Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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12. Kapitel

Inventar

Das ›Krankenzimmer‹ besteht aus zwei Räumen und liegt in der Baracke der Mitrailleusensektion. Im vorderen Raum steht ein Bett, an der Wand hängt ein kleiner Schrank, der die Medikamente enthält. Ein Stuhl, ein Tisch ergänzen die Einrichtung. Im anstoßenden Zimmer aber stehen vier richtige Betten, der Türe gerade gegenüber; meist sind sie leer. Schwerkranke werden ins Lazarett nach Rich transportiert, und die leicht Erkrankten ruhen sich in den Baracken aus.

Koribout hat Lös in den ersten Raum auf das Bett des Krankenwärters legen lassen. Der Ärmel des blutigen Hemdes ist bis zur Schulter zurückgeschlagen, im Ellbogengelenk klafft eine lange Schnittwunde, deren Ränder mit einer schmutzigen Kruste überdeckt sind. Der Krankenwärter, jenes blonde, sommersprossige Männlein, dem der spitzgedrehte Schnurrbart aus den Nasenlöchern zu wachsen scheint, ist dabei, die Wunde auszuwaschen. Der Schmerz läßt Lös die Augen aufschlagen, das merkt der Krankenwärter: »Mein armer Alter«, sagt er, »was machst du für Geschichten!« Es ist die in solchen Fällen gebräuchliche Bemerkung, darum nickt Lös nur. »Und womit hast du das gemacht? Du mußt ja bös herumgesäbelt haben!« –

»Mit einem Stück Blech«, antwortet Lös leise und kehrt den Kopf der Wand zu.

Da wird die Türe aufgerissen, das Gesumm von draußen, das nur ganz leise hörbar war, fährt wie ein lauter Schrei ins stille Zimmer, verstummt aber, sobald die Türe geschlossen ist. Bergeret dehnt sich, gähnt laut. »Laßt uns einmal sehen«, sagt er und beugt sich über die Wunde. »Aber, aber, wie dumm! Sie haben ja gar keine Arterie getroffen. Sie hätten ja niemals verbluten können!«

Er lacht leise, und Lös schämt sich, aber der Major läßt ihm keine Zeit, irgend etwas zu erwidern und fährt schnell fort: »Ja, so eine Nacht in der dunklen Zelle ist sicher nicht angenehm. Da kann man schon auf dumme Gedanken kommen. Und eine Dummheit war es, das müssen Sie schon zugeben, Korporal. Hat er eigentlich viel Blut verloren?« fragt er den Krankenwärter. »Ja, der Boden war voll, hat der andere Korporal erzählt, der ihn hergebracht hat. Und der Hund soll auch noch viel aufgeleckt haben.« Bergeret pinselt die Wunde mit Jod aus und heftet dann die Lippen mit drei glänzenden Klammern zusammen. »Eigentlich könnte ich Sie jetzt vor Kriegsgericht bringen«, bemerkt er lächelnd. »Selbstverstümmelung kann man das nämlich nennen, wenn man bösartig sein will; aber ich bin nicht bösartig«. Er nickt und sieht zum Fenster hinaus; Lös stellt erstaunt fest, wie jung der Major eigentlich aussieht. Seine Haut ist ganz glatt, nicht einmal in den Augenwinkeln zeigen sich Falten.

Eine aufgeregte Stimme läßt das Summen vor der Tür wieder verstummen. Lös kann die Worte verstehen: »Und ich sage Ihnen, Chef, ich will ihn nicht sehen. Mir derartige Unannehmlichkeiten zu bereiten! Der Mann muß ganz einfach verrückt sein.« Die Tür fliegt auf, Chabert dreht sich noch einmal um und schreit hinaus: »Was gibt es da zu gaffen? Ich will euch schon Arbeit verschaffen, wenn ihr keine habt! – Stehen da und glotzen!« Die letzten Worte richtet er an den Chef, dann schlägt er die Türe zu, daß der Kalk von der Decke rieselt. Der Chef lehnt sich gegen die Tür, blinzelt Lös zu und räuspert sich, um die Kehle für eine Äußerung zu klären. Aber der Capitaine kommt ihm zuvor. Wütend fährt er auf Lös los, aber seine Wut wirkt unecht.

