so wurde die Temperatur gemessen. Dann gab es Chinin und weiter Ruhe. Nützte alles nichts, so kam man nach Rich ins Lazarett. Die Camions, die von Zeit zu Zeit den Posten besuchten, nahmen die Kranken mit. War jemand nicht transportfähig, so wurde der Major Bergeret telephonisch angerufen. Er kam dann am Nachmittag, hoch zu Roß, ein sanfter, schwarzbärtiger Mann, untersuchte, tröstete, ließ Tee kochen, jagte den Krankenwärter aus seiner Faulheit auf, trank mit den Offizieren eine Flasche Wein und ritt am Abend wieder fort.

Um neun Uhr war Rapport. Die Kompagnie trat an, bildete ein Karree. Der Capitaine spazierte das Viereck ab, tätschelte eine Wange, kniff dort einen Arm. Führte das Stöckchen zum Mützenschild: abtreten.

Die Mitrailleusensektion ging schießen. Leutnant Lartigue ließ irgendwo in der Ebene Scheiben aufstellen. Das Maschinengewehr wurde auseinandergenommen, zusammengesetzt, zuerst mit offenen Augen, dann mit verbundenen, der Leutnant ließ die Theorie wiederholen: »La mitrailleuse Hotchkiss est une arme automatique fonctionnant par l'échappement des gaz.« Der Leutnant nickte dazu, die Leute plapperten wie gutdressierte Papageien. Aber sie kannten den ›piston moteur‹ und den ›ressort de détente‹, denn sie hatten ja schon zwei Jahre Dienst.

Dann schoß man eine Bande ab gegen die Scheiben in der Tiefe, der Leutnant kontrollierte die Einschläge mit dem Feldstecher: die Staubwolken der einschlagenden Kugeln waren übrigens auch mit freiem Auge leicht zu erkennen. Auf einem Hügel weiter links ließ der Adjutant auf die gleichen Scheiben schießen. Das Geknatter der verschiedenen Waffen klang recht kläglich unter dem hohen heißen Himmel.

Langsam füllte sich der Posten wieder um die Mittagszeit. Ein erneutes Pfeifen: langsam trabten die Männer zur Küche, um dort Kartoffeln zu schälen. War dies erledigt, so schlurften sie in die Baracken zurück, um Schatten zu suchen. Es pfiff zum Essen. Wenig Abwechslung gab es; Schafragout oder Büchsenfleisch, dazu Reis oder Bohnen oder Linsen. Aber das Wochenmenu, das nach Fez geschickt wurde, wies wunderbare Speisen auf: das ewige Ragout nannte sich Irish stew, Mouton sauté; Rôti de mouton, Côtelettes d'agneau. Und Oberst Jaquelin war zufrieden, wenn er dies las. Die Legion hatte gut zu essen.

Bis gegen halb vier schlief dann der Posten. Da war der Abend schon da; man reinigte ein wenig die Gewehre. Die Wache zog auf, es pfiff zum Tränken und Füttern, die Menschen aßen zu Nacht, die Russen sangen, die Türken strichen herum und suchten nach Opfern, um sie beim Spiel auszuplündern, es gab Geschrei, der Capitaine machte eine Runde, Leutnant Lartigue ging seine Freundin besuchen, Sergeant Farny suchte nach seiner Ordonnanz (sie wechselte oft, war aber stets jung und hatte eine weiche glatte Haut).

Diese Ordonnanz des Sergeanten Farny bildete eigentlich, mehr noch als des Leutnants Freundin, Lös' Reichtum oder Korporal Ackermanns Verwundung, den Hauptteil, oder genauer ausgedrückt, das Feuilleton der gesprochenen Zeitung des Postens. Denn Farny, eine zähe, eher kleine Gestalt, war durch sein Schicksal, das fast mit dem der Kompagnie zusammenfiel, eine bedeutende Persönlichkeit. War er nicht einer der wenigen Überlebenden aus der großen Katastrophe, welche die Kompagnie vor nun bald drei Jahren heimgesucht hatte? Und obwohl dieser Sergeant Farny von der geistigen Aristokratie (Sitnikoff gehörte dazu, Lös und der Leutnant Lartigue) für herzlich unbedeutend und uninteressant gehalten wurde, gelang es ihm doch durch sein schlaues Verhalten, großen Einfluß auf einfache Gemüter auszuüben. Gerade weil seine Schlauheit keiner bewußten Überlegung entsprang, sondern rein instinktiv war, verhalf sie ihm zu jener Macht, die er gern mißbrauchte.

Sergeant Farny hatte den Befehl über die vierte Sektion, und alle seine Untergebenen fürchteten ihn, vorab Sergeant Wieland, ein ewig keuchender, fetter Münchener, der von allen ausgelacht wurde. Nur Korporal Ackermann ließ sich von Farny nicht einschüchtern. Die beiden haßten sich, und Farny hetzte unter seinen Leuten gegen den Korporal.

Die Art des Terrors, die Farny ausübte, war versteckt und hinterlistig. Es waren vor allem seine Augen, die Furcht einflößten. Die Iris war grau und schmal, mit vielen winzigen gelben Tupfen. Darum lag die Hornhaut, durchzogen von vielen roten Äderchen. Aber was diese Augen eigentlich so Entsetzen erregend machte, konnte niemand recht sagen. Sie waren wohl leer, ganz und gar ausdruckslos, und auch wenn man fühlte, daß der Sergeant innerlich vor Wut geschüttelt wurde, die Augen blieben sich gleich. Das Gesicht war bei dieser Gelegenheit verzerrt, der Mund belferte, die Wangen zuckten. Aber während die Wut sich bis zu heiseren Schreien steigerte, blieben die Augen weit offen, die Lider schienen festgewachsen und senkten sich auch nicht ein einziges Mal über die Augäpfel, deren Beschaffenheit am ehesten an trübe Gelatine erinnerte.

