Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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4. Kapitel

Nacht und Schlaf

Der Mond legte kalte Kompressen auf die Wellblechdächer, und eine kurze Zeit nur hatte auch der Abendwind versucht, Kühle in die fiebernden Baracken zu blasen. Aber dann hatte er die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen eingesehen und war wieder eingeschlafen; die große Reise vom Meer über die roten Berge hatte ihn ermüdet. Und jetzt stöhnten die Schläfer unter der schweren Luft.

Zuerst versuchten sie verzweifelt, Verstecken mit der Wachheit zu spielen, die Augen zuzukneifen und sich einzureden, daß sie gleich wieder tief schlafen würden. Dann überkam sie die Wut, sie trommelten mit den Fäusten auf die Matratzen, um sich müde zu machen. Als dies alles nichts nützte, nur den Schweiß stärker aus allen Poren trieb, entschlossen sie sich, die Baracken zu verlassen und draußen zu schlafen. Es dauerte stets lange, bis dieser Entschluß zustande kam, denn nicht nur die Trägheit mußte überwunden werden, sondern eine tief eingewurzelte Überzeugung und eine schwer zu brechende Tradition: Nur auf Märschen schlief man unter freiem Himmel, im Posten war es Sitte, unter einem Dach zu schlafen. Das Dach, das den Himmel ausschaltete, und die Wände, die der Luft wehrten, das war etwas, was ihnen im Posten gebührte, was sie sich nicht ohne weiteres rauben ließen.

In der Mitrailleusensektion begann die Auswanderung, und es war Korporal Koribout, ein Neuer, der noch keine Tradition zu brechen hatte, der zuerst seine Matratze ins Freie schleppte. Ihm folgte Schilasky, ein Deutscher, dessen Körper so flach und hölzern war, daß er wie eine wandelnde Scheibenfigur wirkte. Auch Todd folgte ihnen. Sie waren dem gleichen Geschütz zugeteilt worden und verstanden sich auch sonst gut.

Die drei bildeten eine Gruppe, scharf getrennt von der Masse der übrigen, die ihre Matratzen dicht aneinanderreihten, um keinen Zwischenraum zwischen sich aufkommen zu lassen. Sie fürchteten das Alleinsein mehr als irgend etwas.

Sie sprachen wenig, ein Witzbold genügte in der Gruppe, um die notwendigen Worte zu sprechen und den Gedanken der Masse Ausdruck zu verleihen: über das Essen, den Dienst, die Kleider, die Löhnung, die Verdauung und die Weiber. Aber von der Hitze war der Sprecher der Gruppe, der Berliner Kraschinsky so erschöpft, daß er es nur zu Ausrufen brachte, wie: »Kinder… Nee… diese Hitze…« Sie waren alle nur mit Hemden bekleidet und ihre Beine wuchsen daraus hervor, leichenhaft gelb.

Korporal Koribout lag zwischen seinen beiden Kameraden. Er trug Unterhosen, und seine Füße glänzten fett. Sie waren vom letzten Marsch noch wund, und er hatte sie mit einer Speckschwarte eingerieben. Seine Mutter sei eine Deutsche gewesen, hatte er erzählt, und er liebe diese Sprache. Darum verkehre er weniger mit den Russen.

»Ich habe heute ein Gedicht gemacht«, flüsterte er, »in russischer Sprache, aber ich will versuchen, es euch zu übersetzen. Oder langweilt es euch?«

Die beiden anderen verneinten durch ein Brummen.

»Nun also«, sagte Koribout. Er setzte sich auf, zog unter seinem Kissen ein schwarzes Wachstuchheft hervor, blätterte lange, blieb manchmal an einer Seite hängen, fand endlich, was ersuchte und begann:

»Wie viele lange Tage sind wir vorbeigewandert
an trockenen Gräsern,
und haben das Bild gesucht der Frau, die mit uns
in einem kleinen Boot gefahren ist.
Blau war damals das Meer und lachte mit den
weißen Zähnen seiner Schaumkronen.
Seit dieser Zeit sind wir allein gewesen.
Nie mehr sehen wir die Frau, die ferne,
nur manchmal, in einem wachen Traum,
schreitet sie auf den Spitzen der verdorrten Gräser
und grüßt uns mit müder Hand.«

Er unterbrach sich. »Das ist nicht ganz richtig übersetzt«, er murmelte ein russisches Wort, sprach es gedehnt aus, so, als wolle er den Geschmack des Wortes finden, zog die Luft ein, wie um einen verwehten Duft einzufangen, schüttelte dann traurig den Kopf. »Ich finde es nicht«, flüsterte er. »Müde… es ist ein anderes Wort als müde! Traurig zugleich und hingegeben und doch gelangweilt. Es gibt kein solches Wort auf deutsch. Aber der Vers ist schön, nicht wahr?« Er wiederholte.

