Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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13. Kapitel

Der Kampf

Aus den dumpfen Baracken haben sie die Matratzen ins Freie geschleppt. Um Mitternacht kommt ein spielender Wind von den Bergen und trocknet den Schweiß von den klebrigen Körpern. Aber der Wind bringt nur wenig Kühlung, denn zwischen den Bergen und dem Posten liegt die Ebene, und auf ihr lagert die Hitze des Tages; der Wind nimmt die Hitze mit sich und trägt sie in die Höfe…

Sie können nicht schlafen; den Tag über haben sie geruht, nun vermissen sie die Müdigkeit, die all die Wochen vorher ihre Augen entzündet hat. Und der heiße Wind macht geschwätzig. Sie liegen auf dem Rücken und sprechen Worte in den Wind – und der Wind nimmt die Worte, spielt mit ihnen wie mit dem Staub, den er aufwirbelt. Doch er, der Staub, wird wieder zurückfallen auf die Erde – sei es, daß ein Regen ihn niederschlägt, sei es, daß er an den Blättern der Feigenbäume haften bleibt und mit ihnen, wenn sie welk sind, zu Boden fällt. Nie wird er ganz verloren gehen. Doch die Worte? – Der Wind pflückt sie von den Lippen (leicht sind die Worte, leichter als der Staub, leichter als die heiße Luft), und dann wird er sie verwehen. Wohin? Worte sind es nur, Worte, in die Nacht gesprochen… Stimmen haben sie geformt, die heiser geworden sind vom Wein und vom Durst und vom Rauch.

Schilasky spricht: »Der Todd hat mir schon am Abend vor dem Kampf gesagt: ›Hör, morgen gibt's etwas! Ich hab im Café vier Araber getroffen, die wollten mich ausholen… Weißt du, daß wir nicht nur Camions mit Lebensmitteln bewachen müssen, sondern daß auch das Auto vom Zahlungsoffizier den Convoi begleiten wird?‹ – Natürlich wußt' ich das nicht, aber am Morgen war das kleine Auto wirklich da. ›Paß auf‹, sagt da der Todd noch zu mir, ›heut wird's stinken!‹ Und plötzlich steht der Lartigue neben uns und redet uns auf deutsch an: ›Daß ihr der Sektion keine Schande macht! Verliert mir nie die Ruh'! Verstanden?‹ Dann kehrt er sich um, und wir sehen, daß er einen ganz runden Rücken macht – wie ein alter Mann… ja, sein Rücken sah traurig drein; ich bin sicher, er hat gewußt, wie es gehen wird.«

Neben Schilasky liegt ein langer, magerer Mensch, der ein Handtuch um die Hüften gebunden hat. Er liegt auf dem Bauch und stützt das Kinn in die hohlen Hände. Seine Bartstoppeln schimmern wie Messing, und die Locken auf seinem Kopfe sind blond.

»Wir in der vierten Sektion«, sagt er mit heiserer Stimme, »haben es nicht so gut gehabt wie ihr. Bei uns hat der Farny kommandiert. Ich sag dir, Mensch, der Kerl ist ganz verrückt. Du kannst direkt vor ihm stehen, und er sieht dich nicht – guckt an dir vorbei. Er hält sich für den größten Mann der ganzen Kompagnie, weil er die berühmte Kolonne mitgemacht hat – wißt ihr, ins Tafilalet, damals, neunzehnhundertachtzehn… Von zweihundertzwanzig Mann ist er allein mit seiner Ordonnanz und einem Korporal zurückgekommen. Wie der sich diesmal benommen hat!

Ich wette, daß er die Hosen genäßt hat, wie die Bicots angeritten sind.«

Er lacht, dann hört man einen leisen Knall – er hat den Stöpsel aus seiner Feldflasche gezogen – und nun trinkt er in langen, glucksenden Zügen.

Der Mond ist noch nicht aufgegangen, aber der Sternenschein ist so hell, daß die vorspringenden Wellblechdächer der Baracken samtene Schatten auf den Boden werfen. Ein Lachen steigt auf, es gurgelt wie ein Dorfbrunnen in einer stillen Sommernacht. Schweigen. Dann lacht Pfister: »Hahaha!… Hosen genäßt! Dem Petroff neben mir ist das wahr- und wahrhaftig passiert. Die Bicots fangen an zu schießen, und das ist ein gruusiges Klepfen… Takoouu… Grad an meinem Ohr vorbei pfeift's, und da hockt der Petroff ab vor Angscht, und wie er aufsteht, ist sein ganzer Hosenboden naß. Gestunken hat er, sag ich euch! ›Gang zum Tüüfu!‹ sag ich zu ihm. ›Gang di go putze!‹ Und er will wirklich zurückkriechen. Da sieht ihn der Hassa und jagt ihn wieder nach vorn. Aber der Russki in seiner Angst versteht ihn nicht und deutet nur immer auf seinen Hintern. Da hat auch der Hassa lachen müssen…«

Und Pfister macht das Lachen des Sergeanten nach. Er ist klein und rundlich, der Schweizer Pfister; so oft ist er, wegen seines heimatlichen Dialekts verspottet worden, daß, er sich Mühe gibt, hochdeutsch zu sprechen; manchmal gelingt es ihm sogar, Kraschinskys Berlinern nachzuahmen.