»Sie brauchen mich nicht anzuschauen! Mit Ihnen bin ich fertig. Solche Komödien aufzuführen! Ist es schwer, Bergeret? Du schüttelst den Kopf, bist du zu faul zum Antworten? Also, du garantierst mir, daß er nicht stirbt? Kann man sich auch so etwas vorstellen! Mit was hast du das gemacht?« fährt er wieder auf Lös zu. »Du willst nicht antworten? Antworte sogleich, sonst ist es Insubordination. Jawohl.« Da Lös schweigt, tritt der Chef vor und hält dem Capitaine das geschärfte Blechstück unter die Nase. »Was? Mit dem? Na, na, mein Kleiner! Solche Dummheiten! Das hat doch weh getan?« Lös schüttelt den Kopf, weil er nicht sprechen kann, das Schluchzen sitzt ihm im Halse und seine Augen sind voll Wasser. Der Capitaine kämpft entschlossen gegen seine und der andern Rührung. »Aber die Untersuchung geht weiter, verstanden, Chef? Ich will die Klage sehen, bevor sie nach Fez abgeht. Gesund muß er werden, damit er seine Strafe abverdienen kann. Soll ich ihn nach Rich schicken, damit die Heilung nicht zu lange dauert? Nicht nötig, meinst du? Übrigens, Bergeret, machst du einen Rapport über diese Sache? Nicht? Kannst du denn nicht antworten? Besser keinen, ich finde auch. Sonst schnappt man den armen Kerl da noch wegen irgendeines blöden Paragraphen. Selbstmord ist nämlich in der Legion verboten, wird gleichgesetzt mit Diebstahl; denn du darfst über deinen Körper nicht frei disponieren, du hast ihn verkauft, weißt du das nicht? Und dann Bergeret, mach', daß du nach Rich kommst. Meine Verwundeten sind schon längst dort und brauchen dich, sind auch viel interessanter als dieser da, in ehrlichem Kampfe verwundet! Wenn es hier eine Infektion geben sollte, schicke ich dir den Korporal mit den nächsten Camions. Denn gesund muß er werden. Komm, Chef, wir gehen.«

Draußen ist es still geworden. Nur das Heulen eines Hundes ist zu hören. Lös fährt auf: »Das ist Türk. Warum quälen sie meinen Hund?« Der Major wird plötzlich streng und drückt Lös aufs Bett nieder. »Sie haben gehört, was der Capitaine gesagt hat. Sie sind noch immer Untersuchungsgefangener. Und der Hund gehört nicht Ihnen. Sie besitzen überhaupt nichts mehr. Destange, Sie machen ihm dann noch eine Einspritzung gegen Starrkrampf. Sie wissen doch wie? Und eine Pravazspritze ist auch vorhanden? Gut. Also, Sie sind verantwortlich für ihn. Wenn irgend etwas los ist, können Sie mir telephonieren. Nichts zu fragen?« Destange steht stramm, schüttelt den Kopf. Der Major führt zwei Finger zur Mütze: »Und geben Sie ihm gehörig zu trinken, Tee, Wasser. Nur keinen Wein. Ich glaube, er wird noch Fieber kriegen. Seine Augen gefallen mir nicht. Und dann hat er ein schlechtes Herz. Na, Lös, es wird schon wieder besser.« Der Major winkt mit der Hand.

»Jetzt wollen wir umziehen«, sagt Destange. »Kannst du gehen?« Lös nickt. Aber sobald er die Füße auf den Boden gesetzt hat und sich vom Bett abstößt, knicken die Knie ein, die Mauern scheinen ihm plötzlich schief zu stehen, sie drängen die Decke zusammen, die spitz wird, wie ein gotischer Bogen. »Na, na«, sagt Destange, packt den Kranken unter den Armen und schiebt ihn sanft vorwärts.