»Schreitet sie auf den Spitzen der verdorrten Gräser.«

Er schwieg. Die anderen blickten in die Sterne, und auch sie schwiegen. Sie wagten einander nicht anzusehen, und eine große Verlegenheit wuchs zwischen ihnen auf. Sie schämten sich für den Dichter und für das, was er ausgedrückt hatte, schämten sich, ohne zu wissen, warum, weil er Dinge ausgedrückt hatte, die vielleicht richtig waren, aber die doch verschwiegen werden müssen, weil sie ausgedrückt mit Worten doch zu einer Unehrlichkeit, zu einer Lüge werden. Nicht zu einer groben Aufschneiderei, die schließlich unterhaltsam ist und die Zeit vertreibt, sondern zu einer tieferen Lüge, die einem vorübergleitenden Gefühl plötzlich Ewigkeit schenkt und Dauer. Dies war es wohl, was Todd meinte, als er verärgert brummte:

»Du dichtest da etwas über eine Frau, meinst du eine bestimmte? Oder ist das nur so ein… ein… Traum?«

Koribout stieß die Luft leise durch die runden Nasenlöcher, die mitten im Gesicht zwei dunkle Kreise waren; denn seine Nase war nach oben gestülpt. Dann sprach er wie ein Lehrer, der einem unwissenden Kinde längst bekannte Tatsachen enthüllt, die es nur vergessen hat, sich zu merken:

»Natürlich habe ich diese Frau gekannt. Wie könnte ich sonst von der Erinnerung an sie so verfolgt werden, daß ich sie gestalten muß? Siehst du, ich habe bemerkt, daß wir hier viele sind, die von solchen Erinnerungen verfolgt werden. Tage, ja Wochen sind die Leute ruhig, und plötzlich werden sie traurig, wissen nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollen, laufen gereizt herum, bis endlich an einem Abend sich alles entlädt. Wie ein Abszess, der aufplatzt und viel schmutzigen Eiter enthält…«

Schilasky nickte gedankenvoll. Es schien, als hätte der andere ihm aus dem Herzen gesprochen.

»Es braucht ja nicht immer eine Frau zu sein«, sagte er leise, rollte sich auf den Bauch und stützte den Kopf in die zur Schale geschlossenen Hände.

Koribout wollte nicht hören, er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

»Die Frau, von der ich schreibe, ja, ich habe sie gut gekannt – und auch geliebt, wie sehr!« Er redete stockend und ein wenig ungeschickt, um den Worten mehr Gewicht zu geben. »Ihr wißt ja, daß wir nach Konstantinopel zurückgedrängt wurden. Und wir waren alle arm. Ich hatte ein wenig Schmuck von meiner Frau, aber meine Frau selbst war verloren gegangen. Vielleicht hat sie nach Deutschland fliehen können. Nun gut, zu unseren Kreisen gehörte auch ein Ehepaar; er war ein großer brutaler Kerl und quälte seine Frau, die zart und schlank war. Sie hatten kein Geld, und ich habe sie unterstützt mit dem wenigen, das ich hatte. Ich weiß gut, daß der Mann von seiner Frau verlangte, sie solle mir entgegenkommen. Und sie tat es auch, zuerst. Aber dann merkte sie, daß sie mich lieb gewann, und da wurde sie zurückhaltender. Oh, oft haben wir ein Boot genommen und sind aufs Meer hinausgefahren. Der Mann saß im gedeckten Hinterschiff, er hatte auch noch den Vorhang vorgezogen, um uns ganz ungestört zu lassen. Dort betrank er sich. Und wenn er dann allein mit seiner Frau war, später am Abend, schlug er sie, um sich zu rächen und um seine Eifersucht loszuwerden. Und dabei lebte er doch von dem Gelde, das ich der Frau gab. Es ist nie etwas zwischen uns vorgefallen, dafür liebte ich sie viel zu sehr.«

Koribout sah immer lächerlicher aus; sein Gesicht war den Sternen zugewandt, er sperrte die Augen weit auf und blähte die Nüstern, manchmal riß es ihm die gefalteten Hände auseinander, und dann versuchte er die Stellung eines Adoranten einzunehmen, was schlecht zu seinem sauber geteilten Bart und seinen fleischigen Wangen passen wollte. Auch seine Sprache wollte er edel gestalten, darum dehnte er die Silben in gekünsteltem Singsang.