Korporal Cleman, von der ersten Sektion, ein dürrer Streber, mit einem Mund, rund und rot wie eine Kirsche, nach der seine krumme Schnabelnase stets zu picken scheint, er sieht aus wie ein verhungerter Kellner und behauptet, der letzte Sproß des Grafengeschlechtes derer von Mümmelsee zu sein. Er spricht wie ein Schmierenschauspieler in der Rolle eines preußischen Leutnants. »Ihr habt gut lachen!« sagt er, »Ihr von der windigen zweiten Sektion. Aber wir von der ersten! Immer mit dem Hauptmann zusammen, immer Nachhut! Wo uns die Biester doch schon auf den Fersen saßen. Kamen da 'ran, zwei auf 'nem Ferd, bis auf hundert Meter, machen kehrt und in Karriere zurück. Sagt der Alte plötzlich zu mir: ›Na, Kleener, haste gesehen, was die für weißen Dreck fallen lassen? Regarde! Là-bas… Richtig, nun sah ich's auch. Jeder, der gegen uns angeritten ist, hat einen zweiten hinten aufsitzen, und der läßt sich zu Boden fallen, bevor das Pferd kehrt macht. Und kreucht dann näher. Das Anschleichen vastehn se ja; man sieht se nich, bis sie janz nahe sind… Hm«, meint Cleman gedankenvoll, »es war wirklich merkwürdiger weißer Pferdedreck…«

»Pferdedreck! Wyssi Rossbolle!« lacht Pfister verzückt – er lacht gern, auch über die dümmsten Witze. Vor einem halben Jahr hat ihn der Huf eines Maultiers mitten auf die Stirn getroffen und dort eine rote Narbe hinterlassen. Vielleicht hat auch sein Gehirn unter dem Schlag gelitten. »Jaja, Witze reißen kann der Alte. Bei uns hat der Hassa nichts gemerkt. Er ist kurzsichtig. ›Sergeant!‹ sag ich zu ihm. ›Sergeant! Dort kriecht einer!‹ – ›Kümmern Sie sich um Angelegenheiten Ihrige!‹ seit de Löli. ›Nein‹, sag ich. ›Dort kriechen zwei Dutzend. Laß schießen, Sergeant, sonst ist fertig mit Pinard.‹ – ›Was erlauben Sie sich zu duzen Ihr Vorgesetztes?‹ Aber er hat kaum ausgeredet, da stehen kaum zwanzig Meter von uns ein Haufen Graumäntel auf, und sie brüllen. Da macht der Hassa ›demi tour à droite‹ und rennt zurück. Da sage ich: ›'s isch z'heiß zum springe‹, und kommandiere: ›Bajonette 'on!‹ Die andern folgen mir… Der Petroff hat gebrüllt: ›Yoptoyoumatj!‹ und ist gesprungen wie ein junges Kalb. Die Araber haben Fäden gezogen… Und dann ischt es still geworden, und wir haben eine Autohupe gehört. Der Zahlungsoffizier ist gemütlich vorbeigefahren. Ischt das nicht eine Schande? Bei der Hitze haben wir uns so anstrengen müssen, um dem sein dreckiges Geld zu retten. Aber du, Schilasky, erzähl, wie der Todd verwundet worden ist…«

Wispern: »Der Todd…« – »Todd…« – »tot…« Dann Stille. Regungslos liegen die Körper auf den dünnen Matratzen. Keiner lacht. Es ist, als hielten sie alle den Atem an. Dann raschelt Schilaskys Matratze, der Mann setzt sich auf, zieht die Beine an, seine Arme umschlingen die Knie, und er läßt seinen Blick wandern über die Kameraden, die ihn umgeben.

Patschuli ist da und Peschke, aneinandergeschmiegt auf der gleichen Matratze, und dort, an die Mauer gelehnt, hockt der alte Kainz. Neben ihm, auf dem Bauch, liegt der Bäcker Frank. Und auf der Türschwelle der Baracke, ein offenes Notizbüchlein in der Linken, einen scharfgespitzten Bleistift in der Rechten, sitzt Koribout, der Dichter mit dem gescheitelten Bart. Er ist der einzige, der vollständig angekleidet ist: Gelbe Khakiuniform, die graue Flanellbinde faltenlos um die Hüften geschlungen, elegante Schnürschuhe und vorschriftsmäßig gewickelte Wadenbinden. Sein Tropenhelm ist frisch geweißt, das Sturmband versteckt sich hinter seinem Bart. Weiter wandert Schilaskys Blick, ruht einen Augenblick auf Kraschinsky, flieht dann, um an Clemans Nase hängen zu bleiben, senkt sich endlich. Schilasky seufzt. Er denkt an den Abend jenes Marschtages, er denkt an den Todd, und leise beginnt er zu sprechen:

»Ihr wißt, daß die Mitrailleusensektion Avantgarde war… Wie wir aufbrachen, war's noch finster. Der Leutnant ritt voraus und sah böse drein. In der ersten Pause riß bei einem Lasttier der Riemen, und die Hotchkiss fiel zu Boden. Der Weibel mußte allein wieder laden. Aber wie's dann hell wurde – bei der zweiten Pause – und der Weibel dem Leutnant Meldung machte – mußte Koribout nachschauen gehen…«

»Es hat gefehlt ein Bolzen vom Dreifuß…«, klang es von der Türe her. Schilasky nickte; dann fuhr er fort:

»Lartigue schickte den Todd und mich zurück, um den Bolzen zu suchen. Wir liefen die ganze Zeit gebückt, und der Rücken tat uns weh. Schließlich haben wir den Bolzen gefunden und sind zurückgelaufen. Die Sektion war weit voraus – und wir zwei allein. Die Piste ging zwischen zwei hohen Felswänden durch, und immer wieder rollten Steine herab. ›Das gefällt mir nicht‹, meinte der Todd. Ich hab geschwiegen. ›Na‹, sagte der Todd weiter, ›auf uns haben sie's wohl nicht abgesehen, wir haben kein Geld – höchstens unsere Gewehre könnten die Bicots noch interessieren…‹ Endlich haben wir die Sektion erreicht und ich hab dem Leutnant gemeldet, daß wir den Bolzen wieder gefunden haben. ›Habt ihr sonst nichts Verdächtiges bemerkt?‹ fragt der Lartigue. Da erzählt der Todd von den Steinen, die von den Hängen gerollt sind, und der Leutnant verzieht das Gesicht. Dann meint er, wir hätten noch Zeit zum Casse-croûte. So hat die ganze Sektion gehalten, und wir haben unsern Speck verzehrt. Dann zieht der Lartigue aus seiner Satteltasche sechs Pakete Zigaretten und verteilt sie unter uns. Anständig, was?…«

Kraschinskys Kopf hob sich von der Matratze, seine Locken glänzten speckig wie falsches Gold, er räusperte sich, blies den Schleim durch die gespitzten Lippen, wie durch ein kurzes Blasrohr, und meckerte dann:

»Ich weiß wahrhaftig nicht, warum ihr alle vor diesem Leutnant auf dem Bauch liegt; natürlich, er verteilt Zigaretten, und ihr Schafsköpfe glaubt, er tue dies aus Liebe zu euch… Nein! Angst hat er um seine Haut, weiter nichts, der hohe Herr, und er denkt: Wenn ich meine Leute nicht anständig behandle, so knallen sie mich hinterrücks nieder… Unser Farny hat gewußt, warum er immer hinten geblieben ist, der Leuteschinder; wenn der mir vor die Mündung gekommen wäre, der würde heut nicht mehr mit dem Pausanker…« »Erzähl' weiter, Schilasky, und mach keinen Schmuh mit'm Edelmut von die Offiziere…«

»Ach, Berliner!« Schilaskys Stimme war verächtlich. »Du hast immer ein großes Maul, wenn die Offiziere nicht da sind und kriechst, wenn du einen von weitem siehst. Du hast doch den Hitzig beim Chef angegeben, wie er im Magazin eine Krawatte geklaut hat. Weißt du, mit dir will ich mich gar nicht herumstreiten, du bist mir viel zu dreckig…«

»Und du?… Und du?… Wenn ich auskramen wollte… Mit wem gingst noch nich in der Kompagnie, he?… Und zuletzt noch mit dem Todd, stimmt's oder stimmt's nicht?«

In der Tür der Baracke stand Korporal Koribout. Seine sonst sanfte Stimme tönte laut durch die Dunkelheit.

»Sie sollten sich schämen, Kraschinsky… Einem Verwundeten muß man Achtung bezeugen, das sage ich Ihnen. Obwohl ich finde, daß eine Typus wie die Ihrige vom Standpunkt des Gestaltenden höchst interessant ist und einer gewissen Ähnlichkeit mit einer Gestalt meines Landsmannes Dostojewski, den Sie wahrscheinlich nicht kennen, nicht ermangelt. Ich denke da zum Beispiel an Ferdyschtschenko aus dem Roman ›Der Idiot‹… Eine meisterhafte Typus…« Koribout setzte sich wieder und kritzelte in sein Büchlein.

Kraschinsky versuchte zu lachen. Aber das Schweigen, das ihn von allen Seiten einschloß, war so beklemmend, daß sein Gelächter in ein Husten überging – es war ihm, als sei sein Mund mit Staub gefüllt. Schilasky fuhr nach einer Pause fort, während der er erbittert an der Haut seines Daumennagels gekaut hatte:

»Der Leutnant schaute immer ins Tal hinunter. Wir standen auf einer Anhöhe. Im Tal war nichts zu sehen…