Es war etwa drei Tage nach der Verwundung Ackermanns, als ein derartiger Wutanfall Farnys dem Posten wieder Gesprächsstoff lieferte. Pausanker, ein weicher Junge aus der Mitrailleusensektion, so jung, daß er sich noch nicht zu rasieren brauchte (der schwache blonde Flaum auf seinen Wangen war nur zu sehen, wenn er die Sonne im Rücken hatte), hatte Farnys Wohlgefallen erregt. Er wollte ihn als Ordonnanz. Bisher hatte Patschuli diese Stelle bekleidet, und er war willig gewesen, aber nicht treu. Und Sergeant Farny war sehr eifersüchtig. Während des Mittagessens in der Messe der Unteroffiziere begann der Kampf. Diese Messe, ein kleines unabhängiges Gebäude, lag an der Umfassungsmauer der Verpflegung im Schatten des Turmes. Sie war in zwei Räume geteilt, einen kleineren: die Küche (denn die Sergeanten aßen nur auf dem Marsch mit der Mannschaft) und einen größeren, der als Speisesaal diente. Dieser war lang, ein einziger schmaler Tisch stand darin. An den Wänden klebten Zeichnungen aus der ›Vie parisienne‹, mehr oder weniger nackte Frauen darstellend. In diesem Saale roch es wie in einer Schnapsbrennerei.

Am obern Ende des Tisches hockte der alte Adjutant Cattaneo. Er hatte einen verbogenen Zwicker auf der Nase und studierte eine Nummer des ›Fantasio‹. Neben ihm saß der blasse Hassa, der Eigentümer des Blattes, und machte devot auf die pikantesten Stellen aufmerksam, las die Untertitel laut vor, entschuldigte sich bisweilen, dies zu tun, aber laut vorgetragen übten sie mehr Wirkung aus. Der Adjutant war glücklich, daß seine Unfähigkeit, Gedrucktes zu lesen, so höflich verschleiert wurde. Neben Hassa saß Sitnikoff und las in einem russischen Buch. Die jüngeren Sergeanten, Wieland, Hühnerwald und andere hielten sich mehr an Farny, der am unteren Ende der Tafel thronte.

Als das Essen vorbei war, brachte der Koch den schwarzen Kaffee. Sitnikoff trank schnell seine Tasse leer, wollte aufstehen und sich verabschieden. Da hielt ihn die verstaubte Stimme Farnys, die trotz ihrer Heiserkeit sehr durchdringend war, auf.

Farny sagte: »Ich will Pausanker zur Ordonnanz. Er ist in Ihrer Sektion, Sergeant Sitnikoff.« (Alle Sergeanten siezen Sitnikoff.) »Wollen Sie es dem Capitaine mitteilen, oder soll ich es tun?« Farny sprach deutsch, er war Elsässer. Es war eigentlich eine Höflichkeit, die Farny dem Sergeanten Sitnikoff damit erwies, der das Französische nur mangelhaft beherrschte. Im gleichen Augenblick ließ der Adjutant ein rasselndes Lachen hören, das jedes andere Geräusch erstickte. Er hatte einen Witz verstanden.

Sitnikoff antwortete, aber Farny verstand die Antwort nicht. Er beugte sich vor und hielt die Hand hinters Ohr. Sitnikoff wiederholte seine Worte, er sprach französisch: davon könne nicht die Rede sein. Er werde sich diesem Projekt widersetzen. Farny lachte. Die Haut seines Gesichtes, die wie rauhes rotes Leder aussah, verfärbte sich und nahm eine hellviolette Tönung an. Die Augen blieben weit aufgerissen. Warum der Sergeant sich weigere? Er sprach nun auch französisch. Ob Farny ihm nicht die Auseinandersetzung der Gründe ersparen wolle. – Nein, Farny wollte nicht. – Schweigen. – Sitnikoff hielt die Lehne seines Stuhles umklammert. Dann ließ er seinen Blick langsam über die Anwesenden gehen, so, als wolle er feststellen, wer etwa noch zu ihm halten würde. Aber überall senkten sich die Köpfe vor seinem Blick. Nur der Adjutant fixierte ihn mit einem breiten Lächeln.

Farnys Fäuste lagen auf dem Tisch, die Daumen als Verschluß darauf. Er wartete. Noch einmal fragte Sitnikoff, ob es nicht besser sei, wenn er die Gründe, die seine Weigerung bestimmten, für sich behalten könne. Hierauf erlosch das Feixen des Adjutanten; der dicke Mann schien anzuschwellen, wie ein wütender Truthahn. Sitnikoff solle seine Überheblichkeiten nicht gar zu deutlich zeigen. Er sei nicht mehr als seine Kameraden, polterte er, und solle Rede und Antwort stehen. Farny sei ein alter Sergeant, der auch das Recht habe, einen Wunsch zu äußern. Vor Erregung bekam er den Schluckauf.

Farny beachtete die Unterstützung nicht. Unentwegt hielt er seine leeren Augen auf Sitnikoff gerichtet. Dieser zog mit einem Ruck den Stuhl wieder zu sich heran und setzte sich. Das wirkte verblüffend. Hassa rückte ab, auf der anderen Seite tat Wieland das Gleiche. Nun erklärte sich Sitnikoff, in wohlgesetzter Rede; er gab sich sichtlich Mühe, keine Fehler zu machen, er wollte jede Spur von Lächerlichkeit vermeiden. Es sei doch allgemein bekannt, was Sergeant Farny mit seinen Ordonnanzen treibe. Solange es sich um Leute wie Patschuli handle, an denen doch nichts zu verderben sei, habe er keine Einwände zu machen, aber wenn junge unschuldige Burschen, wie dieser Pausanker in Frage kämen, fühle er sich verantwortlich. Dieser Pausanker gehöre zu seiner Sektion, er fühle sich verpflichtet, ihn zu schützen. Jetzt sei er noch gesund, könne später in seine Heimat zurück und vielleicht wieder den Weg zu Leben und Glück finden (bei diesen Worten lachte Cattaneo wieder sein trommelndes Lachen, Hassa sekundierte diskret, Farny blieb steinern). Darum sei er gegen den Wechsel und werde auch seinen Einfluß beim Capitaine in dieser Richtung geltend machen, weil Farny angefault sei. Die letzten Worte dehnte er. Sie zogen gleichsam einen Strich durch das Schweigen.

Es erhob sich lautes Geschrei und Füßegetrappel. Sie sprangen alle auf, beugten sich über den Tisch, redeten auf Sitnikoff ein, schlugen vor ihm mit den Fäusten auf die Tischplatte, drohten ihm mit Prügel.

Nur Cattaneo und Farny blieben ruhig sitzen. Der Adjutant hatte wieder den Fantasio zu sich herangezogen und vertiefte sich in eine Zeichnung.