Todd gähnte.

»Aber ihr müßt begreifen«, fuhr Koribout fort, »daß ich diese Frau nicht vergessen kann. Die Gemeinschaft unserer Seelen war zu tief, wir haben zu lange das Wachsen unserer Leidenschaft beobachtet, das bindet mehr, glaubt mir, als ein fleischliches Erlebnis.«

Koribout schwieg. Nach einer Pause, in der er mit gekrümmten Fingern in der Luft gegraben hatte, förderte er mühsam folgende Feststellung zutage:

»Aber manchmal überfällt mich die Erinnerung an sie, und dann weiß ich mir nicht zu helfen. Diese Frau kommt zu mir zu Besuch, ihre Nähe ist so leibhaftig und quälend, daß ich weinen könnte. Und um den Schmerz zu bannen, versuche ich ihn zu beschwören. Ein Gedicht ist eine Beschwörung, nichts weiter. Andere müssen nur erzählen, sie brauchen ihr Erlebnis nicht schön zu formen. Ich aber muß dies tun, dann wirkt es besser.«

»Es ist ganz richtig, was Koribout da sagt«, bemerkte Schilasky, und wandte sich angriffslustig gegen Todd, auf dessen Gesicht ein höhnisches Grinsen eingetrocknet war. »Der Ackermann, der Korporal in der vierten Sektion ist, hat es ganz gleich. Ich kenne ihn gut, denn ich habe mich mit ihm zusammen in Mainz engagiert. Und er hat etwas ganz Ähnliches erlebt…«

Koribout war sogleich interessiert, Schilasky solle doch erzählen, meinte er. Sein süßlicher Ausdruck wurde durch einen angespannten, gierigen verdrängt. Er öffnete sein Wachstuchheft, feuchtete den Bleistift mit den Lippen an und wartete, wie ein geschulter Sekretär auf das aufzunehmende Diktat.

Es sei mit diesem Ackermann, wie Koribout sage. Er habe auch Besuche. Ob die anderen den Korporal kennten? Er sei, was man so einen Germanen nenne, blond und blauäugig, gut gebaut und begeistert für den Dienst. Er wolle hoch kommen, das habe er schon bei seinem Engagement geschworen. Nun, so ein Junge würde das ja noch fertig bringen. Er habe nur zwei Wochen Krieg mitgemacht, stamme aus reicher Familie mit Verwandten in der Schweiz, er habe deshalb die Unterernährung während des Krieges nicht gespürt.

»Während wir!« abgehackt und verbittert sprach er weiter und stieß Todd in die Seite. »Ich für meinen Teil bin erledigt. Lebe so als halbe Leiche. Typhus in Mazedonien, Lungenschuß bei Verdun, wundert mich nur, daß sie mich in Mainz genommen haben.«

Nun also, dieser Ackermann sei aus dem Krieg zurückgekommen und habe sich während der Umsturzzeit so richtig herumgetrieben. Habe dann ein Mädel aus einem öffentlichen Hause kennengelernt und habe sich in dieses verliebt. Er sei mit ihr spazierengegangen, habe ihr Geld gegeben, das er irgendwie immer aufgetrieben habe. Zuerst von daheim, und als da nichts mehr zu holen gewesen sei, habe er geschoben, Fieberthermometer und Salvarsan und sonst verschiedene Dinge. Der Vater habe dann von Freunden den Verkehr seines Sohnes erfahren. Ganz gehässig und zischend wurde Schilaskys Stimme:

»Die Väter! Meiner war genau so. Sprechen immer von ihrem guten Namen, der nicht beschmutzt werden darf. Als ob so ein paar Buchstaben etwas unglaublich Kostbares wären. Ich habe meinem Vater einmal gesagt: ›Dein Name, schau, er kommt mir vor wie ein altmodischer Zylinderhut, den man nur bei Begräbnissen aufsetzt. Man hütet ihn, damit er nur ja keinen Flecken kriegt, aber in der Schachtel wird er doch grün und läßt schließlich Haare und wird unansehnlich.‹ Was ist das, ein Name? Ich habe die Mode nicht mitgemacht, mich nicht umgetauft, sondern meinen Namen behalten, wie ich in die Legion bin.«

