Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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2. Kapitel

Geschichten in der Nacht

Voraus schritt das Paar, aneinandergeschmiegt und wiegend. Patschulis Gesicht sah im unbarmherzigen Lichte des Mondes gedunsen und nackt aus. Es war glatt, ohne jegliche Falte. Aufreizend wirkten auch die nackte Schulter und das braune herabfallende Gewand, das die rasierten Waden entblößte bis zum Knie. Peschke trug eines der seidenen Hemden seines Leutnants, am Halse geöffnet, mit umgeschlagenem weichen Kragen, dazu Breeches und schwarze Wadenbinden.

Den beiden folgten die Korporäle Smith und Pierrard, die derart verschieden waren, daß ihr Zusammengehen komisch wirkte. Smith war ein dicker Mecklenburger mit waagrechten Schultern, auf denen ein glattgeschorener Kugelschädel saß. Die Wangen hingen in Säcken herab, zu beiden Seiten des wulstigen feuchten Mundes, über dem die Nasenlöcher sich wie riesige Höhlen öffneten. So abgeplattet war die Nase, daß sie im Profil unsichtbar blieb.

Pierrard war Belgier. Er sah groß aus neben dem kugelförmigen Smith. Über dem scharfen Gesicht standen die Haare borstig und silbern schimmernd in die Höhe. Sein Schritt war majestätisch, denn er hielt den Oberkörper mit auf dem Rücken verschränkten Armen stark nach hinten gebeugt.

Als letzter kam, mit schlenkernden Armen und Beinen, Todd.

Sie alle wurden einzeln begrüßt und ließen sich dann vor Lös' Hütte nieder. Es war der einzige Platz, der vom Fenster des Capitaines aus unsichtbar blieb. Lös füllte die Blechtassen. Andächtig wurden sie geleert. Dann schwieg die Versammlung.

Da ergriff Pierrard die Feldflasche und trank lange und ausgiebig. »Ich bin traurig heut abend«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. Er rollte das Ende seines Schnurrbarts, zog es gedankenvoll durch den Mund und ließ die Blicke über die Gesichter der Sitzenden streifen, bis sie an Lös hängen blieben, der zwischen Patschuli und Smith saß. Dann begann Pierrard leise zu sprechen, in deutscher Sprache, die einen harten flämischen Akzent hatte. »Einmal, während des Krieges, auch an einem vierzehnten Juli, habe ich mit dem König aus derselben Flasche getrunken.« Er schwieg wieder. Der Wein schien zu wirken, das Blut drängte sich in die Haut seines Gesichtes, die Augen quollen vor zwischen den weitaufgesperrten Lidern. Der Oberkörper sank ein wenig nach vorne. Aber mit einem Ruck fuhr Pierrard wieder auf, sah sich im Kreise um. Und das Galliergesicht wurde verächtlich. Er begann zusammenhängend zu sprechen, wandte sich aber an Lös. »Ja, ich habe oft mit unserem König Albert gesprochen, denn ich war doch sein Adjutant. Capitaine war ich und habe dann eine Kompagnie geführt!« Noch einmal beobachtete er die Mienen seiner Zuhörer. Da er nur Gleichgültigkeit wahrnahm, schien ihn dies zu ärgern.

»Ihr glaubt mir wohl nicht? Aber Lös, du glaubst mir?

Haben wir uns nicht oft genug unterhalten über Racine und Goethe und Voltaire? Ha, und Latein verstehen wir auch, nicht?

Odi et amo quare id faciam fortasse requiris.
Nescio sed fieri sentio et excrucior.«

Er schwieg wieder und blinzelte Lös zu. Da kam aus der Dunkelheit, wo im Schatten der Mauer Todd hockte, die leise Übersetzung:

»Ich hasse und liebe, warum ich dies tue, fragst du vielleicht,
ich weiß es nicht, aber daß ich's tue, fühl ich, und leide.«

Flüstern. Wer ist das? Pierrard staunte. Lös mußte lächeln. Dann faßte sich Pierrard und drückte seine Freude darüber aus, daß noch ein Gebildeter hier unter ihnen weile. Da würde er doch auf Verständnis stoßen. Lös füllte wieder die Becher, alle stießen sie mit Todd an, näherten ihre Gesichter dem seinen, das plötzlich, im hellen Lichte, uralt und mumienhaft aussah. Er nickte nur mit halbgeschlossenen Lidern und versank dann wieder in den Schatten. Pierrard goß hintereinander zwei Quarte Wein in den Hals, wischte die Tropfen von den Mundwinkeln und vom Kinn, trocknete die Hände an den Haaren und fuhr fort. Seine Stimme war laut und prahlerisch.