Es schien, als sei Farnys Ruhe nur gemacht. Seine ganze Haltung wirkte verkrampft, die Kaumuskeln auf seinen Backen traten scharf hervor, die Haut seiner Stirne war gewellt, als bereite ihm das Aufreißen der Augen große Schwierigkeiten. Dann löste sich der Krampf, er sprang auf. Da schwiegen die anderen und setzten sich. Manche duckten sich unwillkürlich. Sein verfärbtes Gesicht war wüst. Er schluckte. Dann brach er los. Er stand dicht vor Sitnikoff, den er kaum überragte, obwohl Sitnikoff saß. Farny schrie nicht, denn seine Stimmbänder waren krank. Die Zuhörer verstanden nicht alles, was er sagte, die Schimpfworte überstürzten sich. Aber während seiner ganzen Rede blieben die Augen weit offen, und diese offenen Augen schienen auf Sitnikoff mehr zu wirken als der ein wenig hilflose Wutausbruch, denn plötzlich legte er die Stirn auf seine Hände und senkte den Kopf. Farny schien über seinen Sieg erfreut und ging an seinen Platz zurück. Der Koch mußte auf seinen Befehl Pausanker holen. Es herrschte wieder Stille im Raum bis zur Ankunft des Jungen.

Dieser blieb an der Tür stehen und wagte nicht die Schwelle zu überschreiten. Sonnenstrahlen fielen senkrecht auf ihn, so daß er für die im Schatten Sitzenden sehr hell aussah. Die langen Wimpern, die seine sauberen Augen einsäumten, warfen lichte Schatten auf seine Wangen.

Allzu bieder tönte des Adjutanten Aufforderung, näher zu treten. Und als der Junge über die Schwelle stolperte, verschlug ihm die Schnapsluft nicht nur den Atem, nein, sie schien auch zersetzend auf ihn zu wirken. Die Miene des Gesichtes wurde blöde, der Mund erschlaffte, und die Augen bekamen ein schmieriges Glänzen. Zuerst war ihr Blick an Sitnikoff hängen geblieben, begreiflicherweise, denn dieser war sein Vorgesetzter. Aber dann floh der Blick, lief schnell über die Köpfe der anderen und wurde endgültig von Farny abgefangen. Farny hatte wieder seine Lieblingsstellung eingenommen, Fäuste auf dem Tisch. Er lächelte unangenehm unter seinem dünnen Schnurrbart. »Willst du Ordonnanz werden bei mir«? fragte er auf deutsch. »Weißt du, ich zahle gut. Kannst dreißig Franken im Monat haben, mehr als der Putzer vom Capitaine, und ich gebe noch gute Trinkgelder, wenn du folgsam bist.«

»Tu's nicht, Pausanker. Du weißt, was ich dir gesagt habe«, sagte Sitnikoff leise. Aber ein Sturm von Zurechtweisungen brauste gegen ihn.

»Halten Sie Ihr Maul«, fauchte Farny.

Pausanker konnte seinen Blick nicht aushaken. Er saß fest. Farny hatte ihn auch während der Zurechtweisung Sitnikoffs nicht losgelassen. Der Junge keuchte. Es schien ihm übel zu werden. Ein Ausdruck des Ekels trat in sein Gesicht. »Ja«, sagte er leise, »ich will gerne.«

»Na, also«, sagte Farny, faltete die Hände und drehte die Daumen umeinander. Eine ganze Weile blieb es still. Alles starrte auf Farnys Hände, die wirbelnden Daumen zogen die Aufmerksamkeit an. Da brach Sitnikoff den Bann. »Gute Verdauung«, sagte er laut.

Dann ging er, Leutnant Lartigue sein Leid klagen. Er erhielt das Versprechen, daß der Capitaine die Sache erfahren solle.

Aber noch vor dem Abend kam telephonischer Bericht von Bou-Denib, die Kompagnie habe mit drei Sektionen und den Maschinengewehren über Atchana nach Ain-Kser zu marschieren, um dort Camions in Empfang zu nehmen und diese dann nach Midelt zu begleiten. Eine Sektion solle nur bis Atchana mitmarschieren und dort zum Kalkbrennen bleiben.

Lös war den ganzen Nachmittag im Ksar gewesen. Als er um sieben Uhr zurückkehrte, stand in der Mitte des Hofes Capitaine Chabert und fluchte aufgeregt auf den alten Kainz ein, der mit immer gleichbleibender Geduld die Worte: »Oui, mon Capitaine« aus seinem zahnlosen Mund spuckte. Lös war nicht unvorbereitet. Pierrard war auf Wache und hatte ihm die Neuigkeit mitgeteilt.

»Wo waren Sie, Lös?« schrie Chabert aufgeregt. »Ich warte schon drei Stunden auf Sie. Ich habe Sie überall suchen lassen. Sie haben im Posten zu bleiben und sich nicht ohne Erlaubnis zu entfernen, um irgendwo in einer Ecke kleine Mädchen zu verführen. Sie müssen die Verteilung leiten. Können Sie das überhaupt? Oder sind Sie besoffen? Antworten Sie?«

»Ich habe nur einen Spaziergang gemacht, mon Capitaine«, entschuldigte sich Lös, der sich schuldbewußt und klein vorkam. »Ich war ja gar nicht saufen.«

»Gut, gut, das wird man ja an Ihrer Aufführung merken. Haben Sie genug Brot für zwei Tage? Sind auch Biskuits da? Und die Konserven? Was haben Sie da? Bohnen? Kompott? Sie wissen, ich halte sehr darauf, daß meine Leute auf dem Marsch gutes Essen haben. Und Fleisch? Frisches Fleisch für zwei Tage? Chef!« brüllte er plötzlich. »Wo ist der Chef wieder? Der Chef hat die Bestellzettel. Ich habe sie schon unterschrieben, mich trifft keine Schuld, wenn es Verspätung geben sollte. Auf was warten Sie, Lös? In fünf Stunden ist Abmarsch, Sie haben gerade noch Zeit.«

»Aber ich muß doch zuerst die Scheine haben«, entschuldigte sich Lös weinerlich. Ein plötzlicher Haß auf Zeno ergriff ihn; sie war schuld, daß er zu spät gekommen war.

Narcisse kam mit langen Schritten (geziert wirkten sie besonders durch die allzu bewußte Inanspruchnahme der Hüften) auf den Capitaine zu. Er hielt eine Rolle Schriftstücke in der Hand; diese führte er grüßend gegen die Mütze und markierte das Strammstehen durch ein bequemes Sammeln der Haxen. »Wir haben noch Zeit, mon Capitaine, es wird alles in Ordnung kommen.«

Diese beruhigenden Worte schienen Capitaine Chaberts aufgeregten Schnurrbart zu glätten. Auch die dicken Hände, die so hilflos in der Luft herumgeflogen waren, vergruben sich beruhigt in den Hosentaschen.