Nun, auch Ackermanns Vater hatte den Sohn mit Vorwürfen überschüttet, und da war der Junge schließlich in die Legion gegangen und hatte einen rührenden Abschied von dem Mädchen genommen. Er hatte es heiraten wollen. Warum nicht? Sie wäre vielleicht eine gute Frau geworden. Aber die Sache sei so: dieser Ackermann tue tadellos Dienst, drei Wochen, vier Wochen. Plötzlich aber, an einem Abend, beginne er zu stöhnen, die Nacht darauf schlafe er nicht, man höre ihn schluchzen wie ein kleines Kind. Und oft habe er, Schilasky, den Freund trösten müssen. Auch der folgende Tag bringe nicht die erwartete Erlösung. Erst gegen Abend packe dann Ackermann irgendeinen Kameraden, den er gerade erwischen könne, und fange an, ihm das Mädchen zu beschreiben. Wie es ausgesehen habe und nach was es gerochen habe, nach Maiglöckchen, und gelbe Unterwäsche habe es getragen, kurz, er versuche das Mädchen aus Worten zusammenzusetzen, bis es wieder leibhaftig vor ihm stehe. Dann sei der Schmerz vergangen. Ackermann tue wieder Dienst wie vorher. Ja. Das sei es wohl, was Koribout gemeint habe.

Koribout schrieb so eifrig, daß er nicht zu antworten vermochte, sondern nur nickte…

Korporal Ackermann aber wußte nicht, daß soeben von ihm gesprochen wurde. Mit vier anderen zusammen, dem alten Guy, dem Türken Fuad und dem Schweizer Bärtschi spielte er Einundzwanzig. Später kam noch Pullmann hinzu, die bullenhafte Ordonnanz des Leutnants Mauriot. Über Ackermann war diese Spielwut ganz plötzlich gekommen. Sonst hielt er sich gerne von seinen Untergebenen fern, er hielt ›distance‹, wie er es mit übertrieben französischer Aussprache nannte. Aber gestern hatte er eine seiner Krisen gehabt und fühlte sich anschlußbedürftig. Sie spielten gelangweilt, die alten Karten klebten von Schweiß, das Geben bereitete Mühe. Guy hielt die Bank. Er und Fuad besaßen das meiste Geld. Fuad war klein und gelb und erinnerte an einen schnüffelnden Hund. Er hatte eine bewährte Methode, Geld zu verdienen. Er trank keinen Wein, sammelte ihn vielmehr. Dann gab es Kameraden, die ihre Löhnung sehr schnell ausgegeben hatten. Denen kaufte er den Wein ab, er gab vier Franken, wenn ihm der tägliche halbe Liter während vierzehn Tagen abgeliefert wurde. Gewöhnlich hatte er sechs Tributpflichtige. Das gab täglich mehr als drei Liter. Er verkaufte die Zwei-Liter-Feldflasche den Reicheren zu zwei Franken. Wobei für ihn ein guter Verdienst abfiel.

Sonderbar, aber er gewann auch gewöhnlich beim Spielen. Er war vorsichtig und kaufte nur ganz selten, wenn er siebzehn hatte. Aber Pullmann verlor, ebenso der alte Guy. Den kümmerte es nicht viel. Ihm war es nur um Zeitvertreib zu tun. Aber Pullmann wurde immer aufgeregter. Er hatte Schulden und hatte gehofft, einen guten Fang zu machen und seine Sorgen auf einen Schlag los zu werden.

Die Ruhe des Türken übte auf alle einen unangenehmen Reiz aus. Er hatte ein ewiges Lächeln, das die spitzen Zähne sehen ließ und die Schnüfflerfalten um seine Nase noch vertiefte.

In der staubigen Luft brannte die Kerze oben auf dem Kleidergestell mit trüber Flamme und warf riesengroße Köpfe auf die gegenüberliegende Wand.

»Noch eine«, sagte Fuad. Es war das erstemal, daß er kaufte. Er hatte As und König; nun bekam er eine Sieben. Er legte die Karten auf: »Einundzwanzig«, sagte er unbewegt. Der alte Guy warf ihm einen Franken hin.