»Eigentlich heiße ich Löwendjoul, Baron von Löwendjoul. Und mein Großvater war Balzacs intimer Freund. Du weißt doch, wer Balzac war, Lös? Der große französische Dichter.« Er blickte starr in Lös' Gesicht. Patschuli machte sich bemerkbar. Er war die ganze Zeit mit dem Kopf auf seines Freundes Knien gelegen. Nun setzte er sich auf, meckerte höhnisch, stieß Lös in die Seite, als wolle er ihn einladen, mit in das Gelächter einzustimmen, fuhr dann Peschke mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Tu nicht so«, rief er Pierrard zu. Der schien ihn nicht zu sehen, denn er wartete auf Lös' Antwort. Da ließ Patschuli von ihm ab, rollte sich zusammen, drückte sich gegen seinen Freund und versank wieder in Schweigen.

»Warum bist du eigentlich in die Legion gekommen.« frug Lös, um einer Antwort zu entgehen.

»In die Legion bin ich vor zwei Jahren gekommen. Warum? Das ist eine lange Geschichte. Soll ich sie erzählen? Wenn ich nur sicher wäre, daß ich euch vertrauen darf. Dir schon, Lös, und auch Smith. Aber die andern?«

Zum erstenmal öffnete Peschke den Mund. Er übertrieb noch seine Berliner Aussprache: »Von wejen mia brauchst du keene Angst nich zu haben.« »Und ich bin schweigsam wie das Grab«, bestätigte Patschuli mit geschlossenen Augen und viel Schläfrigkeit in der Stimme.

»Ich bin ja zur selben Zeit wie du nach Bel-Abbés gekommen«, sagte Pierrard. »Aber, während du in die Unteroffiziersschule eingetreten bist, hab ich mich im Hintergrunde halten müssen. Denn, wenn man mich erkannt hätte, wäre ich ausgeliefert worden. Du weißt ja, wegen Diebstahls liefert die Legion nicht aus. Aber wegen Mord…« Pierrard ließ eine Pause eintreten und blickte Lös fest an. Der fühlte sich als Gastgeber verpflichtet, Aufmerksamkeit zu zeigen, und sah gespannt auf seines Kameraden Mund. Patschuli ließ ein hohes Kichern hören und spielte mit Peschkes Händen. Smith und Todd murmelten sich leise Bemerkungen zu, schenkten sich gegenseitig ein und stießen mit den Blechtassen an. Pierrard sprach aufgeregt weiter, mit weiten Bewegungen, als spiele er in einem Melodrama.

»Das Schloß unserer Familie liegt bei Ostende am Meer. Wir sind sehr reich und auch mit der ganzen internationalen Aristokratie bekannt. So kam es, daß ich vor dem Kriege oft zum Fürsten von Fürstenberg nach Deutschland eingeladen wurde. Und dort lernte ich meine Frau kennen. Während des Krieges wohnte meine Frau in unserem Familienschloß. Mit ihr waren dort auch englische Offiziere einquartiert. Sie selbst war eine Engländerin, eine Tochter des Lord, des Lord…« Pierrard zögerte kaum merklich, »des Lord Chesterfield«, stieß er heraus. Er machte eine Pause, trank aus der Flasche, räusperte sich. Es klang wie das Kratzen der Nadel auf einer Grammophonplatte vor Beginn eines Stückes.

»Ja, sie liebte die Engländer mehr als die Belgier. Nach dem Waffenstillstand kam ich heim. Die englischen Offiziere reisten ab, nur ein junger Hauptmann blieb noch. Er hatte sich bei meinem Vater eingeschmeichelt, und auch meine Frau schien ihn sehr zu schätzen. Sie spielte oft mit ihm Tennis und Golf.«

»Und wie hieß dieser Hauptmann?« krächzte eine Stimme aus dem Hintergrund. Todds Gesicht erschien im Licht, auffallend war eine Zahnlücke im gespaltenen Mund.