»Mach's gut, mein Kleiner, ich habe Vertrauen zu dir. Und auch zu diesem da.« Er wies mit der Schulter nach Lös. Dann aber wurde er von einer neuen Beunruhigung besessen. »Wo ist der Leutnant Lartigue? Ich brauche den Leutnant Lartigue. Er soll die Sektionen inspizieren, die Maulesel kontrollieren. Und dann vergeßt mir nicht die Gerste für 120 Tiere und für zwei Tage. Wir können dann in Bou-Denib wieder fassen, wenn wir dort Halt machen.«

Er rollte fort.

»Frank muß die Nacht durcharbeiten«, sagte Narcisse sachlich. »Dann sagst du dem Kainz, er soll fünf Schafe schlachten. Jetzt gleich. Hast du zwei Lämmer? Ja? Die läßt du backen. Eins für den Capitaine, eines für Lartigue. Das wird den Alten wieder gnädig stimmen, und der Lartigue ist ja dein besonderer Freund. Hoho. Aber, nun kommt das Aber… Wir sind doch Freunde. Ich helfe dir, und du hilfst mir, nicht wahr? Also: ich brauche fünfzig Kilo Mehl und dreißig Liter Wein, die fehlen mir, ohne Bon, natürlich. Fehlen einfach, fort, verschwunden…« Er wedelte mit seinen Händen wie ein bettelnder Hund und vollführte dazu auf den Zehenspitzen kleine Sätze. Doch machte dieser kindliche Humor auf Lös den Eindruck des Gezwungenen. Er gehörte zum System des Chefs und sollte ausdrücken: »Ich bitte dich um eine Gefälligkeit, aber dafür bringe ich dich zum Lachen. Eigentlich sind wir jetzt quitt, und wenn ich dir später helfe, bist du schwer in meiner Schuld.«

Da kam auch schon Baskakoff, der Küchenkorporal, um die Ecke, und der Chef winkte eifrig. Baskakoff lief und stand sogleich stramm, der weiche Mann mit den dicken Augenlidern und der zu fleischigen Unterlippe. Narcisse aber blickte unendlich vornehm auf seinen Untergebenen, seine Befehle waren nur ein schwacher Hauch durch die Nase: »Nehmen Sie das Mehl gleich mit, das der Korporal Ihnen hier übergeben wird, und dann kommen Sie noch einmal, aber wenn möglich mit einem Wägelchen und einigen Mann, um den Rest zu empfangen.« Und um Baskakoff zu ärgern, legte er freundschaftlich den Arm um Lös' Schultern: »Komm, mein lieber Alter, wir wollen schnell eine kleine Stärkung zu uns nehmen. Ich habe da etwas Vorzügliches in meiner Tasche.« Er ging ein paar wiegende Schritte, machte kehrt, blinzelte durch die Lidspalten auf den schier festgewachsenen Baskakoff und ließ aus Sternenhöhe die Worte träufeln: »Ich besinne mich gerade, mein Freund Lös hat augenblicklich Wichtigeres zu tun. Holen Sie Ihre Mannschaft zusammen und den Wagen, es wird dann alles zusammen ausgegeben.«

Und als Baskakoff noch immer stand: »Sie sollten schon längst fort sein, wenn Sie nicht schneller machen, will ich dafür sorgen, daß Sie morgen das Laufen lernen.« Da lief auch Baskakoff schon, und sein muskelloses Fleisch schwabbelte in der zu engen Uniform.

Der Chef hatte richtigen echten Whisky, Black and White, sagte er und schnalzte mit den Lippen, obwohl er die englischen Worte französisch aussprach. Er füllte den kleinen Metallbecher, der die Feldflasche schloß, bot Lös an, kippte selbst und machte ein zufriedenes Gesicht. »Wenn du's nicht wärst«, meinte er, »Würde ich nichts von dem edlen Zeug verschenken. Aber du bist mein Freund, nicht wahr? Na also.« Dann schraubte er das Fläschchen wieder zu.

Baskakoff hatte mit viel Mühe die nötigen Leute zum Fassen aufgetrieben. Die andern stießen am Wagen und ruckten, daß dem armen Korporal die Deichsel in den Rücken fuhr. Todd war dabei. Während sie zum Weinschuppen gingen, um die kleinen Fäßchen zu füllen, schlich Pierrard heran und verlangte flüsternd die Füllung seiner Feldflasche.

Lös nahm Todd beiseite. Er wisse doch, sagte er, daß er eine kleine Freundin im Ksar habe. Nun, diese warte auf ihn.

Ob er, Todd, nicht so gut sein wolle, über die Mauer zu springen und dem Mädchen zu sagen, daß er diese Nacht nicht kommen könne?

Todd wiegte den Kopf wie ein jüdischer Trödler, dem jemand einen zerrissenen Regenmantel zu einem übertriebenen Preis angeboten hat. Er stieß einige saugende ›Z‹-Laute aus und meinte tadelnd: »Immer kommen die Leute zu mir, wenn es irgend ein stinkendes Geschäft zu machen gibt. Und wenn ich geschnappt werde, was dann? Ich bin noch ein Neuer, und der Alte kennt mich noch nicht. Na, schließlich ist es gleichgültig, morgen geht es auf den Marsch, da werd' ich schon keine Prison erwischen.«

Lös drückte ihm einen zusammengefalteten Zehnfrankenschein in die Hand, den Todd mißtrauisch betrachtete. Etwas wie Traurigkeit schien in seinem Gesicht aufsteigen zu wollen. Doch dann zuckte er die Achseln und verschwand über die Mauer. »Nicht dort«, wollte Lös rufen, da war der andere schon verschwunden.

In der Bäckerei schwitzte Frank vor dem Backofen.

»Hast kan' Wein, Korporal?« war seine Begrüßung, als Lös eintrat. Lös mußte lächeln. Es schien ihm, als habe er seine bevorzugte Stellung im Posten einzig den Schlüsseln zum Weinkeller zu verdanken. Vor einer Woche hatte sich der Russe Artimov mit dem Ungarn Sekelö geprügelt, weil beide gern in der Verpflegung Ordonnanz geworden wären. Schließlich hatte Sekelö gesiegt. Aber man sah ihn selten. Er kam eigentlich nur, wenn er sehr großen Durst hatte, wusch dann schnell Lös' Wäsche, die Zeno übrig gelassen hatte, um sich hernach dem stillen Trunk ergeben zu können.