Die Luft war ganz klar und die Sonne noch gar nicht hoch. Ganz hinten, dort, wo der Weg anfängt zu steigen, sahen wir die erste Sektion. Der Leutnant suchte mit seinem Feldstecher die Berge rund um uns ab. Da plötzlich rief der Todd laut: ›Schilasky!‹ Ich schaute auf und sah gerade, wie er dem Leutnant einen Stoß gab mit der Schulter vor die Brust, so daß der Lartigue auf die Seite fiel und sich mit der Hand auf den Boden stützte. Ich sprang hinzu, denn ich verstand nicht, was dem Todd plötzlich eingefallen war, ob er den Verstand verloren hatte oder was sonst… Und kam gerade zur rechten Zeit, um den Todd aufzufangen. Ich mußte wohl sehr dumm dreingesehen haben…«

»Sonst siehst du ja blendend intelligent aus…« schob Kraschinsky ein, aber er wurde niedergezischt, und Cleman, der Mann mit dem Papageienschnabel, sagte laut, deutlich und so scharf, daß keine Widerrede aufkommen konnte:

»Halt deine ungewaschene Schnauze, Kraschinsky, sonst kannste was erleben!« – »Sehr richtig!« pflichtete Pfister bei, und Patschuli ließ in dieser Nacht zum erstenmal seine Stimme hören: »Ogottogottogott! Müßt ihr denn immer streiten! Seht doch die Sternschnuppen. Die Nacht ist so schöön. Und ihr wißt nur schmutzige Sachen zu erzählen, während doch der Wind so liebevoll durch meine Haare streicht…« »Kusch!« sagte Peschke. »Erzähl weiter, Schilasky!«

»Der Lartigue hat angefangen zu lachen – aber plötzlich stockt er, will aufstehen, da sagt der Todd mühsam und greift sich an die Schulter: ›Liegen bleiben, mon lieutenant! Tous couché!‹ ruft er noch, und da werfen sich alle hin. Ich laß den Todd auf den Boden gleiten und leg mich neben ihn. Mit vieler Mühe stellen wir die Mitrailleusen auf, der Leutnant gibt das Ziel an, die Distanz. Es geht alles wie geschmiert. ›Feu à volonté!‹ ruft der Leutnant, und da beginnen unsere Hotchkiss und es ist ein Lärm wie von einem Dutzend Nietmaschinen. – Der Todd ist ganz still dagelegen, und der Lartigue kriecht zu ihm. Er hat sein Taschenmesser in der Hand und schneidet die Knöpfe ab, vorn an Todds Waffenrock. Dann haben wir die Wunde gesehen: vorn, eine Handbreit von der Brustwarze nach oben, war nur ein kleines Loch, aber am Rücken ein Trichter… ein Trichter…« Schilasky stockte, es klang, als habe er den Schluckauf. »Ein Tri-hi-hichter, eine Spanne Durchmesser. Fleisch und Knochen waren herausgerissen und das kle-hebte (der Schluckauf kam wieder) an einem Stoffstück, das ein wenig weiter entfernt am Boden lag. ›Warum haben Sie das getan, Todd?‹ fragt der Leutnant. Ganz weiß ist mein Kaha-merad gewesen… Da schreit mich der Leutnant an, ich soll mein Hemd hergeben. Ich war froh, daß ich's am Tag zuvor gewaschen hatte – und so-ho-ho – und so war das Hemd sauber. Wie ein Doktor hat der Leutnant gearbeitet. Das Hemd zerfetzt er und stopft es in das Loch; dann mußt ich seine Satteltaschen holen (die Tiere standen in einer Mulde). Der Lartigue legt einen Verband an – zwei Binden hat er gebraucht und ein ganzes Fläschchen Jodtinktur. ›Nicht einmal Morphium hab ich‹, sagt der Leutnant und weint fast. Aber plötzlich fällt ihm etwas ein, und er lächelt. Ganz unten in der Satteltasche hat er eine Büchse gehabt, in der war eine Art braune Konfitüre, die riecht stark nach Gewürzen. Mit der Messerspitze holt er ein wenig von dieser Konfitüre aus der Büchse, knetet eine Kugel aus der Masse – oh, sie war nicht groß, die Kugel, wie der Nagel von meinem kleinen Finger. ›Du mußt schlucken diss!‹ sagt der Leutnant zum Todd. Und der schluckt gehorsam. ›Was ist das, mon lieutnant?‹ frage ich. ›Psch!‹ macht der Lartigue und legt einen Finger auf die Lippen…«

»Und du Trottel hast natürlich nicht gewußt«, keifte Kraschinsky, »daß der Lartigue ein Opiumraucher ist. Na, ich sag's ja…« Das heisere Lachen dauerte nicht lange. Es klatschte. Und dann sah Koribout ein sonderbares Schattenspiel: Über das Dach der Baracke, die vor ihm liegt, kriecht langsam der Mond. In seinem Scheinwerferlicht steht eine flache Scheibenfigur regungslos; krumm springt die Nase vor und berührt mit ihrer Spitze fast das Kinn. Ein ausgestreckter Arm geht über in den Hals einer zweiten Figur, die mit Armen und Beinen schlenkert wie eine Marionette. Korporal Cleman hält Kraschinsky im Nacken fest. Er schüttelt den Widersacher nicht, er hält ihn nur mit einer Hand; dann wirft er ihn mit einem Schwung auf die Matratze zurück.