»Der Hauptmann hieß, wie hieß der Hauptmann doch?« Pierrard dehnte die Worte. Er klammerte sich mit seinen Blicken an Lös, als wisse dieser die Antwort. »Nun, er hatte einen englischen Namen, der mir entfallen ist.«

»Einen englischen Namen, wie sonderbar. Und war englischer Offizier«, zwitscherte Patschuli und gebrauchte seine Hand als Fächer.

»Nennen wir ihn Alscott«, sagte Pierrard.

»Ja, ja, Alscott, oder Doyle, oder Smith, wollen wir ihn nicht Smith nennen? Vielleicht war ich's, obwohl ich nie Hauptmann war«, prustete Smith los, fand seinen Witz so ausgezeichnet, daß er sich auf die Schenkel klatschte, Todd anstieß, zu Lös hinüberlangte, alles Einladungen, doch endlich mitzulachen und die Komik seines Ausspruches gebührend zu würdigen.

Doch auch dieser offensichtliche Hohn schien Pierrard nicht zu stören. Er wandte sich wieder ausschließlich an Lös, der sich an dem Grinsen der anderen nicht beteiligt hatte.

Dieser Hauptmann blieb also ein paar Monate auf unserem Schloß. Dann fuhr er fort. Nach England zurück. Meine Frau schien ihn nicht zu vermissen, sie sprach nie von ihm. Doch dann, ein Jahr war vielleicht vergangen, begann sie kleine Reisen zu unternehmen. Sie blieb nie länger als eine Woche fort. Sie erzählte mir, sie fahre zu ihrem Vater nach England, und ich erhielt auch immer Briefe von dort. Dann erzählte mir ein Fliegeroffizier, Vonzugarten hieß er« (Pierrard stieß den Namen stolz heraus, so als wolle er sagen: Seht ihr, wie gut ich mich erinnern kann), »daß er meine Frau so oft in Brüssel sehe. ›In Brüssel?‹ frage ich. ›Das ist doch nicht möglich. Ich bekomme doch immer Briefe aus Middlesex, wo Lord Chesterfield sein Landgut hat.‹ ›Ja‹, sagt Vonzugarten, ›das kann schon sein, aber ich habe sie in Brüssel getroffen, in Begleitung eines jungen Engländers. Übrigens wohnt sie immer im Splendid‹. Da bin ich hingefahren. Ich hatte so eine kleine Walterpistole, die man bequem in der Westentasche tragen kann. Sehr praktisch, sag ich euch. Man greift mit zwei Fingern in die Tasche, so, als wolle man sein Zigarettenetui herausholen. Ich bin also einmal am Morgen ins Splendid gegangen. Die beiden liegen noch im Bett, wie ich ins Zimmer trete. Und dann hab' ich sie einfach erschossen. Die Pistole hat wenig Lärm gemacht. Ich hab' noch ohne Aufsehen das Hotel verlassen können. Dann hab' ich mich in Lille anwerben lassen. Ja, in Lille. Viel gesoffen hab' ich dort und die Kameraden alle freigehalten.« Pierrard schwieg, als sei eine Feder plötzlich abgelaufen. Wieder floß der dicke Wein in die Blechtasse. Pierrard trank. Dann sog er noch gierig die Tropfen von seinem Schnurrbart, damit nichts von der kostbaren Flüssigkeit verloren gehe.

»Als ich im Ballett der Berliner Oper tanzte, im Tannhäuser, kam nach der Vorstellung immer ein Baron von Löwendjoul in meine Garderobe und machte mir Anträge. War das ein Verwandter von dir?«

Pierrard schaute mißtrauisch auf, ob der andere sich über ihn lustig mache. Aber Patschuli sah ganz ernst drein. Er stützte das Kinn auf den Handrücken, spreizte geziert den kleinen Finger und zog die Lippen zu einem kleinen dunklen Kreis zusammen.