Eben als Lös den Wein holen wollte, wankte eine armselige Gestalt zur Türe herein: der kleine Schneider. Er schlotterte. Frank schabte seine Hände ab, die mit Teig überzogen waren.

»Du armes Hascherl«, sagte er, »hast Fieber. Ja, ja, wenn man net g'sund ist, hat man nix zu lachen. Geh, komm her zum Ofen; der Korporal bringt dir ein Wein, den machen ma heiß mit Zucker, und dann kannst schwitzen. Wirst morgen marschieren müssen?«

»Der Schützendorf hat mich fortgeschickt und gesagt, daß ich die ganze Sektion demoralisiere. Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich krank bin, und keiner glaubt mir's. Krank kann ich mich auch nicht melden, der Major kommt erst in vierzehn Tagen, und der Sanitäter hat nicht einmal ein Fieberthermometer.«

»Wann wird das Brot fertig sein?«

»Bald, bald, Korporal, aber vergiß mein Wein net.«

Lös nahm den kleinen Schneider mit auf sein Zimmer, brachte ihm heißen gezuckerten Wein und deckte ihn mit zwei alten Mänteln und den Decken zu. Er ging in die Bäckerei zurück, die Lämmer waren fertig gebacken. Er zerteilte sie, verpackte sie in frischgewaschene Säcke. Dann stieg er die Treppe zum Turm empor.

Der Capitaine trug eine alte, verbogene Stahlbrille, die er auf seinen kurzgeschorenen Schädel schob, als Lös eintrat. In einer Ecke packte Samotadji einen kleinen rechteckigen Koffer. Währenddessen vernähte der Capitaine einen Riß an einem alten blauen Hemd.

»Wir sind nicht reich, mein Kleiner«, so empfing er Lös, »und können es uns nicht leisten, kleinen Mädchen neue Kleider zu schenken. Und unsere Ordonnanz ist stets so beschäftigt, daß sie keine Zeit zum Flicken hat. Nun, wir können sie auch nicht allzu hoch bezahlen. Wir müssen eben unsere alten Kleider austragen, weil wir daheim eine Familie haben, die auch leben will. Wir können unserer Ordonnanz nur fünf Franken im Monat geben. Aber er wird belohnt werden, der Samotadji. Wir werden ihn zum Korporal vorschlagen, wenn wir nach Frankreich zurückkehren. Und was bringst du denn da?«

Er betrachtete das helle Lamm eingehend, zupfte eine Faser Fleisch ab und kaute schmatzend daran.

»Du willst mich wohl bestechen, he? Damit ich dich hier lasse? Oder ist es als Versöhnungsopfer gedacht? Hast wohl Angst, das Mädel allein zu lassen, und daß dir ein anderer sie fortnimmt? Warst heute nachmittag bei ihr? Wie war's? Hat sie eine weiche Haut und riecht sie gut?« Der Capitaine lächelte ein weiches Lächeln, das ihm Speichelbläschen in die Mundwinkel trieb. Dann strafften sich die Lippen wieder, als er fortfuhr: »Aber wenn du hier bleibst, mach mir nicht zuviel Dummheiten, während wir fort sind. Du weißt, der Leutnant Mauriot mag dich nicht leiden. Er wird den Posten während meiner Abwesenheit unter sich haben, und er hat mir schon gesagt, daß er dir scharf auf die Finger sehen wird. Paß nur auf, daß er nichts merkt.«

Der Capitaine ließ die Stahlbrille wieder über die Augen fallen, senkte den Kopf und nähte weiter.

Lös schlug die Absätze zusammen und ging. Am Fuße der Treppe nahm er das zweite Paket auf und klopfte dann bei Leutnant Lartigue an.

»Was bringen Sie da?« Der Leutnant lag in seinem bequemen Klubsessel und schlug die Zeitschrift zu, in der er gelesen hatte. Sie trug rote Buchstaben auf einem weißen Grund. »Ein ganzes Lamm? Wie liebenswürdig finde ich das. Denn ich täusche mich doch nicht, wenn ich annehme, Ihre Aufmerksamkeit sei ein Zeichen freundlicher Wertschätzung meiner Person? Setzen Sie sich. Hier… Anisette – und da Zigaretten. Nehmen Sie bitte. Und bleiben Sie hier? Da ist die Nummer, von der ich Ihnen sprach. Einige Nachrufe, wie Sie sehen. Auch Herr Gide hat sich bemüßigt gefühlt, seinen Senf dazuzugeben. Oh, wie sehr geht mir dieser schreibende Mann auf die Nerven. Einen Grund kann ich nur schwer ausfindig machen. Er ist mir zu klug. Klug in einer bösen Bedeutung. Schätzen Sie ihn?«

Lös rauchte schweigend. Er erwartete die fällige Anspielung auf sein Liebesverhältnis. Aber Leutnant Lartigue war zu sehr mit literarischen Angelegenheiten beschäftigt.

»Daß doch Proust tot ist!« Er schüttelte sein klobiges Haupt, strich sich durch die Haare, daß sie unordentlich aufstanden. »Es hat mich traurig gemacht, daß ich die ganze vorige Nacht nicht habe schlafen können. Wer wird uns nun helfen, in die Unordnung und das Dunkel in uns ein wenig Licht zu bringen? Und denken Sie, ich habe versäumt, ihn kennen zu lernen. Ein junger Freund wollte mich einmal zu ihm mitnehmen. Ich hätte ihm vielleicht ein paar schöne Anekdoten erzählen können über meinen Obersten in Tours; auch eine Art Baron du Charlus, nur viel gröber. Wirklich sehr lustige Geschichten. Aber vielleicht wäre der Besuch eine Enttäuschung gewesen, und so ist es besser, ja, ja, viel besser, ich habe ihn unterlassen.« Die große Hand griff zum Tisch hinüber und nahm ein anderes Heft. »Kennen Sie einen deutschen Dichter namens Rilke?« Er buchstabierte die ihm fremden Vornamen: Rainer Maria, schüttelte wieder den Kopf. »Der Mann beginnt französische Gedichte zu schreiben. Wußten Sie das?« Er murmelte eine Zelle vor sich hin. »Man merkt doch deutlich, daß er ein Deutscher ist. Aber woran? Daß ihm die Zeichnung fehlt, verstehen Sie. Ein Gedicht soll kein Farbengeschmier sein. Wie eine Radierung soll es wirken, auch wenn es das Unaussprechliche sagen will. Formlos ist dies. Sie werden es selber sehen, denn es widersteht meiner Zunge. Gewiß, viel Geduld zeigt sich, schwere und mühselige, es wird betont, wieviel Arbeit es gekostet hat. Nehmen Sie dagegen einen Vers von Mallarmé: ›La solitude bleue et stérile a frémi…‹ und sagen Sie mir dagegen einen Vers von Ihrem Rilke, wenn Sie einen wissen, soviel Deutsch verstehe ich schon noch.«