Die Kleidungsstücke, die Lös noch trägt, Hemd und Khakihose, sind steif vom geronnenen Blut. Sie hindern seine Bewegungen, während er die sechs Schritte macht, die ihn vom Bett im Nebenraume trennen. Endlich liegt er, Destange hat ihn fast ins Bett heben müssen, sonst wäre er von der Kante abgerutscht.

»Ich will sehen, daß ich andere Wäsche für dich bekommen kann und auch andere Hosen. Ausziehen kannst du dich nicht: Leintücher sind rar im Posten, das weißt du, und die Decken sind schmutzig, das siehst du ja. Hast du Durst? Ich will sehen, daß ich in der Küche ein wenig Tee kochen kann. Während der Zeit mußt du schön ruhig liegen bleiben.«

Destange trägt einen neuen Leinenanzug und dazu blaue Wadenbinden; auch die Policemütze ist von dieser zarten Farbe, die an den Frühlingshimmel über Paris erinnert.

Lös' Bett steht neben einem Fenster; ein feinmaschiges Drahtgitter bedeckt es. Draußen liegt still und glühend der kleine Hof. Die Sonne, von den Dächern noch verborgen, erhitzt aus dem Hinterhalt die Mauer, die dem Fenster gegenüberliegt. Schmerzhaft ist für die Augen das harte Blau des Himmels.

Aber wie gut ist es, die zähe Dämmerung der Zelle nicht mehr ertragen zu müssen, die schmale Ritze nicht mehr zu sehen zwischen den Brettern der verriegelten Tür. Lös legt die Fingerspitzen gegen das feinmaschige Drahtgitter; dort kühlt sie ein trockener Luftzug; dann betupft er vorsichtig die sauberen Stahlklammern der Wunde, weil sie so kalt scheinen: aber sie sind heiß.

Destange hat die Türe, die ins Freie führt, offen gelassen, und Lös kann von seinem Bett aus die Vorübergehenden sehen. Sie bleiben stehen, gucken neugierig auf den Liegenden, nicken wohl auch einen lächelnden Gruß. Lös winkt zurück mit der gesunden Hand. Jetzt geht Peschke vorbei, er wendet den Kopf nicht, der Korkhelm beschattet sein Gesicht, auf seiner Schläfe ist die Spitze seiner Apachenlocke, ein kleines schwarzes Dreieck. Ihm auf den Fersen folgt Patschuli, bleibt stehen, wirft eine Kußhand und steigt mit zögernden Schritten die beiden Stufen hinauf: er will ins Zimmer treten, da schlägt ein Zugwind die Türe zu. Aber Patschuli erscheint wieder am Fenster neben dem Bett, drückt seine Nase ans Drahtgitter, sein Gesicht ist so nahe, daß Lös zurückfährt, erschreckt von der Gier der weitaufgerissenen Augen. Patschuli möchte die Wunde sehen, er zappelt vor Neugierde, als verspreche der Anblick etwas ungeheuer Erregendes, steckt den Zeigefinger durch eine Masche und bettelt um die Erlaubnis, die Wunde betasten zu dürfen. Von Zeit zu Zeit ruckt er mit dem Kopf, lugt argwöhnisch nach rechts und nach links, als fürchte er eine unliebsame Überraschung. Dann läuft er plötzlich davon, ohne Gruß.

Wieder ist Lös allein. Die Tür zum Vorderzimmer ist geschlossen. Durch das Gitter des Fensters sickert die heiße Luft, wie dickflüssige Gelatine durch ein Sieb. Der Posten ist so still; schlafen denn alle? Die Fliegen üben unermüdlich ihre komplizierten Reigen und gönnen sich nur selten eine kurze Rast; den Betten entströmt ein muffiger Geruch, der an schmutzige Wäsche erinnert, die lange in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt worden ist. Lös schließt die Augen, weil das allzu neue Gesicht der Dinge ihn ermüdet.