»So wollen wir nicht auseinandergehen«, flötete Patschuli. »Nein – so nicht. Legt euch wieder alle hin. Ich will euch von Atchana erzählen, wo wir Kalk gebrannt haben, während ihr so tapfer gekämpft habt… Ihr wißt ja, einer hat sich dort umgebracht, der kleine Schneider. Im Fieber wahrscheinlich. Der arme Kerl… Hat in der Sommeschlacht gekämpft, hat das Eiserne Kreuz gehabt und ist verreckt – wie soll man's anders nennen? In einem alten Sack haben sie ihn verscharrt. Der Adjutant stand an seinem Grab, und eine Erdscholle blieb an seinem Stiefelabsatz kleben… ›Merde!‹ sagte er und schleuderte unwillig den Fuß nach vorne… Das war Schneiders Sterbelied.«

Einer nach dem andern nahm seine Matratze und verschwand durch die Tür der Baracke – Cleman zuerst, dann Pfister; die andern folgten. Schließlich blieb nur Schilasky zurück, und keiner seiner Kameraden wußte, warum er blieb… Weil er Kraschinsky nicht das Feld räumen wollte? – Weil Patschuli auf seiner Matratze hockte? – Dies war wohl kaum der Grund. Schilasky saß noch immer in der gleichen Stellung da, wie zu Beginn seiner Erzählung, die Knie ans Kinn gezogen, die Arme um die Schienbeine geschlungen… Nun glitt das Kinn ab, schwer lag die Stirn auf den Knien. Schilasky hörte das Geflüster nicht mehr, das anhob. Er war weit fort… Vielleicht im Lazarett zu Rich, wo sein Freund lag, sein Freund, der Todd… Und das Flüstern wurde lauter:

»Türk! – Komm her, Türk! – Guter Hund, komm, komm…« Kraschinsky schnalzte mit der Zunge. »So! Hab ich dich erwischt! – Was, du willst nicht folgen? Ich werd dich lehren! Du Köter! Du Aas! Jetzt hilft kein Wimmern mehr! Und kein Winseln. Ruf doch deinen Herrn! – Deinen sauberen Herrn! – Wo hab ich mein Messer. – Was, beißen willst du! – Misch dich nicht ein, Schilasky, ich warn dich…!«

Schilasky wollte aufspringen, da traf eine Faust sein Kinn… Er schlug hin, ihm war übel, aber dennoch hörte er die Stimme und verstand die Worte, die sie sprach:

»Komm Patschuli, wir wollen den Hund beim Stall verscharren. Schnell, es kommt jemand… Ach! 's ist nur der Lartigue…«

Nun hörte Schilasky eine andere Stimme, französische Worte, er verstand die Worte nicht, bis er seinen Namen hörte. Und nun sprach die Stimme deutsch:

»Schilasky! Was machen Sie hier? Sind Sie krank? Oder trauern Sie einsam über Ihre verwundete Freund?«

Schilasky konnte sich nicht rühren, er hätte gerne Antwort gegeben, aber seine Zunge war am Gaumen festgewachsen. Da, ein Knall neben seinem rechten Ohr, ein Knall, der in seinem Kopf widerhallte. Zwei Absätze klappten, dann sagte eine zweite Stimme: »Mon lieutenant, caporal Koribout…« Und die erste Stimme:

»Was ist hier geschehen, Korporal? Blut am Boden?«

»Ich habe zugesehen, mon lieutenant. Kraschinsky hat einen Hund umgebracht.«

Endlich konnte Schilasky reden. Er richtete sich auf. »Er hat…« stotterte er, »er hat Türk gemordet…«

»Türk…? Der Hund von Lös…? Traurig, traurig. Wir werden dem Kranken nicht erzählen die Geschichte. Glauben Sie nicht auch? Es geht ihm nicht gut, dem Kameraden Lös. Und Sie, Schilasky, Sie nicht sich müssen aufregen, das ist sentimentalité! Denken Sie: ein Hund…«

Schilasky hätte gern etwas gesagt, widersprochen… Er fand die Worte nicht. Durfte man einen Hund quälen? Ein Wesen, das niemandem geschadet hat, nur so, aus purer Gemeinheit, darf man es hin… hinmachen? Es hat seinen Herrn geliebt… Und ein Kraschinsky… Sanft plätscherte Leutnant Lartigues Stimme: »Wir haben eine französische Schriftsteller – manche be-haupten, viele be-haupten, er ist ein großer Artist – wie Sie sagen? Künstler? Ja Künstler… Ich kann ihn nicht lesen… Brechreiz… für mich. Zola er heißt. Doch Zola hat geprägt ein Wort, eine Ausdruck: ›La bête humaine‹. Das heißt…«

Schilasky unterbrach ganz ruhig: »Die menschliche Bestie…«

»Parfaitement. Ganz richtig. Nun ja, Kraschinsky hat plötzlich entdeckt die volupté – die – wie sagen Sie – die Wollust von der Grausamkeit. Blut! Blut ist schön für einfache Seelen und für komplizierte. Von Blut, von Wollust und von Sterben – du sang, de la volupté et de la mort…