»Ja, ich habe wohl einen Vetter, der solch unnatürlichen Neigungen frönt«, sagte Pierrard und sein Gesicht verzog sich, der Oberkörper straffte sich. Hochmütige Verachtung strahlte von ihm aus. »Ich weiß, es ist in der Legion eine alltägliche Sache, niemand regt sich mehr darüber auf. Aber mir ist sie widerlich.«

Patschuli ließ seine Blicke erst über die Gesichter der Anwesenden streifen, wohl um der Stellungnahme der anderen sicher zu sein. Die Gleichgültigkeit, die er fand, gab ihm Mut, und er ließ ein helles Lachen los, das fast natürlich klang: wohl die Frucht langer Übung. So ansteckend war dieses Lachen, daß auch die Münder der übrigen sich strafften und sie ihre Lustigkeit durch lautes Schnaufen kundgaben.

»Ha, du findest wohl, ein Doppelmord sei anständiger? Wie? Oder hast du alles nur erfunden, um uns zu imponieren?« Patschuli ging zum Angriff über. Doch Peschke war wachsam. Er fühlte sich für die Aufführung seines Freundes verantwortlich.

»Kusch«, sagte er trocken. Patschuli zog ein Mäulchen, rollte sich zusammen und schwieg einen Augenblick. Dann begann er wieder mit sanfter singender Stimme:

»Als ich beim Theater war, waren die feinsten Lebemänner meine Freunde. Ein großer englischer Dichter, Oskar Wilde hieß er«, Patschuli sprach den Namen deutsch aus, »war mein Freund. Er brachte mir immer gelbe Orchideen mit.«

Lös lachte laut.

»Der ist doch schon lange tot, Patschuli.«

»Dann war es sein Sohn.« Patschuli streckte die Hand anklagend gegen seinen Unterbrecher aus. »Es kann auch sein, daß ich den Namen verwechselt habe. Aber es war ganz bestimmt ein großer englischer Dichter. Denn er hat mir ein Buch geschenkt. Mit wunderschönen Illustrationen und einer Widmung, die ich nicht recht verstanden habe: meinem kleinen Phaethon.«

»Phaidon, Phaidon«, lachte Lös dazwischen.

»Und Phaethon ist ein Wagen«, sagte Todd aus seiner Ecke.

»Natürlich« bestätigte Pierrard, verschränkte die Arme über der Brust und fühlte sich gerächt.

»Darauf kommt's doch nicht an«, plapperte Patschuli weiter. »Auf alle Fälle war die Frau des Dichters schwer eifersüchtig auf mich. Das glaubt ihr mir nicht?« Mitleidiges Achselzucken. »Solche Leute sind doch gewöhnlich verheiratet, und Kinder haben sie auch.«

Patschuli unterbrach sich. Eine Hand preßte seinen Nacken zusammen und Peschke fauchte – »Halt jetzt dein Maul, blamierst dich nur. Bist doch nie aus dem Tingeltangel rausgekommen.«

Aber Patschuli riß sich los. Mit hoher keifender Altweiberstimme überschüttete er seinen Freund mit ausgesuchten Schimpfworten.

Peschke blieb ruhig. Er haschte nach der flatternden Hand, bog sie gegen den Ellbogen, immer weiter, bis der andere leise wimmernd schwieg.

»Na, ich will mal was Interessantes erzählen«, er ließ Patschulis Hand los, lehnte sich zurück und stützte sich auf beide Hände, »Nach dem Krieg war das ja eine tolle Sache. Zuerst war ich mit Hasenclever im Rheinland, dann hab' ich den Putsch in München mitgemacht. Wißt ihr, 's war praktisch. Mal bei den Roten, dann beim Freikorps. Wo's eben was zu verdienen gab. Na, in München bin ich dann mit dem Koffer von 'nem Ententeoffizier abgeschoben. Die Kluft, die drin war, paßte mir tadellos. Piekfein hab' ich ausgesehen, wie ich in Berlin angekommen bin. Und Moneten hatt' ich auch. Einmal seh' ich da auf der Straße n' Mädel. Ich steig' ihr nach, sie merkt es und läßt mich rankommen. Hakt bei mir ein und führt mich in ihre Wohnung. Stellt mich dem Papa vor. War 'n Graf von Schweiditz, schwerreich, Rittergutsbesitzer. Na, der Papa sagt, wenn ich dem Mädel gefalle, soll ich nur dableiben. Schöne Nächte hab' ich mit dem Mädel gehabt. Ein Badezimmer hatte sie und Kleider!«