»Ich könnte wetten«, sagte Pullmann, »daß er die Karten aus dem Ärmel zieht. Aber bei dem Licht kann man es nicht genau sehen.« Er sprach deutsch und wandte sich ausschließlich an Ackermann. Dieser zuckte die Schultern. Er wollte sich in kein Gespräch einlassen. Die anderen blickten auf Pullmanns Lippen, um womöglich den Sinn des Gesprochenen zu erraten. Es gelang ihnen nicht, denn Pullmann zog mit Erfolg eine unbeteiligte Grimasse.

Ein magerer Kerl wankte herein, kauerte sich in eine Ecke, weit von den Spielenden entfernt, zog eine Mundharmonika aus der Tasche und begann verträumt ein Lied zu spielen. Das Instrument war alt und quiekte sehr falsch. Bisweilen schüttelten den kleinen Mann bösartige Schauer. Dann teilte sich das Zittern auch dem Liede mit, das dadurch so traurig wurde, daß die Spieler mit Fluchen gegen die Störung demonstrierten. Aber der kleine Mann begann immer wieder von vorne die Melodie zu spielen, immer an der gleichen Stelle –

»… oder geht mein Leben ins Verderben,«

machte er einen Fehler, mit unendlicher Geduld verbesserte er diesen Fehler, suchte den richtigen Ton, fand ihn, begann wieder von vorne, um an der gleichen Stelle den gleichen Fehler zu machen.

Pullmann riß dem alten Guy die Karten aus der Hand. Er wollte die Bank übernehmen.

Bärtschi der Schweizer, mit dem feuchten Tomatengesicht, sang die Melodie des Harmonikaspielers mit:

»Ich weiß nicht, bin ich reich oder arm, oder geht mein Leben ins Verderben.«

kümmerte sich nicht um die Unterbrechung und fuhr tapfer fort.–

»Und ich weiß nicht, komm' ich gesund nach Hause oder muß ich in der Fremde sterben.«

Das ›Sterben‹ dehnte er so lange, bis es auch Ackermann zu dumm wurde und er den Singenden anfuhr.

Aber dies brachte Bärtschi nicht aus der Ruhe. Er antwortete ebenso grob, und seine krächzende Aussprache verstärkte noch die Begleitung. So sehr er sonst dem Korporal Untertänigkeit bezeigte, jetzt beim Spiel behandelte er ihn als Gleichgestellten, ja verachtete ihn. Es ging nicht, so fand er in seinem disziplinierten Geist, daß ein Vorgesetzter mit seinen Untergebenen spielte.

Ackermanns Gesicht wurde weiß, und seine Lippen verschwanden zwischen den Zähnen. Er warf die Karten hin, stand auf, Bärtschi duckte sich, er wartete auf den Schlag, der kommen mußte. Aber Ackermann ging mit langen Schritten zu dem Bläser und setzte sich neben ihn. Endlich war er beruhigt und erkundigte sich nach dem Befinden des anderen.

»Immer Fieber«, sagte der kleine Schneider. Dann schwieg er wieder. Bald begann er zu murmeln, verfluchte den Posten, der nie von einem Arzt besucht werde. »Komm«, sagte Ackermann, nahm ihn beim Arm, führte ihn in die Baracke der dritten Sektion zurück, hieß ihn sich niederlegen, zog ihm die Schuhe aus und die Wadenbinden, wickelte ihn in Decken ein und strich ihm dann noch beruhigend über die Haare. Dann brachte er Wasser, befeuchtete sein eigenes Taschentuch und legte es auf die heiße Stirn des Liegenden. Mit glänzenden Augen starrte der kleine Schneider auf die gerippte Decke. Viel Sonderbares schien er dort zu erblicken, denn er murmelte andauernd, seine Hände unter der Decke waren unruhig, er zeichnete Linien nach. Dann warf er sich herum. Er schien etwas zu suchen.

Endlich hatte er es gefunden. Zaghaft setzte er die Mundharmonika wieder an die Lippen, spielte langsam und andächtig; deutlich sah Ackermann, wie das Gehör des Kranken nun den Linien der Töne folgte, als seien sie Wege, die in einem unbekannten Land bergauf und bergab führten. Ackermann ließ den Kranken ruhig weiterwandern.

Er kehrte zurück und fühlte sich durchaus glücklich. Der kalte Zorn war schnell geschmolzen. Er dachte, daß er hätte zur Sanität sollen, erinnerte sich an sein Mädchen, das auch einmal krank gewesen war, und das er gepflegt hatte. Sie hatte ihm damals auch gesagt, daß er gut pflegen könne. Und diese Tatsache, ein guter Pfleger zu sein, erfüllte ihn mit großem Stolz.