Da bläst ein heftiger Atemzug über sein Gesicht. »He!«, sagt eine Stimme. Draußen steht, angetan mit einem neuen Khakihemd, Pierrard, der Belgier; zwei Finger der linken Hand tragen einen Verband. Er lächelt. »Wie geht's? Ich muß mit dir sprechen. Sie erzählen im Posten, du hättest Tag für Tag 30 Bidons Wein verschenkt. Ich weiß nicht, ob das wahr ist, übertrieben ist es ja sicher. Aber eines steht fest, mein Lieber, daß nämlich unglaublich viel fehlt. Über vierhundert Liter Wein, ein halbes Faß; außerdem hast du vergessen, die Fässer jeweils wieder zu schließen, so daß in dreien der Wein sauer geworden ist. Du verstehst… die Hitze. Das Schnapsfaß ist auch fast leer und sollte doch noch mindestens hundert Liter enthalten, dazu fehlt ein ganzer Sack Kaffee, eine Kiste Seife. Weißt du, wir machen die Sache so: Ich muß die Aufstellung machen, Mauriot hat Vertrauen zu mir, da schreib ich eben etwas mehr Fehlendes auf, damit ich nachher Spielraum habe. Dir ist's doch gleich, es geht ja alles im gleichen Aufwaschen. Da – sie haben dir doch sicher dein Geld abgenommen,« Pierrard schiebt unter dem Drahtnetz eine Zwanzigfrankennote durch. »Ich hab' gestern gut einkassiert, beim Spaniolen und beim Adjutanten vom ›Bureau arabe‹ und bring's schon wieder ein, wenn eine Truppe durchzieht.« »Nimm dich in acht«, warnt Lös und versteckt das Geld unter dem schmierigen Kopfkissen, »das ist gefährlich mit dem einkassierten Geld. Wenn der Leutnant plötzlich Abrechnung verlangt, was machst du dann?« »Unbesorgt! Ich steh gut mit ihm. Aber mit dem Chef räume ich auf. Der soll nicht bei mir betteln und schön tun. Ich habe ihn heut morgen wieder fortgeschickt, als er Kaffee ohne Bon holen wollte.« Noch einmal warnt Lös: mit dem Chef müsse man sich gut stellen, das sei besser, er sei schlau und rachsüchtig und gelte viel beim Capitaine. Pierrard lacht nur, das Machtbewußtsein hat seinem Körper eine majestätische Starrheit gegeben. Er will es gern mit dem Chef aufnehmen, mit dem Leutnant im Rücken und dem Capitaine als freundlich schirmende Gottheit. »Und wenn du Wein willst, sag's nur. Weißt du, ich lasse keinen fallen, der einmal mein Freund gewesen ist.« Mit diesem Ausspruch verabschiedet sich Pierrard.

Lös bleibt grübelnd zurück. Hätte er eindringlicher warnen sollen? Er erinnert sich der ersten Zeit in der Administration. Auch damals waren sie alle freundlich zu ihm gewesen.

Wie langsam dieser Morgen vergeht!

Destange kommt zurück. Er hat sich Mühe gegeben: der Tee ist stark, er hat den Saft einer Zitrone darunter gemischt. Und dann bringt er das Mittagessen: Schaffleisch in dünner Sauce, sehr zäh (die Gabel will gar nicht eindringen) und Linsen.

Mit der Übelkeit, die in Lös aufsteigt, macht sich die Erinnerung an einen Augenblick der verflossenen Nacht breit: das Blut hat aufgehört zu fließen, die Venen haben sich von selbst geschlossen, der Tod will nicht kommen, nicht einmal eine Ohnmacht stellt sich ein, er fühlt sich verpflichtet, das Begonnene zu Ende zu führen, noch einmal zu sägen, endlich die Arterien zu treffen, deren Pochen er deutlich spürt, wenn er den Finger in die Wunde legt. Nur eine dünne Schicht kann sie von der Oberfläche trennen, aber ihm fehlt die Kraft, diese dünne Schicht zu durchschneiden. Und diese mitleidlose Erkenntnis seiner eigenen Schwäche, die ihn überfallen hat, läßt ihn auch jetzt noch so laut aufstöhnen, daß Destange mitleidig fragt, was ihm denn fehle und ob er Schmerzen habe? Destanges Augen glotzen gierig.