Lös dachte nach. Die Einrichtung des Raumes störte ihn. Die schwere Petroleumlampe, die auf dem kleinen Tisch stand, die bunten Vorhänge, das niedere Feldbett, das mit einem grellen Teppich bedeckt war und wie ein ärmlicher Divan wirkte. Im Lehnstuhl aber lag eine schwere Gestalt, die kraftlos schien und ein wenig morsch, nun da sie sprach. Der Daumen der Rechten stützte das Kinn, während die übrigen Finger den Mund verbargen.

»Götter schreiten vielleicht, immer im gleichen Gewähren,
Wo unser Himmel beginnt…«

sagte Lös zögernd; es war, als müsse er die Worte irgendwie aus fernen Ländern holen. Ja, wahrhaftig, die Worte waren eingeschlossen in einem Zimmer, das drüben in einer Stadt lag. Und in diesem Zimmer lag auf einem rechteckigen Tisch das Buch, das die Verse enthielt, die Verse, die nach Vergangenheit klangen. Lös schüttelte sich. Er stand auf: »Ein andermal, mon lieutenant, ich habe noch zu tun. Vielleicht sucht mich der Capitaine und schmeißt mich endgültig aus der Verwaltung, wenn er mich nicht findet.«

»Ja, ja«, sagte Lartigue und reckte die Fäuste gegen die Decke. »Sehr gut so. Geben Sie nur acht, Lös. Man beneidet Sie hier nicht so sehr wegen Ihres Druckpostens, der Ihnen Geld einbringt. Deswegen auch, natürlich. Aber haben Sie bemerkt, daß man Sie auch haßt? Warum? Das ist eine Frage, die ich selbst nicht klar beantworten kann. Worte genügen da nicht. Man kann wohl mit den Leuten saufen, Zoten erzählen und gerade so gemein scheinen wie sie. Sie fühlen doch, daß da etwas nicht stimmt. Daß wir voller Vorbehalte sind, innerlich, ein Reservat besitzen, auf das wir uns zurückziehen können und das sie, die andern, nicht besitzen. Man soll ganz mitmachen, meinen sie – aber mitmachen und dabei noch beobachten, das finden sie gemein.« Jetzt erst ließ er die Fäuste auf die Schenkel fallen, streckte die Finger und umfaßte die Knie. »Warten Sie«, rief er und winkte Lös mit der Hand. Dann flüsterte er hinter dem Handrücken, so wie man auf dem Theater ein ›a parte‹ mimt, »Sie treiben, wie ich höre, praktische Völkerpsychologie. Ich versuche es ja auch. Noch eine Gemeinsamkeit, die uns verbindet. Aber geben Sie acht, manchmal kann es schmerzlich werden.«

Er streckte Lös die Hand hin; sie war unbehaart und klein. Eine Knabenhand fast, wenn man den Rücken betrachtete; und doch wirkte sie greisenhaft durch die verrunzelten Finger.

Lös stieß die Tür auf gegen die stumme Nacht, die über dem Posten lag. Von einem leichten Wind war sie bewegt; den Morgen kündete er, der hinter den schwarzen Bergen vorsichtig näher schlich.

Seit einer halben Stunde wartete Korporal Baskakoff im Hofe der Verwaltung auf die Verteilung. Vor der Bäckerei stand Frank neben einem Haufen dampfender Brote, deren Geruch sich mit dem Rauch der verglimmenden Holzglut mischte. Auf einem Stein flackerte die lange gelbe Flamme einer Kerze.

Baskakoff sah verärgert aus. Augen und Lippen wölbten sich übertrieben vor. Die andern dagegen, die ihn begleiteten, waren angeregt und erfreut: der Geruch des frischen Brotes schien diese belebende Wirkung auszuüben; er war wohl altgewohnt und hing mit Frühstück und dem Beginn eines neuen Tages zusammen. Zum Schluß gab Lös jedem eine Blechtasse Wein. Sie wurde mit demütigem Grinsen entgegengenommen und mit untertänigen Späßen bezahlt. Das Flüstern aber, das aufraschelte, wenn Lös beiseite trat, war voll Haß und Neid. Einmal hörte er ganz deutlich den Türken Fuad zum Schweizer Bärtschi flüstern: »Er nicht ausrückt, er kann geben Wein.« Wozu Bärtschi nickte.

Als aber Lös auf Fuad zukam, machte dieser Verbeugungen, streckte seine Blechtasse vor, um sie noch einmal füllen zu lassen, und leerte dann den Wein in seine Feldflasche.

Nun war der Hof leer. Da schlich aus einer Ecke Todd hervor, mit leisen Schritten, und klopfte Lös unerwartet auf die Schulter. Er habe die Bestellung ausgerichtet, teilte er mit, Zeno sei ein wenig traurig gewesen, doch habe sie erklärt, daheim bleiben zu wollen, bis Lös komme.

»So, und jetzt wirst du mich einladen. Ich habe Hunger und keine Lust, mich noch hinzulegen und zu schlafen.«

Sie waren in das kleine Haus getreten. Lös zündete eine Azetylenlampe an. Hinter der Flamme war ein Scheinwerfer aus spiegelndem Blech angebracht. Karbidgeruch erfüllte den Raum. Vom Bett aus fragte eine schläfrige Stimme: »Wie spät ist es? Sind die andern schon ausgerückt?« Der kleine Schneider war erwacht und schaute mit glänzenden Augen ins Licht, warf dann die gefalteten Hände vors Gesicht und stöhnte: »Mein Kopf tut mir weh.«

»Willst du noch einen Schluck Wein?« fragte Lös, trat ans Bett und strich dem Liegenden über die feuchte Stirn. »Die andern sind noch da. In einer Stunde rücken sie aus. Wirst du mitkönnen, oder soll ich dem Alten sagen, daß du krank bist?«

»Nein, nein.« Der kleine Schneider war sehr erschrocken. »Ich bin doch ein Neuer, da kennt mich der Capitaine nicht und wird auch nichts wissen wollen von mir. Der Adjutant hat sicher auch über mich geklagt…« Lös zuckte die Achseln. Todd nickte traurig. Dann stand der kleine Schneider auf, zog seine Schuhe an, legte stöhnend die Wadenbinden um die dünnen Beine, grüßte leise und drückte sich zur Tür hinaus.