Ihm war es nun ganz unverständlich, daß er hatte spielen können. Denn dies Spielen, ganz als einen unschuldigen Zeitvertreib konnte man es doch nicht ansehen. Es war ein Kampf gegen die anderen, wenn er spielte, tat er es doch mit der festen Absicht zu gewinnen, und sein Gewinn schädigte die Mitspieler. Es war falsch, die anderen zu schädigen, empfand er plötzlich, sie alle waren unglücklich; das bißchen Geld, das sie besaßen, bedeutete Glück für sie, und er, er hatte es ihnen aus der Tasche nehmen wollen. So überschwengliche Güte fühlte er plötzlich in sich, daß er nicht wußte, was er mit diesem Überschwang machen sollte. Er wollte noch einmal nach dem kleinen Schneider sehen, oder Schilasky besuchen, der stets so schwer an seinem Gewissen zu schleppen hatte, aber da hörte er aus der Baracke die vier laut streiten, und er lief, um Frieden zu stiften.

Der dicke Pullmann sah nun ganz einem gereizten Bullen gleich. Mit blutunterlaufenen Augen kniete er am Boden, die Rechte noch aufgestützt, die Linke im Hosensack eingegraben. Er spuckte Fuad Schimpfworte ins Gesicht, richtete sich auf, um den Gelenkigeren zu packen, der ihm immer wieder mit einem höhnischen Sprung entwischte. Der alte Guy hatte sein Geld in Sicherheit gebracht, nun hockte er da, auf seinen verschränkten Beinen, klatschte in die Hände und eiferte die anderen an. Bärtschi stand in einer Ecke, weit von den Streitenden entfernt, die Augäpfel waren aufgequollen, stumpf und blicklos. Schlaff hing die Unterlippe herab. An der Tür drängten sich Zuschauer.

Nun richtete sich Pullmann auf. Ein Messer wanderte von der einen Hand in die andere und sprang auf, mit einem trockenen Schnappen. Aber auch in Fuads Hand sah Ackermann ein Messer. Der Türke trug noch immer den unbeteiligten Ausdruck. Kein Blut färbte die pergamentgelbe Haut. In kleinen federnden Sätzen umkreiste er den Großen, seine harten Augen folgten jeder Bewegung des anderen, er suchte die unbeschützte Stelle. Von weitem schon rief Ackermann: »Ruhe«, er war zornig, die Baracke war sein Eigentum, hier hatte er zu kommandieren, eine Messerstecherei war eine Beleidigung seiner Autorität. Aber die Baracke war lang, er hatte den ganzen Gang zu durchlaufen, und der Gang dehnte sich, es war wie in einem Traum, er kam nicht von der Stelle, obwohl er lief. Endlich hatte er die beiden erreicht. Er sprang zwischen sie, die Arme nach vorne gereckt, seine Ellbogen spürten die Brustknochen der Gegner. Aber Pullmann schien blind. Einen kleinen Schritt nur tat er zurück, dann ließ er das Messer mit voller Kraft nach unten stoßen. Es traf Ackermanns Beuge. In einem Augenblick war der Ackermann dunkelrot und das Blut tropfte auf den Boden. Pullmann stieß ein Heulen aus. Dann verstanden die Zuschauer die leisen Worte, die folgten, »Nicht dich, Korporal, nicht dich.«

Die Aufregung war groß. Die Zuschauer drängten herbei, sie konnten nicht stillbleiben, tanzten von dem einem Fuß auf den andern, schnitten Grimassen, glücklich, oh wie sehr, daß sie dies interessante Schauspiel nicht verpaßt hatten. Ratschläge schwirrten durch die Luft; einer rief nach Spinnweben, der andere erbot sich, sein Wasser über die Wunde zu lassen. Drei, dann vier Kerzen beleuchteten das Schauspiel.

Ackermann zog den Rock aus, der Schnitt war nicht tief, eine einzige Vene war getroffen, die ihr Blut in einem kleinen Springbrunnen in die Luft spritzte. Und Ackermann fühlte, wie das Glücksgefühl, das ihn vorher nur bescheiden erfüllt hatte, nach und nach wuchs, bis es schier unerträglich wurde. Eine Leichtigkeit durchdrang seinen Körper, wie er sie nur in den Flugträumen seiner Kindheit erlebt hatte. Und auch diese Kindheitsträume waren deutlich wieder da, verwandelten die ganze Begebenheit und tauchten sie in ein sonderbar glühendes Märchenlicht, dessen Schönheit so überwältigend wurde, daß er lächelnd die Augen schloß.