Lös hat die Augen geschlossen, um den saugenden Blicken des andern zu entgehen. »Stell das Essen weg, mir wird ganz übel davon. Nur ein wenig Tee. Danke.«

Lös schläft ein. Wie er aufwacht, hat der Posten seine Stille abgeschüttelt. Die dünne Wand, die das Krankenzimmer vom Schlafsaal der Mitrailleusensektion trennt, läßt Gespräche nur als Lautbrei durch; in seiner Unverständlichkeit wirkt er aufreizend – Lös ist überzeugt, daß drüben sein Fall verhandelt wird; er legt das Ohr an die Wand, um besser lauschen zu können. Einige Worte nehmen Form an: »Gewehr«, »Feigheit«, »Gums«, »Schilasky«, »der Alte«. – Sie sprechen nur vom Kampf.

Destange bringt das Nachtessen. Der Teekessel ist leer. Lös kann sich nicht besinnen, wann er ihn ausgetrunken hat. »Ich werde frischen machen«, verspricht Destange und räumt auch das schmutzige Geschirr vom Mittag fort. »Nichts gegessen? Du mußt essen, sonst wirst du nie die Kraft einholen, die du verloren hast.«

»Willst du mir nicht ein paar Eier bringen?« unterbricht ihn Lös, der vergebens versucht, die Wiederholung des Mittagessens zu essen: Suppe, in Wasser gekochtes Schaffleisch und klebriger Reis. »Im Dorf kannst du welche finden. Geld habe ich auch.«

Destange zieht ein dummes Gesicht. »Geld?« Er spuckt in die Handflächen und reibt sie an seinen Hosen ab, ein symbolisches Händesäubern. »Übrigens, was geht's mich an? Ich bin verantwortlich für dich; aber der Major hat nichts davon gesagt, daß du kein Geld haben darfst. Wieviel Eier willst du?« »Soviel du auftreiben kannst. Sie langen dann für ein paar Tage.«

»Gut!« Destange nickt, er müsse dem Capitaine Materne noch Borwasser bringen, weil dieser über Augenschmerzen geklagt habe. Eine gute Ausrede! Ein Spirituskocher sei auch vorhanden. Sonst brauche Lös nichts?

– Nein. – Übrigens sei Bergeret diesen Morgen fortgeritten; vorher habe er gesagt, Lös solle sich beruhigen. Der Capitaine sei ein guter Mann, aber seine Aufregung müsse sich zuerst legen. In ein paar Wochen werde die ganze Geschichte vergessen sein, und vom Kriegsgericht sei dann nicht mehr die Rede.

Oh, tröstlich ist die Dunkelheit im hohen Krankenzimmer, kein zähes Pech mit heller Dämmerungslinie. Nicht abgeschlossen ist man vom Leben, wieder aufgenommen ist man von einer Gemeinschaft; dies gibt Sicherheit und Ruhe. Drüben singen sie:

»Ja, das war die böse Schwiegerma-ma-ma,
Schwiegerma-ma-ma, Schwiegerma-ma-ma.
Eine Triko-Triko-Trikotaille hat se an
Das Luder,
Stiefel ohne Sohlen
Und kein Absatz dran…
Und als der Müller nach Hause kam,
Vom Regen war er naß, ja war er naß…«

Lös summt leise mit. Nur dürftig vermag der Gesang durch die Mauer zu dringen und flattert dann im weiten Zimmer umher und in dessen großer Leere. Aber das Lied gibt die Sicherheit menschlicher Nähe: nur zu rufen braucht Lös, und sogleich wären sie da, die Kameraden von nebenan; langsam versinkt die Erinnerung an die beiden letzten Nächte.