Todd hatte sich in eine Ecke auf den Fußboden gesetzt und starrte vor sich hin.

»Was willst du bloß von dem Mädchen«, fing er plötzlich an, und seine Stimme war ärgerlich, während die Finger vor lauter Verlegenheit an dem Stoff der Hosen zupften. »Ich weiß schon, es ist aufdringlich, wenn ich dich so frage, kenne dich ja kaum, aber mir schien es so, daß wir einander doch ziemlich nahe gekommen sind, oder nicht?«

Lös nickte schweigend. Warum nicht Rechenschaft ablegen? Das war manchmal ganz angenehm und befreite.

Die Muskeln Todds arbeiteten unter der gelben Haut des Gesichtes und brachten die spärlichen schwarzen Härchen am Kinn zum Zittern.

»Du mußt mich verstehen. Ich will keine Geständnisse. Aber ich versteh dich nicht recht.« Fast klangen die Worte wie Eifersucht, eigentlich gehörst du mir, was unterstehst du dich, mit einer Frau zu gehen? Aber dieser Grund war Todd verhüllt, er sprach weiter, und seine Stimme wurde zorniger. »Ich habe mir eine ganz falsche Vorstellung von dir gemacht. Ich dachte, du seist ein anständiger Kerl. Hast doch den andern gegenüber renommiert, du gingest nie zu den Weibern. Und jetzt? Dabei drückst du mir zehn Franken in die Hand, als sei ich ein Dienstbote, der ein Trinkgeld braucht. Kannst nicht warten, bis man etwas von dir verlangt?«

Es war still. Nur vor der Kammertür rauschte leise das Wasser des Kanals. Lös ging hinaus, kam mit einer Büchse Fleisch zurück, öffnete sie, schnitt Zwiebeln, machte einen Salat an, reichte Todd den vollen Teller, füllte eine Tasse mit Wein und setzte sich schließlich auf das leere Bett.

»Du findest also, daß ich gemein geworden bin«, stellte Lös fest. »Und dazu noch taktlos. Was soll ich da lange erklären? Aber doch, es ist eigentlich ganz richtig, einmal darüber zu sprechen. Früher, weißt du, als ich noch im Schlafsaal und dann später in der Baracke geschlafen habe, da ist es ganz gut gegangen. Ich bin stumpfsinnig geworden und wunschlos. Dieser Zustand war gar nicht unangenehm, weil man ihn eigentlich nie so recht fühlte. Tagsüber habe ich mich sogar noch aufschwingen können und mit andern Leuten ganz vernünftige Gespräche geführt. Vernünftig! Du weißt schon, was ich meine. Nicht den allgemeinen Stumpfsinn. Ich war dabei innerlich ganz ruhig. Und eigentlich ganz zufrieden, ruhig zu sein nach den Aufregungen drüben, vor meinem Engagement. Dann war das Wachestehen eigentlich auch ganz sympathisch. Man konnte so vor sich hinträumen. Ja. Aber wie ich hier in die Administration kam, da war ich plötzlich allein und – hatte Zeit. Verstehst Du? Auch in den Nächten. Das war zuerst sehr komisch, fast angenehm. Aber dann wuchs so eine Art Spannung, die ich einfach nicht los wurde und die nach und nach eine regelrechte Verzweiflung geworden ist. Weißt du, in den Nächten kommen dann alle Dummheiten, die man in der Vergangenheit gemacht hat und quälen einen. Und noch etwas: daß überhaupt so eine Spannung in der Einsamkeit sich bilden kann, habe ich mir so erklärt.« Lös schwieg und dachte nach. Er wollte durchaus keinen Monolog halten, er wollte glasklar sein, wenn der andere nicht verstand, so hatte die ganze Rede gar keinen Sinn, der andere mußte verstehen.

»Ja, etwa so: wenn du in den Nächten nie allein bist, und auch am Tage nicht, so kann gar keine Spannung entstehen. Sobald du ein Gespräch führst oder einen Witz machst, so ist das doch wie eine Berührung, die du mit dem anderen tauschest.« Lös hatte die Ellbogen aufs Knie gestützt und bewegte die gehöhlte Hand wagrecht hin und her, als sei sie mit etwas Kostbarem gefüllt, das er nicht verschütten dürfe. »Eine Berührung, ja, fast eine Zärtlichkeit. Weißt du, wir sind ja so hungrig nach Zärtlichkeit, daß ein freundliches Wort, gesagt oder empfangen, genügt, um die Spannung zu lösen. Verstehst du?«

Todd war längst fertig mit essen. Er hielt die geknickten Beine mit den Armen umspannt und hatte das Kinn auf die spitzen Knie gelegt. So sah er steif auf Lös' braun glänzende Sandalenspitze. Jetzt hob er den Kopf, schloß gleichzeitig die Lider und nickte. Sein entspanntes Gesicht schien ein Lächeln anzukündigen, das noch nicht reif war.

»Ja, draußen in den Baracken, kinderleicht ist das Leben dort. Man kommt nicht zum Nachdenken, die Vergangenheit wird ganz unwirklich, einzig bestehen bleibt nur der Tag und was der Tag bringt: Wo man eine Zigarette schinden kann, wenn man kein Geld mehr hat, was die kleine Freundin des Leutnants gesagt oder getan hat, ob der Sergeant Farny einen neuen Burschen hat, und was er mit diesem neuen Burschen tut. Wieviel Fleischklöße es zu Mittag gibt für die Gruppe, und ob es gelinden wird, den überzähligen in seine Gamelle zu praktizieren, ohne daß es die andern merken. Und dann diese Einsamkeit hier. Die ersten Tage ging es noch, da schlief Sitnikoff hier, während wir den Bestand aufnahmen, und mit ihm konnte man schließlich noch reden. Er ist gar nicht so dumm und hat schon gewußt, warum er wieder in die Sektion zurück wollte. Ja, die Einsamkeit hier. Da kommen die Bilder, die man nicht vertreiben kann.