Als er sie öffnete, hatte Pullmann schon sein Hemd zerrissen. Der Ärmel, fest gerollt, diente ihm zum Abbinden. Das Blut stockte. Ackermann stand auf. Seine Haltung war voll Feierlichkeit, und die anderen verstummten. Sie fanden ihn schön, sein Gesicht war bleich und scharf, sein blondes Haar lag am Kopfe an, wie eine Kappe aus Goldstoff. Er sprach, ohne sonderlich die Stimme zu erheben, verlangte Schweigen von ihnen allen über den Vorfall. Kein Vorgesetzter durfte davon erfahren. Das forderte er von ihrer Kameradschaft. Er wiederholte die Worte in französischer Sprache. Dann ließ er die Lichter löschen und legte sich auf seine Matratze. Pullmann ließ sich nicht vertreiben. Die ganze Nacht blieb er neben dem Verwundeten.

Lös war ohne Schwierigkeit in den Posten gelangt. Die Wache am Tor hatte gerade den Rücken gekehrt. Vor der Tür seiner Kammer hockte der Bäcker Frank, ein Wiener, der eine ewige Leidensmiene wie eine Maske trug. Und seine Klagen sickerten zähe zum alten Kainz, der neben ihm saß.

»Auch kann ich nicht schlafen. Immer das Reißen im Rücken. Und die Zähn' tun mir so weh. Dann is' mir wieder kalt, auch wenn ich vor dem heißen Ofen steh'. Weißt, ich glaub', ich mach' es nicht mehr lang. Entweder der Major muß mich auf Reform schicken, oder ich geh' drauf. Ein schweres Leben is' es schon. Servus Korporal, wo kommst denn du her?«

Lös erkundigte sich nur, ob niemand nach ihm gefragt habe. Nein, der Leutnant Mauriot war nicht in der Verpflegung gewesen. Die Offiziere saßen noch alle in der Messe zusammen und feierten irgend etwas. Der Koch hatte zwei Büchsen grüne Erbsen geholt. Und Hühnerwald hatte drei Flaschen Wein liefern müssen. Auf Rechnung von Mauriot. Ja, ja. Das seien alle Neuigkeiten. Es war nicht ganz leicht, diese Meldungen zu verstehen, denn der alte Kainz hatte einen wackligen Zahn, dessen Festigkeit er während des Gespräches ständig mit zwei Fingern kontrollieren mußte.

Und Lös gab seine Absicht kund, die Nacht nicht im Posten zu verbringen. Kainz behauptete, er gönne dem Korporal diese Abwechslung. Was soll auch der Mensch anfangen ohne ein wenig Liebe? Was ihn betreffe, so habe er genug von den Frauen, seine Alte sei ihm untreu geworden – aber das wisse ja der Korporal.

Lös kannte eine Stelle, hinten beim Park der Maultiere, wo die Mauer leicht zu übersteigen war. Und auch der Stacheldraht war dort schadhaft. Es kam nur darauf an, zu wissen, ob die Stallwache schlief oder ob sie bestechlich war.

Schlafende Tiere sind fremdartig, viel fremdartiger als schlafende Menschen.

Das Maultier steht still mit gesenktem Kopf; es scheint aus Holz zu sein, sein Kopf bewegt sich nicht, seine Ohren sind reglos. Aber es träumt ganz sicher. Denn bisweilen laufen über seine gespannte Haut leise zitternde Wellen und ganz sanft schwingt der Schweif mit. Plötzlich erwacht es, spreizt die Hinterbeine, läßt fließen, was es beschwert, seufzt tief auf und steht wieder reglos, mit steinernen Nüstern, die glänzen wie schwarzer, polierter Marmor.

Die Stallwache schlief. Der Weg über die Mauer war frei.

Aber Lös blieb einige Minuten auf der Mauer sitzen, um die Reihe der schlafenden Tiere zu betrachten. Eine Kette klirrte, ein aufstampfender Huf ließ den Boden dröhnen, ein Prusten kollerte wie ein kurzer gedämpfter Trommelwirbel. Lös sprang ab.