Auch ein Buchtitel… Nehmen Sie eine Zigarette, Schilasky, und auch Sie, Korporal. Was haben Sie da, Koribout? Das Notizbuch? Zeigen Sie…! Russisch. Schade. Wollen Sie mir übersetzen?«

Und Koribout sagte: »Ich habe erst den Titel des Gedichtes: ›Über den Tod eines Hundes‹ und den ersten Vers:

»Der du so treu gedienet hast
Nun weint dein Auge Blut…«

»Ah«, sagte Leutnant Lartigue und setzte sich auf Schilaskys Matratze. »Endlich finde ich in der Legion eine Poet…!«

Das Compagniebureau ist klein. Unter dem einzigen Fenster, das sich auf die Nacht öffnet, die fremde und feindselige, steht ein weißer Tisch, den Papiere bedecken. »Rapport…« »Rapport…« »Rapport…« Capitaine Gaston Chabert trägt eine verbogene Stahlbrille auf der Nase, seufzt auf von Zeit zu Zeit, wenn er einen neuen Bogen zur Hand nimmt. Sein Mund murmelt Zahlen, Zahlen und seine Stirne ist gefurcht. Hinter ihm geht, mit pendelndem Hinterteil, Narcisse Arsène de Pellevoisin, Sergeant-major oder, wie er sich lieber nennen hört: ›der Chef‹ auf und ab…

»Ich verstehe nicht, mein Kleiner«, sagt der Capitaine, »ich verstehe ganz und gar nicht. Nach dieser Aufstellung hier sieht es ganz so aus, als habe dieser Lös nicht das geringste unterschlagen. Die Zahlen stimmen – sie stimmen auffallend. Was hat Mauriot da zu reklamieren gehabt?«

»Mauriot!« sagt der Chef und hebt seine gepolsterten Achseln.

»Also du bist einverstanden mit mir, daß dieser Mann…«

»Mann!« unterbricht der Chef verachtungsvoll und hebt wieder die Achseln.

»Nun, eine Frau ist er nicht. Ich will ja zugeben, daß er sich nicht gerade anständig benommen hat – den ganzen Nachmittag hat er mit den Sergeanten gesoff… getrunken und gegen mich gehetzt. Sein Vater ist General – aber glaubst du, daß einer, dessen Vater General ist, intelligenter ist als der Sohn einer Waschfrau? He? Und Royalist ist der Mauriot auch. Reaktionär…! Geht das an in einer republikanischen Armee? Haben unsere Ahnen deshalb die Bastille erstürmt, die Aristokraten an die Laternen gehängt, damit die Nachkommen dieser Aristokraten uns das Leben sauer machen? Wie?«

»Gegenrapport!« sagte Narcisse lakonisch.

»Du meinst, mein Kleiner, ich solle dem Marschall in Fez einen Rapport schicken? Aber der Marschall selbst – das weißt du, wie ich, der Marschall stammt selbst aus einem alten Geschlecht, er ist…« der Capitaine sucht seine Worte, »er ist der Kirche treu. Oder täusche ich mich?«

»Nein!«

»Siehst du! Siehst du! Und wie – sag mir dies einmal – soll ich meinen Rapport formulieren? Ich muß dir erzählen, wie der Kampf vor sich gegangen ist. Hast du nichts zu trinken? Nein? Die Cooperative ist geschlossen… Wenn jetzt der Lös in der Verwaltung wäre, würde ich zu dem Mann gehen und mit ihm trinken – dann kämen mir Gedanken, dann könnte ich meinen Rapport aufsetzen… Er ist voll Finessen… (kleine, kaum merkliche Pause)… gewesen, der kleine Lös. Eigentlich war er immer anständig zu mir…«

»Zu mir auch«, brummte der Chef.

»Und schließlich habe ich wenig Lust, ihn an Intendanzoffiziere auszuliefern… Also hör zu, mein Kleiner – ah! Du hast etwas zu trinken!« (Der Chef hat ein Wandschränkchen geöffnet und eine Flasche Anisette erscheinen lassen. Zwei rötliche Becher füllt er mit der würzig riechenden und süßlichen Flüssigkeit.) Der Capitaine trinkt, saugt an seinen Schnurrbarthaaren und blickt in das Licht der Petroleumlampe, das gelb und gezackt, wie eine winzige Märchenkrone hinter dem Glas des Zylinders leuchtet…

»Im Grunde«, sagt Chabert leise, »halten Sie mich für einen Cretin. Ist's nicht so, Chef?« Er schweigt, wartet auf einen Protest. Da dieser nicht kommt, seufzt er, nimmt die Stahlbrille von der Nase und versorgt sie in einem Etui. »Für einen Cretin… ja…« Und seufzt noch einmal. »Der nicht mehr weiß, was er spricht. Ich weiß, ich weiß. Und wahrscheinlich denkt auch der Marschall so. Vielleicht habt ihr beide recht… Aber, mein Kleiner, dieser Kampf ist mir wahrhaftig an die Nieren gefahren, ich habe seither ständig Rückenschmerzen und das Wasserlassen verursacht mir Pein. Die Verantwortung, Chef, die Verantwortung! Alle werden sie jetzt auf mir herumhacken – ich möchte nicht hören, was sie in der Sergeantenmesse über mich sagen. Aber hören Sie, Chef,– ich will gewiß nie mehr mein Kleiner zu Ihnen sagen, und auch mit dem Duzen werd' ich aufhören, denn ich fühle, daß beides Sie reizt.«

Chabert wendet sich nicht um. Er sitzt klein und zusammengesunken auf seinem harten Stuhl und wieder wartet er auf eine Antwort, die nicht kommt.