Aber plötzlich erhebt sich drüben ein Brüllen, das anschwillt. Vergebens ruft Sitnikoffs Stimme: »Ruhe«, das Geheul überschlägt sich, wird dumpf und drohend; ein einzelner Schrei steigt auf, wie eine Blase aus dunklem Wasser – zerplatzt. Dann Schweigen und aufgeregtes Geflüster. Schritte eilen am Fenster vorbei, die Tür wird aufgerissen: »He, Krankenwärter!« ruft eine Stimme, keuchend und bedrückt von der Finsternis. »Er ist nicht hier«, sagt Lös laut. Die Schritte kommen näher, ein Zündholz flammt auf, ein Stuhl fällt um. »Sie haben einen Sergeanten niedergeschlagen«, sagt der Schatten. Lös erkennt im letzten Aufflammen des Streichholzes Koribout.

Wieder Schritte vor dem Fenster, schwere Schritte von Leuten, die eine Last tragen. Ein Körper wird auf das Bett neben Lös geworfen; die Träger drängen eilends wieder hinaus, als seien sie verfolgt. Koribout ordnet bedächtig die Glieder des Leblosen. »Wer ist es?« fragt Lös. In der Stille hat er versucht, die Atemzüge des Ohnmächtigen zu erlauschen. Sie sind unhörbar.

»Denken Sie, es ist Sitnikoff.« Koribout ist erlöst, weil er sprechen kann. »Er ist mein Freund und ich habe ihn gewarnt, er soll sich nicht mehr mischen in diese Angelegenheit. Er hat retten wollen eine junge Seele, ein sehr schönes Unternehmen, ich leugne es nicht, und gibt bestes Zeugnis für seine Menschlichkeit. Nur ist diese Menschlichkeit einfach unbrauchbar in der Legion. Ich habe es Sitnikoff oft gesagt. Wir sind hier, habe ich gesagt, um zu registrieren, nichts sonst, alles andere ist gefährlich. Denn unsere Argumente werden hier nicht verstanden, nur die Gewalt herrscht, die reine Gewalt, die Faust.« Das letzte Wort spricht Koribout mit deutlich getrenntem Diphthong. Er hat sich neben Sitnikoff aufs Bett gesetzt und spricht, über Lös hinweg, gegen das Viereck des Fensters. Der Bewußtlose scheint ihm weiter keine Sorge zu machen, wichtig ist jetzt einzig die Formung des Vorfalls.

Nun, Pausanker, die Ordonnanz des Sergeanten Farny, sei von Bergeret nur oberflächlich untersucht worden, wie die anderen, und sei gesund befunden worden. Sitnikoff aber habe darauf gedrängt, daß Pausanker sich noch einmal zur Visite melde, denn er sei angesteckt, und eine Verzögerung der Kur könne die Krankheit unheilbar machen. Aber von Farnys unheilvollem Einfluß bestimmt, habe Pausanker sich plötzlich geweigert, noch einmal zum Major zu gehen. Inzwischen sei Bergeret fortgeritten. Da habe Sitnikoff gedrängt, Pausanker solle zum Capitaine gehen und diesem beichten. Pausanker sei einverstanden gewesen.

Nun hätten wohl ein paar Alte aus der Sektion Farny die Überredungsversuche Sitnikoffs verraten. Farny habe wüste Drohungen ausgestoßen, sich aber nicht selbst an Sitnikoff gewagt. Farny habe darum Dunoyer, dem alten Guy und Stefan den ganzen Nachmittag zu trinken gezahlt und sie dann in die Mitrailleusensektion geschickt, um Pausanker dort zu holen. Die drei seien in die Baracke eingedrungen, Dunoyer habe Pausanker aufgefordert, sofort zu Farny zu kommen, denn dieser brauche seine Ordonnanz. »Ich fordere Sie auf, zu bleiben, Pausanker«, habe Sitnikoff sehr ruhig gesagt, ohne dem tätowierten Korporal zu antworten. Da habe Dunoyer ein Zeichen gegeben, seine beiden Genossen hätten Pausanker gepackt und ihn laufend fortgeschleppt, bevor die Sektion noch habe eingreifen können. Es habe nur eine Kerze gebrannt, die sei von Dunoyer gleich nach dem Raub ausgeblasen worden: Tumult. Gebrüll. Plötzlich habe Sitnikoff einen Schrei ausgestoßen.