Zeno hatte sich Mühe gegeben. Sie hatte alles mögliche auf die Terrasse geschleppt und übereinandergeschichtet, um ein weiches Lager zusammenzubringen. Beim Untersuchen stellte Lös die folgenden Lagen fest – Zuerst mehrere alte Säcke, die, obwohl halb verfault, doch noch deutlich den Stempel der Militärverwaltung trugen. Dann kam eine Lage frisches Alfagras, darauf Lumpen, aber saubere Lumpen, am Oued gewaschen und an der Sonne getrocknet. Das Ganze wurde von vier Schaffellen bedeckt, die ihre weiße Wolle in der Nacht leuchten ließen. Die breite Lagerstatt war in einer Ecke der Terrasse aufgeschlagen, und die hohen abschließenden Mauern gewährten Schutz gegen den Morgenwind, den man erwarten durfte.

Still breitete sich die Terrasse aus; kein Geländer war da, das sie abschloß von der Ebene, in welche sie unmerklich überging. Nur die Berge waren eine weiche Grenze, die den Blick aufhielt und ihn überleitete zum Funkeln der Sterne.

Zeno lag auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Ihre Brust hob und senkte sich, und ihre Haut wirkte zart wie das Fell eines Tieres. Und auch Lös träumte in den leeren Himmel hinein, füllte ihn mit den Göttern, die er langsam auferstehen ließ aus ihrem tausendjährigen Schlaf.

Vergessen ist das dumpfe Zimmer im Posten, die Zahlen auf den Registern, das Kriegsgericht und der kleine Leutnant Mauriot. Auch die Kameraden sind vergessen, die stets umgeben sind von dem Geruch schmieriger Vergangenheiten, der ihnen anhaftet, was sie auch tun, um ihn zu vertreiben. Und wie er denkt: Vergessen, so sind sie alle wieder da und höhnen ihn. Er hört ihre Worte, sieht das zahnlose Grinsen des alten Kainz. Und wie um Rettung zu finden, als könne er ihre Anwesenheit abstreifen, wie ein Kleid, beginnt er sich auszuziehen. Wirft weit weg die Uniformstücke, die Schuhe, die Unterkleider. Bis er, endlich nackt, ein Mondbad nehmen kann, das ihn befreit. Aber der Körper neben ihm ist kühl. Und ihn zu fühlen, vermag das Denken zu bannen, auf Augenblicke.

Hernach aber ist die Traurigkeit noch größer, und die Einsamkeit wächst und der Ekel. Wolkenfetzen sind graue Abwaschlappen, ein übler Geschmack von fremder Haut bleibt im Munde zurück. Die Angst wächst wieder, vor allem: vor der Zukunft, dem anbrechenden Tag, vor der Krankheit. Schweigend zieht Lös sich wieder an. Er stößt das Mädchen zurück, das ihm helfen will, das fragt, ob es ihm etwas bringen könne. Heißen Tee? Oder Kaffee? Er schüttelt nur den Kopf. Dann stolpert er eine dunkle Treppe hinunter.

Noch nie ist ihm der Weg zum Posten so lang erschienen. Er springt über die Mauer. Die Stallwache schläft noch immer. Aber die Maultiere sind alle wach. Sie wiehern leise, stoßen kleine Schreie aus, wie Frauen, die gekitzelt werden, scheinen zu lachen und sich komische Geschichten zuzuflüstern.

Wie Sterbende liegen die Schläfer im Posten verstreut, sie röcheln aus weitgeöffneten Mündern. Dazwischen tönt das laute Traumlallen einzelner. Ein dicker Gestank füllt die Schluchten zwischen den Baracken aus: Schweiß und faulendes Fleisch und die Ausdünstungen der offenen Latrinen.

In einer Ecke der Kammer steht die Flasche mit dem Kartoffelschnaps. Lös handelt automatisch. Die Blechtasse füllen, die Flüssigkeit wie eine Medizin hinunterleeren, den Mund verziehen, laut »Ah« sagen, als sei ein anderer da, der zuhöre und beruhigt werden müsse. Dann wie ein Klotz sich hinfallen lassen auf die Matratze, die Kraft reicht gerade noch aus, die Decken um sich wickeln, denn es beginnt kühl zu werden. Und endlich in den tiefen Schacht versinken, der schwarz ist und kühl und stumm.

Bis spitze Strahlen das unbeschützte Gesicht stechen, das Trillern einer Pfeife schmerzhaft die Ohren verwundet.

Und ein neuer Tag beginnt.


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