Ganz unschuldige zuerst. Wälder, in denen man geschlafen hat. Der Geruch nach feuchten Blättern und Pilzen, die Sonne scheint durch die Zweige, und eine Ameise kitzelt die Hand. Ein Käfer torkelt ungeschickt über Gräser. Dann ist plötzlich das Leben von drüben da, eine Melodie, die man nicht aus den Ohren bringt, auch wenn man an anderes denken will. Du kennst das ja auch. Warum hast du gestern gesummt: ›das ist die Liebe‹? Soll ich dich noch mehr mit Erinnerungen langweilen? Jeder kennt doch das, und wenig braucht es, um das Kino der Vergangenheit zum Surren zu bringen. Einmal hat mich Narcisse mit ins Kloster genommen. Du weißt, wie es dort aussieht, oder nicht? Wenn die Leute am Zahltag vor den Türen anstehen und warten, bis sie drankommen. Als müßten sie Brot fassen. Liebe fassen. Das, was sie Liebe nennen.« Es schien Lös Mühe zu bereiten, ganze Sätze zu formen. Todd lächelte, aber er blickte nicht auf. Manchmal versuchte er das Lächeln durch Einziehen der Lippen zu unterdrücken, aber bald brach es wieder hervor.

»Ich war an einem Abend dort, wo es fast leer war. Aber die Frauen, die dort leben! Die Schminke, die von den Gesichtern rinnt, der Stumpfsinn und der Geruch, von dem einem übel wird. Der schlechte Tee, für den man noch teuer bezahlen muß. Und die ›patronne‹, die keifend einkassiert. Jede von den fünf Dirnen wollte mich für sich haben. Nur weil der Chef ihnen gesagt hatte, ich sei in der Verpflegung. Und der Vorgänger von Sitnikoff war doch dort ein eifriger Besucher. Jede hoffte, ich würde mich in sie verlieben und ihr ein Zimmer im Dorf zahlen, sie aus dem Haus herausnehmen. Aber ich habe wirklich nur Ekel gespürt. Narcisse hat sich über mich lustig gemacht. Ja, wir sind beide in die Legion gekommen, um Schluß zu machen. Ganz recht. Aber doch nicht, um im Schmutz zu ersaufen. Ich spreche nicht von Moral. Was haben wir noch mit der Moral zu tun? Wir können einfach nicht. Uns fehlt vielleicht der letzte Mut. Mut, das ist auch so ein Wort. Manche Sachen können wir einfach nicht tun. Warum? Das weiß ich selber nicht. Nun schau. Das Mädchen dort ist wenigstens sauber. Und sie hat mich gern auf ihre Art, obwohl es nicht immer leicht ist mit mir. Sie ist vielleicht auch nur dankbar und will zurückzahlen, weil ich ihr ein Kleid geschenkt habe und ihrem Vater zweihundert Franken, damit er sich einen Garten leisten kann. Aber sie ist doch noch ein Mensch und nicht irgend ein schmutziges Tier. Das ist vielleicht falsch, die Dirnen sind wahrscheinlich auch keine Tiere. Aber wenigstens bin ich sicher, daß ich bei ihr nicht krank werde, und davor habe ich eine heillose Angst. Und anhänglich ist sie auch. Und wenn ich einmal fortgehe, so wird ihr Vater einen Garten haben, und dann findet sie vielleicht einen, den Chef oder einen Leutnant, der sie weiter versorgen wird. Um mich hat sich auch niemand gekümmert, als es mir schlecht ging.«

Todd in der Ecke schwieg. Das Lächeln hatte er eingestellt. Er nickte vor sich hin, und es wirkte automatenhaft. Dabei hatte er die Augen geschlossen und zupfte an den wenigen Haaren seines Kinns.

»Ja, ja«, sagte er. »Ich versteh' schon. Na, dann… Servus.«

Lös sah ihn durch das Tor der Verwaltung gehen, als die Signalpfeife im Posten zu trillern begann. Der Himmel war schon grau, und die Luft schmeckte nach sauren Bonbons. Lös hörte das Trappen der Maultiere, die ungeduldig beim Satteln den Boden mit den Hufen schlugen. Er ging zum Tor und setzte sich dort auf einen Stein. Die Sektionen marschierten an, draußen vor dem Posten und stellten sich auf in fünf Reihen. Vor jeder Gruppe die Fußgänger, einer hinter dem andern, nachher die Maultiere mit den hochbepackten Sätteln. Die ›Titulaires‹ hielten die Tiere am Halfter. Vor den Kolonnen trabte Capitaine Chabert aufgeregt auf und ab. Das heisere Brüllen Cattaneos war hörbar. Der kleine Schneider hatte sein Mißfallen erregt, er hatte den Hafersack seines Maultieres vergessen. Leutnant Lartigue ritt vorüber; er hielt sein Pferd an und meinte freudig: »Meine Ordonnanz bin ich an den Adjutanten losgeworden. Herr Peschke wird in Atchana Kalk brennen. Und ich habe mir Ihren Freund, den Todd, ausgebeten.« Er grüßte, mit der Hand winkend, und ritt im Schritt an die Spitze der Mitrailleusensektion. Dort schüttelte er Sergeant Sitnikoff die Hand, ritt die Sektion ab und nickte den lächelnden Gesichtern seiner Leute zu. Capitaine Chabert hob den Arm. Das Gemurmel verstummte. Er ließ den Arm nach vorne fallen und gab seinem Pferde die Sporen. Leutnant Lartigue folgte, vornübergebeugt, die Hände in den Hosentaschen, schlaff hingen die Zügel über dem Hals des Tieres. Und mit gebeugten Köpfen schlossen sich die Fußgänger seiner Sektion an, dann kamen die Maulesel mit pendelnden Ohren und Schweifen in Bewegung. Die erste Sektion stand erwartungsvoll, Korporal Pierrard hob ungeduldig den linken Fuß und setzte ihn mit Betonung auf die Erde, als das letzte Tier der vorangehenden Sektion an ihm vorbei war.

Lös stand auf und blickte der abziehenden Kompagnie mit zufriedenem Lächeln nach.

Der hochgeladene Bastsattel des letzten Küchentieres wurde kleiner, die Ebene verschluckte vorsichtig die Kolonne.

Mit einem hörbaren Aufatmen steckte Lös seine Hände in den Gürtel und ging um den Posten herum, den schmalen Weg, der am Ufer des Kanals zum Ksar führte. Er traf auf Zeno, die lachend seine Hand nahm und mit ihm davonlief.


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