»Ich habe mich ruhig verhalten, nur beobachtend, denn mich interessieren die Ausbrüche der menschlichen Leidenschaft gar sehr«, erklärt Koribout weiter; er spricht affektiert, weil er vom eigenen Wert überzeugt ist, »aber ich mußte doch sehen, wie die Massenszene sich entwickelte, denn dies kann später für mich von ungeheurem Nutzen sein, wenn ich etwa dazu berufen werde, einen Film zu schaffen. Sie verstehen mich? Auch ein rein literarisches Interesse war dabei. Darum zündete ich die Kerze wieder an. Sitnikoff lag am Boden, und seine Lippen waren blau. Da befahl ich den anderen, ihr Gebrüll einzustellen, und meine Landsleute sorgten für eine schnelle Ausführung meines Befehls. Wir trugen meinen Kameraden hierher – nun, nun, was meinen Sie, ist weiter zu tun?«

»Eine Kerze anzuzünden«, sagt Lös, möglichst trocken.

»Natürlich, Sie haben recht. Se-e-ehr.«

Koribout tappt ins andere Zimmer, tastet auf dem Tisch, kommt zurück. Die Kerze wird auf den metallenen Bettfuß geklebt, und deutet dann mit ihrem Flammenfinger nach den verschiedenen Winkeln des Zimmers, bevor sie zur Ruhe kommt.

»Sie müssen mir dann noch Ihre Erlebnisse erzählen, Korporal, Ihre Erlebnisse, die seelischen, die vorangegangen sind Ihrem Entschluß, zu sterben. Ich glaube, daß ich besitze Einfühlungsvermögen genug, um mich ganz zu denken hinein in Ihre Situation, und ein schönes Motiv wäre es, zu gestalten Ihre Verzweiflung, finden Sie nicht? Denn Sie müssen wissen, nicht nur ein lyrisches Talent habe ich, oh nein, ich habe schon geschrieben einen – wie sagen Sie? – psychologischen Entwicklungsroman, meine Entwicklung, ja, bis zu meine Engagement in die Legion, in Konstantinopel. Sitnikoff habe ich vorgelesen ein paar Kapitel, und er hat gesagt, er findet es bedeutend. Bedeutend!« wiederholt Koribout mit Nachdruck. Dann wendet er sich dem Ohnmächtigen zu und spricht auf ihn ein mit derselben leisen, von sich überzeugten Stimme.

»Nun, Freund, wache auf, lang genug hast du geschlafen. Du hast nicht hören wollen auf die guten Ratschläge, die ich dir habe gegeben. Schlage die Augen wieder auf, die Gefahr ist vorbei, aber du wirst trauern, weil die Rettung, die du versuchtest, mißglückt ist. Wache auf, sage ich dir, Freund!«

Sitnikoff rührt sich nicht. Zum Glück kommt Destange zurück, fragt nicht lange, legt das Ohr auf die Brust des Ohnmächtigen, nickt: »Nichts Schlimmes…«, holt bedachtsam ein Fläschchen, dessen Hals er unter die Nase Sitnikoffs hält. Der scharfe Geruch von Ammoniak kühlt die Schwüle des Zimmers. Sitnikoff öffnet die Augen, stößt heftig Luft aus und blickt zwinkernd um sich. »Wo ist Pausanker?« ist seine erste Frage. – »Bei seinem Verderber!« antwortet pathetisch Koribout. Sitnikoff regt sich auf: das hätte man verhindern sollen, mit Gewalt, warum die Leute seiner Sektion nicht eingeschritten seien? Koribout, mitleidig lächelnd, klärt ihn auf. Sie sprechen deutsch miteinander, damit Lös sie verstehen kann; Sitnikoff begrüßt ihn nachträglich mit einem Händedruck. Dann wird langatmig beraten, was zu tun sei. Sitnikoff will nicht, daß der Capitaine etwas von dem Vorfall erfahre. Man dürfe den alten Mann nicht unnötig aufregen. So wird beschlossen, nur von einem vorübergehenden Unwohlsein Sitnikoffs zu sprechen und die Sektion in diesem Sinne zu instruieren.