»Sie wollen mich strafen, weil ich Ihren Schützling, den Lös, schlecht behandelt habe. – Das wird es wohl sein. – Nur müssen Sie bedenken, daß dieser Kampf – dieser Kampf. – Stellen Sie sich vor, hier ist die Ebene…« Der Capitaine nimmt ein Blatt Papier und legt es mitten auf den Tisch. »Da ist der Bergsattel, hier, zwischen den beiden Tintengefäßen… Auf dem Fäßlein, das mit roter Tinte gefüllt ist, hat Lartigue seine Mitrailleusen aufgestellt… Gut placiert, meiner Treu, der Lartigue versteht seine Sache. Nun beginne ich den Aufstieg zum Sattel mit meiner Sektion, so…« Chabert legt einen Federhalter vom Papierbogen bis zum hölzernen Gestell, in dem die beiden Tintenfässer stecken… »Aber kaum habe ich die Steigung begonnen, so beginnt es von allen Seiten zu knallen und die Bicots reiten an. Ich kommandiere ›Absitzen‹ und schicke den Kraschinsky als Verbindungsmann zu den anderen Sektionen, um den Befehl zu übermitteln. Die dritte stand hier«, der Capitaine stellt den rötlichen Becher, der mit Anisette gefüllt war, auf den Bogen, »und da hör ich schon Farny brüllen: ›Absitzen! Niederlegen!‹ Nun ist Sergeant Farny sicher ein fähiger Mann, obwohl er wegen seiner Ordonnanzen immer Händel hat. Warum wartet er nicht, bis ich meinen Befehl wiederholt habe? Ich weiß, er führt seine Sektion – ist gewissermaßen für sie verantwortlich – aber ich bin doch für die ganze Kompagnie verantwortlich…! Nun gut, die Geschichte geht weiter. Die Bicots stürmen an und ich sehe, daß sie zu zweit auf einem Pferd sitzen, ganz nahe heranreiten und ihre Last abwerfen, bevor sie zurückgaloppieren.

Und schon kommandiert der Farny wieder: ›Feuer!‹ Wieder hat er nicht warten können. Ich habe im Taktikkurs gelernt… im Taktikkurs gelernt… ja, dort hab ich's gelernt, denn woher sollt ich's sonst wissen? Ich bin ein bescheidener Mann, war früher ein einfacher Bankangestellter, also ich habe gelernt…«

»Im Taktikkurs…« unterbricht der Chef. Er lehnt an der Mauer neben der geschlossenen Tür, sein Gesicht ist im Schatten und seine Khakiuniform sticht dunkel ab von der hellgeweißten Fläche.

Chabert seufzt. »Du mußt dich nicht lustig machen über deinen Capitaine, mein Kleiner. Das bringt kein Glück.« Seine Stimme ist weich, und es schwingt auch keine Spur von Ärger in ihr… »Ich habe gelernt, daß man stets warten soll, bis sich der Feind entwickelt hat, um dann genaue Dispositionen zum Angriff geben zu können. Ich war mit der Sektion, bei der ich mich befand, der rechte Flügel, Farny das Zentrum und Hassa der linke Flügel… Bin ich klar genug?«

Die Bretter des Fußbodens ächzen, als der Chef mit drei Schritten zum Tisch tritt. Er schenkt die rötlichen Becher voll, ohne sich darum zu kümmern, daß einer von ihnen symbolische Bedeutung hat. Und der Capitaine sagt: »Gesundheit!« und kippt den Inhalt der dritten Sektion.