Er schwieg und spuckte. Ein Streichholz, das er anrieb, beleuchtete sein knochiges Gesicht und die groben knochigen Hände mit den abgenagten Nägeln. Er zog den Rauch des ersten Zuges tief in die Lungen, bevor er den anderen die Zigaretten anbot.

»Wenn man nur Koks hätte«, seufzte er.

»Oh, Koks, ja ja. Damit hab' ich einen Haufen Geld verdient.« Smith rückte vor. Seine Hände griffen mit gekrümmten Fingern in die Luft, als wolle er etwas an sich heranreißen. Ängstlich blickte er in die Runde: ob jemand ihm das Recht zu erzählen streitig machen wolle. »Ich kannte viele elegante Französinnen, Tänzerinnen aus den Music-Halls, aber ich hatte nie genug Geld, um ihnen richtig imponieren zu können.« Smith übertrieb seinen englische Akzent, wie Peschke sein Berlinerisch übertrieben hatte; diese Übertreibung war ganz natürlich. Es war ein Mittel, sich von der Masse der anderen zu unterscheiden, sich eine Persönlichkeit zuzulegen. Und wie einen Preis, wie eine Auszeichnung fast erhielt derjenige, der am besten die Redeweise, die Art eines Landes, einer Stadt zu verkörpern schien, den Namen dieses Landes, dieser Stadt. Ein Ziel war erreicht, und kein kleines, wenn man einmal ›der Berliner‹, ›der Wiener‹ oder gar ›der Engländer‹ war. Und Smith wollte schier bersten vor Stolz, als er erfuhr, daß er in der Kompagnie nicht mehr ›der Schneider‹, sondern ›der Engländer‹ hieß. Schwer war es nicht gewesen. Er war der einzige, der in Großbritannien gelebt hatte und der singen konnte: »O yes, we have no bananas, we have no bananas to-day.«

»Immer ist es so, die Weiber, sie machen sich über mich lustig, weil ich kein Geld habe. Aber an einem Abend habe ich einen Chinesen getroffen in the docks. Ich war gerade traurig und hatte nichts zu tun. Auch kein Geld. Ich ging am Wasserfluß auf und ab, und jedesmal, wenn ich umkehrte, kehrt sich auch der Chinese und kommt mir entgegen. Endlich frage ich ihn, ob er etwas von mir will. O yes, sagt er, und ob ich nicht will viel Geld verdienen. Er habe mich oft mit schönen Frauen gesehen, und er habe da eine Ware, die von diesen Frauen sehr geschätzt werde. Ob ich nicht mit ihm kommen wolle? – Ich ging mit. Es konnte mir ja nichts geschehen, Geld hatte ich keines. Aber ich war doch vorsichtig und zeigte dem Tschainamann, dem Chinesen, mein leeres Portemonnaie. Er lachte nur. Dann kamen wir in einen kleinen Room, und da zeigt er mir winzige Pakete, mit einem weißen Pulver drinnen. ›Snow‹, sagte er. Das heißt Schnee. Und erklärt mir, das sei Kokain, und ob ich nicht den Vermittler spielen wolle. Die Französinnen besonders seien ganz scharf auf dies Pulver. ›O ja‹ sage ich, ›Ich will es schon gern versuchen.‹ Und wieviel ich dabei verdienen könne? Nun sagt der Chinese, er verkauft mir das Gran für ein halbes Pfund, und ich könne ruhig ein ganzes dafür verlangen.« Ganz mitleidig wendete sich Smith an seine Zuhörer, um ihnen zu erklären, daß ein Pfund, er sagte ›a pound‹, etwa zweihundert Franken seien. Ein schönes Geld. Hier wurde er unterbrochen. Mit wütendem Kläffen fuhr Türk, der in einer Ecke verdaut hatte, auf eine helle schlanke Gestalt los, die mit wippenden Schritten über den Hof kam.