»Ihr hättet ruhig französisch sprechen können«, meint Destange, der sich beleidigt und ausgeschlossen fühlt. »Ich bin kein Blauer. Ich verrate nichts.« Koribout, den Mund höflich gerundet und mit den Knöcheln der Fäuste seinen Bart bügelnd, unternimmt es, den Krankenwärter zu versöhnen. Er ist unwiderstehlich. Umständlich wird Destange der Beschluß bekanntgegeben, nachdem man auch ihn in die Tragödie einer Menschenrettung eingeweiht hat. Er müsse verstehen, die Legion habe im allgemeinen zu schlechte Erfahrungen mit den Regulären gemacht, da schwinde eben das Vertrauen, aber Destange sehe aus wie ein guter Kamerad, er werde sich gewiß nicht in interne Angelegenheiten der Legion mischen? Destange kann nur den Kopf schütteln, so überwältigt ist er von diesem unerhörten Redeschwall. »Das sind mir ›Schädelstopfer‹, die sollten mir ins Parlament«, erklärte er, als die beiden das Zimmer verlassen haben. Dann sieht er lange in die Kerzenflamme, bläst sanft hinein, doch das behagt der Kerze nicht: sie weint weiße Tränen. »Die Eier«, erinnert sich Destange; er geht ins Nebenzimmer; bald summt das Wasser, Destange kommt mit einem Glas zurück, in dem die Dotter auf einer weißen Unterlage ruhen. Auch den Kessel hat er wieder mit Tee gefüllt, er läßt Lös daran riechen: Rum! »Und da hast du noch Chinin. Wenn du etwas brauchst, kannst du rufen.« Dann schließt er die Türe zum Nebenzimmer, beim Ausziehen pfeift er leise die Internationale, verstummt dann, das Bett kracht.

Lös versucht, sich auf verschiedene Weise die Zeit zu vertreiben. Das Chinin spart er auf, er leckt nur daran, um der Süßigkeit des Tees einen bittern Hintergrund zu geben. Sorglos fühlt er sich, wie ein Kind, das spielt. Dann ordnet er sein Bett, klopft das Kissen zurecht, streicht die Decke glatt, entschließt sich sogar, die Hosen auszuziehen: sie sind starr vom geronnenen Blut. Ein kühler Wind streicht durch das Netz. Nun ist der Sommer bald zu Ende, der Regen wird kommen, Schnee und Kälte, wo werde ich im Winter sein?

Die Kerze flackert; lange, lange starrt Lös in die Flamme. Sie ist wie ein Gefangener, der aufrecht steht, mit gefesselten Füßen, und den Oberkörper verzweifelt hin und her schleudert, um sich zu befreien. Aber die Befreiung naht: die Kerze ist zu Ende; erlöst versinkt die Flamme in der Dunkelheit. Nun kann die lange schlaflose Nacht beginnen, kein Licht wird mehr den Fluß der Gedanken hemmen.

»Halt!« murmelt Lös. »Jetzt nehmen wir die beiden Tabletten, die wir verschmäht haben. Dann wird das Chinin den Schweiß durch die Poren treiben. Gesagt, getan!« sagt er wichtig, »In den Mund mit den Ptisanen, sie sind bitter, das schadet nichts. Einen Schluck Tee darauf, und er schmeckt nach Rum… Hmhm…« Dann bleibt er liegen, murmelt uralte komische Gedichte: »Das Perlhuhn zählt eins, zwei, drei, vier, was zählt es denn das kluge Tier, dort unter den dunklen Erlen? Es zählt von Wissensdrang gelückt (was es sowohl als uns entzückt) die Anzahl seiner Perlen…« Mit offenen Augen folgt er den Sternen, die in der Dunkelheit tanzen. Endlich rührt vor seinen Augen der weiße Zauberer Chinin die Trommel, beruhigt schließt der Kranke die Augen, und der Wirbel ist sein Schlummerlied…


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