»Er greift mir vor, der Farny da«, sagt Chabert und stellt den Becher an seinen Platz – an den Rand der Papierbogenebene. »Nun kommt noch Hassa« (die Flasche Anisette), »und bevor ich etwas sagen kann, weist ihm Farny seinen Platz an. Wir sind also im Halbkreis aufgestellt – die zweite Sektion hat Verspätung, sie erscheint erst später auf dem Kampfplatz, und Cattaneo mit seiner Vierten ist in Atchana beim Kalkbrennen. Während ich nun noch nachdenke über die zu treffenden Dispositionen – und du weißt, mein Kleiner, ich bin kein Napoleon, ich brauche Zeit – sehe ich, wie Farny mit seinem Karabiner in der Luft herumfuchtelt… Ich drehe mich um und sehe Hassa zurücklaufen. Und ich habe keinen Verbindungsmann mehr – mein Pferd ist auch fortgeführt worden. Was bleibt mir übrig? Ich beginne zu laufen… Aber was wollen Sie, Chef, ich bin ein wenig beleibt – vier Jahre Schützengraben, drei Jahre Marokko – und jung bin ich auch nicht mehr… Da höre ich eine Stimme brüllen: ›Bajonette 'on!‹ Aha, denke ich, ein Korporal übernimmt das Kommando. Da ist es aber dieser Schweizer, wie heißt er, einen schwierigen Namen hat der Mann, einen Namen – Fistére, ja ja, Fistére – du mußt mich erinnern, mein Kleiner, man muß etwas für den Mann tun… Was meinst du, zwei Bidon Wein und ein Paket Zigaretten? Ja? Einverstanden! – Die andern folgen dem Fistére und schließlich kommt Hassa auch zurück. Dieser Feigling! Degradieren! Unbedingt! Ich habe also bei dieser Sektion nichts mehr zu suchen und laufe zurück – aber die erste Sektion ist nicht mehr dort, wo ich sie gelassen habe. Farny hat sie genommen und macht einen Gegenangriff. Da steh ich also und weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich kann doch nicht meinen Säbel ziehen und – und – Denn erstens hab ich ihn gar nicht, den Säbel, sondern nur meine Ordonnanzpistole, und zweitens… Doch es gibt gar kein zweitens. Ich, der Führer der Kompagnie muß meinen Leuten nachlaufen, um den Gegenangriff nicht zu verpassen… Stell dir das vor, mein Kleiner – pardon Chef! Es war kein sehenswerter Anblick – oder vielleicht doch… Komisch ist es sicher gewesen…« sagt der Capitaine langsam und verträumt, so, als erblicke er sich selbst, wie er in jenem Augenblick ausgesehen haben muß. Der Chef räuspert sich.

»Wollten Sie etwas sagen…? He, Chef…! Nein? Nun, ich bin natürlich gleich außer Atem, bleibe stehen und warte, bis alles zu Ende ist. Resultat: Ein Schwerverletzter. Zehn Leichtverletzte. Ich danke Gott, daß wir keinen Toten zu beklagen haben…«

Die Petroleumlampe flackert, ein Windstoß fährt durchs Fenster und das Märchenkrönlein über dem Docht verschwindet. Doch statt des gelben Lichtes erfüllt ein bleicher Schein das Zimmer. Über dem Dach der Baracke, die dem Bürofenster gegenüberliegt, wird der Himmel grau.

»Schau, mein Kleiner…« flüstert der Capitaine. »Diese Farbe…! Weißt du, woran sie mich erinnert? – Nein? – An Pappeln, an die Blätter von Pappeln… Die Bäume stehen am Ufer des Kanals, der Mittagswind dreht ihre Blätter um, eine sanfte Sonne bescheint sie… Ach!« seufzt Chabert. »Morgen schreibst du mir in deiner schönsten Schrift ein Gesuch:

›Capitaine Chabert (Gaston), kommandierend die 2. berittene Kompagnie des III. Fremdenregiments an Seine Exzellenz den Herrn Kriegsminister…‹«

Er hat die Feder gepackt, der rundliche Mann in der zerknitterten Khakiuniform, und aus all den Papieren, die seinen Schreibtisch bedecken, einen Bogen herausgefischt, der ebenso zerknittert ist wie seine Uniform; nun schreibt er in seiner sauberen Bürokratenschrift, während er sich den Wortlaut des Gesuches laut und bisweilen stockend in die Feder diktiert…

»Das ist nutzlos, mon capitaine«, sagt Narcisse von der Tür her. »Erstens kann ich das Gesuch besser aufsetzen als Sie (strengen Sie Ihre Augen nicht an) und zweitens werden Sie nicht so schnell fortkommen. Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, muß man auch auslöffeln…«

Er öffnet die Türe. Draußen schreitet eine hohe weiße Gestalt vorbei. In diesem Augenblick wendet sich der Capitaine um – der Luftzug, der durch das Öffnen der Tür entstanden ist, reißt spielend die Papiere vom Tisch und läßt sie durchs Zimmer flattern – Chabert wendet sich um, sieht die weiße Gestalt, springt auf, beugt sich zur Tür hinaus… Schweigend vergeht eine Minute.

»Chef«, sagt Chabert heiser.

»Oui, mon capitaine?«

»Wo geht Lartigue hin?«

Narcisse hebt seine mächtigen Achseln. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und sein geringelter Bart ist in der unsicheren Dämmerung blau wie Stahl. Verächtlich läßt er die Worte seiner Antwort auf den runden Schädel seines Vorgesetzten tropfen:

»Ins Krankenzimmer. Zu Lös.«

Capitaine Chabert seufzt. Dann rafft er sich auf. Seine Stimme ist scharf wie noch nie.

»Das Gesuch an den Kriegsminister will ich um elf Uhr unterzeichnen. Verstanden?«

»Zu Befehl, Capitaine«, sagt Narcisse. Seine Brust wölbt sich vor, wie bei einer Frau. Gaston Chabert geht schlafen…


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