»Korporal Lös«, sagte Sergeant Sitnikoff von weitem; es wirkte wie Rufen durch die übertrieben deutliche Aussprache. »Wollen Sie einen Augenblick kommen.«

Lös erhob sich, die beiden begrüßten sich mit sehr korrekten Verbeugungen. Er komme nur fragen, ob er auch ein Glas Wein verlangen dürfe, er wolle durchaus nicht stören. Den spitzen Kopf weit vorgebeugt, mit verkniffenen Augen versuchte Sitnikoff die Anwesenden zu erkennen. Er rümpfte die Nase, als er Peschke und Patschuli erkannte. Doch auf die Versicherung Lös', die beiden würden bald verschwinden, geruhte er näherzutreten, begrüßte Smith und Pierrard mit Herablassung, schien die ausgestreckten Hände des Paares zu übersehen, ließ sich den Todd vorstellen und schüttelte diesem herzlich und lange die Hand. Dann tätschelte er Türk, der sich nicht recht beruhigen wollte und mißtrauisch die parfümierte Luft beschnupperte, die den Sergeanten umgab.

»Bitte, Korporal Smith, ich möchte Sie nicht unterbrechen.« Ein Schlenkern der schmalen Hand, die automatisch an ihren gewohnten Platz zurückkehrte, unters Kinn, um dort den Kopf zu stützen. Sergeant Sitnikoff war nur noch Aufmerksamkeit.

»Ja, von da an ist mir's gut gegangen. Die kleinen Französinnen machten alles, was ich wollte. Es sprach sich natürlich herum, daß ich ›Snow‹ hatte, und alle wollten von mir. Jeder Wunsch war sogleich erfüllt. Freibillette mit Champagnerdiners und Nächte mit den Frauen. Schöne Frauen waren es, ich sage euch.« Smiths dicke Unterlippe war mit Speichel überschwemmt, den er mit zischendem Geräusch immer wieder in den Mund sog. Sitnikoff nickte achtungsvoll, Patschuli gähnte laut, es klang wie der Liebesruf einer Katze, Peschke schnalzte verächtlich. Pierrard blinzelte dem Mond zu, der diese Familiarität einfach ignorierte.

»Hin und wieder hab ich das Zeug auch selbst probiert. Einmal hatte ich ziemlich genommen und ging hernach in ein sehr nobles Restaurant«, Smith schien plötzlich seinen englischen Akzent vergessen zu haben, aber er verbesserte sich sofort »in ein sehr distinguished Hotel…« (mit der Betonung auf der ersten Silbe). »Da sehe ich an einem Tisch nahe mich, eine Lady, die mich fixiert. Sie hat wohl meine glänzenden Augen bemerkt und daß ich keinen rechten Appetit habe. Sie steht auf und winkt mir, mitzukommen. Zwei Pfund hat sie mir für ein Gram geboten. Aber ich sage: ›No, my Lady, ich wünsche eine Nacht von Ihnen.‹ Ihr versteht, es hat mich gereizt. Ich, der arme Schneider und eine große, reiche Lady. Endlich war sie einverstanden. Alles machte sie, nur um eine Prise. Eine Lady.« Gedankenvoll und wie über seine Wichtigkeit erstaunt, ließ Smith seinen Kugelschädel hin und her rollen.

»Und dann?« fragte Lös und heuchelte Spannung. Es war ihm darum zu tun, die unangenehme Pause zu zerbrechen. Er schämte sich vor Sitnikoff und Todd: da diese beiden ihn nach seinen Bekanntschaften beurteilen könnten. »Und dann?« fragte er noch einmal, da Smith noch immer schwieg.

»Dann bin ich verhaftet worden. Das Geld, das ich bei mir hatte, langte gerade für die Kaution. Ich bin später entlassen worden, aber die Lady hatte Angst, ich könnte Erpressungen versuchen. Vielleicht habe ich es auch einmal versucht. Ich weiß es nicht mehr genau. Sie hat sich hinter meinen Vater gesteckt. Der hat mich gezwungen, ins Ausland zu gehen, um dem Prozeß zu entgehen. Zehn Pfund hat er mir gegeben. Die waren aber bald verbraucht in Paris. Dann bin ich ins Rekrutierungsbüro gegangen. Ja.«

Alles schwieg. Aber die Stille war nur kurz. Todd durchbrach sie plötzlich mit gedämpfter Trompetenstimme.

»Als ich bei Lettow-Vorbeck als Oberleutnant diente, habe ich in Wiesbaden beim Bac 30000 Emm vaspielt. Graf Esterhazy ist eigentlich mein Name.« Er sprach wie ein Schmierenschauspieler, der in einem Lustspiel einen vertrottelten Grafen zu mimen hat. Und sprach und sprach, ohne Pause, den Blick starr auf einen kleinen Kiesel zu seinen Füßen gerichtet.

»Geh hör jetzt auf, das schickt sich nicht«, tönte eine Stimme aus dem Schatten des Daches. Der alte Kainz trat hervor. »Du mußt die andern net so frozzeln. Und dann beleidigst du unsern Korporal.« Er trat dicht an Lös heran, strich ihm über die Schultern, Entschuldigung heischend, so als fühle er sich verantwortlich für den Kameraden, den er eingeführt hatte.

Verlegen schüttelte Lös die Hand ab. Der alte Kainz setzte sich und stellte eine Flasche vor sich hin. »Schnaps« sagte er und schenkte die Tassen halb voll. Alle tranken.

Pierrard hatte sich auf den linken Ellbogen gestützt und die Hände über der Brust gefaltet. So blickte er in die Sterne. Die struppigen Haare fielen ihm in die Stirn und schimmerten weiß. Er sah stark und unnahbar aus, wie ein betrunkener Soldatenkaiser, mit fallender Unterlippe und kantigem Kinn, Smith dagegen trank in hastigen kleinen Schlucken und sah aus wie ein überernährtes dreijähriges Kind. Schweißtropfen schimmerten auf seinem Nasensattel und zitterten an seinen Brauen.

Peschke soff. Den letzten Schluck ließ er stets in der Tasse, um ihn dann in weitem Schwung auf die Erde zu schütten. Ein Opfer vielleicht für die Namenlosen, die längst vergessenen, von denen ein schlummernder Teil in ihm noch träumte.

Zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt Sergeant Sitnikoff die Tasse, nicht am Henkel, nein, so als habe die Tasse einen schlanken Hals wie ein Likörglas. Und er schloß die Augen, während er das Trinkgefäß ruckweise kippte.

Todd war in seine frühere Teilnahmslosigkeit zurückgesunken. Die gefüllte Tasse stand vor ihm. Er hatte die Hände rechts und links flach auf den Boden gelegt. Ein grober Bleiring glänzte an einem Zeigefinger.

Um zu trinken, hatte sich Patschuli weit nach hinten gelehnt. Mit prallen Lippen hatte er sich am Blechrand der Tasse festgesaugt und dann mit der Zunge noch den Boden ausgeleckt. Er richtete sich nicht mehr auf, sondern blieb mit dem Kopf auf Lös' Knien liegen.

Das Gewicht dieses Kopfes auf seinen Knien erregte Lös. Und die Wärme des fremden Körpers riß Sprünge in seine Einsamkeit. Er hob die Hand und streichelte die kurzen Haare Patschulis. Diese Berührung, die wie ein Besitzergreifen war, hob aus der Tiefe ein vergessenes Erlebnis.

Er sah das Knabeninternat, in dem er als Fünfzehnjähriger gewesen war, das Zimmer, das er damals bewohnt hatte, den Freund, der jünger war als er, und der ein weiches, rundes Gesicht gehabt hatte und weiche Haare. An einem Abend nach dem Lichterlöschen war er in das Zimmer des Freundes geschlichen. Da war die Türe plötzlich aufgerissen worden: der Direktor war es gewesen, der hatte ihn in sein Zimmer zurückgetrieben. Am nächsten Tage hatte er Selbstmord begehen wollen mit Chloroform, das er aus dem Laboratorium gestohlen hatte. Aber es war ihm nur übel geworden, und er hatte sich übergeben müssen. Die Übelkeit von damals war mit einem Schlage wieder da. Verworren dachte er noch: Warum erzählen wir uns nicht solche Geschichten, die wahr sind, statt uns anzulügen und uns wichtig zu machen. Da riß er die Augen auf und sah:

Peschke stützte sich auf, blieb dann einen Augenblick mit dem rechten Knie am Boden kleben, die Fäuste aufgestemmt wie ein Schnelläufer am Start. Dann stürzte er vor, packte Patschuli an einem Ohr und riß ihn in die Höhe. Patschuli kreischte schrill. Da ließ der andere das Ohr los, schnallte mit einem Ruck den Ledergurt ab und trieb den Schreienden mit klatschenden Schlägen zum Tor hinaus.

Ein Fenster im Turm an der Ecke ging auf. Die Zurückgebliebenen, die sich bis zur Mitte des Hofes vorgeschlichen hatten, sahen eine behaarte Brust, der Kopf des Capitaines blieb unsichtbar im Schatten des Daches. Und aus dem Schatten des Daches tönte eine klagende Stimme.

»Ruhe dort unten, ich will schlafen.«

Die klatschenden Schläge hörten auf. Lös sah die beiden Laufenden sich erreichen und in der finsteren Türe einer Baracke verschwinden.

Todd summte: »Das ist die Liebe, die dumme Liebe.« Aber Lös winkte ab, und Todd nagte an der Haut seines Handrückens, als schäme er sich seiner Gedankenlosigkeit.

»Oh, pfui näin, wie gemäin!« sagte der Sergeant Sitnikoff erregt in einem sonderbar gefrorenen baltischen Dialekt. Er seufzte laut und machte den Vorschlag, noch ein wenig beisammen zu bleiben, da doch die störenden Elemente sich nun entfernt hätten.

Die andern waren einverstanden und lagerten sich wieder im Kreise. Kainz wurde gebeten, einen starken Kaffee zu kochen. Er kam bald mit einer großen Blechkasserolle zurück, in der er die Körner mit dem Kolben des Karabiners zermalmte.

»Wirklich, sehr interessant, was Sie uns soeben erzählten, Korporal«, Sergeant Sitnikoff haßte das familiäre ›Du‹, der Gebrauch des ›Sie‹ war ihm unentbehrlich, er überhörte geflissentlich jede familiäre Anrede und zwang dadurch auch die abgebrühtesten alten Legionäre, ihm mit Höflichkeit zu begegnen. Hinter seinem Rücken machten sie sich über seine Pose, wie sie es nannten, lustig; doch wenn sie mit ihm sprachen, schienen sie selbst erfreut zu sein, sich dieser Höflichkeit unterwerfen zu können.

»Denken Sie sich, mir sind auch sonderbare Dinge passiert. Ich war doch Rechtsanwalt in Odessa, als die Bolschewiken eindrangen. Im Pyjama und Schlafrock war ich nur über die Gasse gegangen, um mich rasieren zu lassen, richtiger um die Straßenecke. Und als ich zurückkam, war die ganze Häuserreihe schon besetzt. Was blieb mir übrig? Ich ging an den Hafen. Dort stand eine französische Besatzungstruppe, bereit zum Einschiffen. Bei ihr ein Trüpplein Russen, das sich für die Legion verpflichtet hatte. Ob ich nicht mitkommen dürfe, fragte ich den Sergeanten. Nein, die Listen seien abgeschlossen. Da erinnerte sich ein Korporal, daß ein Schreiner namens Sitnikoff, der sich auch verpflichtet hatte, im letzten Augenblick nicht erschienen sei. Ob ich für ihn einspringen wolle. Ich sagte ja. Wo sollte ich auch hin, ohne Geld, in Pyjama und Schlafrock? So kam ich also zu dem Namen Sitnikoff.«

Smith gähnte laut, Pierrard stimmte ein. Die beiden verabschiedeten sich. Die Zurückbleibenden saßen still beisammen, bis einige Wolkenschwämme auch die letzten weißen Kreidetupfen der Sterne von der Schiefertafel des Himmels gelöscht hatten, die zurückblieb, weiß verschmiert.


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