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Heißer Frühling.

Ostern eroberte sich Paul das Abgangszeugnis. Piek! erlaubte sich Gustel zu sagen um des außerordentlichen Falles willen, der sich nie wiederholen konnte. Mit vielen guten Wünschen, einem dicken Empfehlungsbrief von Frau Sorgert an ihren Schwager und einem kleinen, aber gewichtigen Schatzkästchen voll guter Lehren »bezog Paul die Universität Jena«.

»Erst mal dort ein Semester sich Bruder Studio fühlen,« sagte der Vater, »nachher dem Vaterlande ein ordentliches Jahr dienen und dann: an die Arbeit, an die Arbeit, – schnell vergehn die goldnen Tage.«

»Natürlich, Gustelchen, ich werde schließlich ein richtiger Studierstudent; jetzt aber wollen wir erst mal drei Semester lang die Knochen dehnen.«

So reiste er fröhlich ab, Gustel aber kam es sehr wehmütig leer vor in dieser Wohnung, wo auf allen Plätzen, in allen Ecken, auf jeder Schwelle die Erinnerung an den Bruder spukte. Sie jubelte auf, als plötzlich beschlossen wurde, lange vor den Ferien nach Göhren überzusiedeln. Ida zeigte Bleichsuchtsneigung, da sollte gleich ernstlich vorgegangen werden. Papa würde so oft als möglich zu Gast kommen, Kalkoffs waren schon dort; der Middelhagener Pfarrer, der Os und Ot allsommerlich die Schule zu ersetzen suchte, sollte auch Idas und Fridas Gelehrsamkeit durch eine mäßige Gangart vor dem völligen Einrosten bewahren.

Gustel hatte Göhren noch nie außer den Ferienzeiten erlebt. Wie still und heimlich das war – wie wonnig saß sich's am Strand, auf dem die wenigen Menschen sich weit verstreuten, wie kleine Pünktchen nur, die sich nichts angingen und nichts zuleide tun konnten.

Vollkommen wäre es gewesen, wenn nicht die Nachbarschaft ihr allzeit Sorgen gemacht hätte. Das Verhältnis zwischen Pauls beiden verflossenen Idealen wurde immer unerfreulicher; – jedesmal, wenn Gustel mit ihnen zusammen war, bangte ihr vor einer heftigen Aussprache, die ja unbedingt einmal kommen mußte, die nur Herminens gelassene Höflichkeit immer wieder hinausschob.

Gustel empfand zitternden Herzens, was Herminen diese Gelassenheit kosten mußte, und von Tag zu Tag befestigte sich ihr die Ueberzeugung, daß Myrrha Herminen zum Gehen zwingen wollte.

Einzig in der Großmutter und des Vaters Beisein hütete Myrrha ihre Zunge, aber Großmutter ging wenig aus und Bankier Kalkoff kam, ebenso wie Doktor Elwers, nur hie und da an die See.

Einmal brachte der heißersehnte Vater eine Nachricht mit, die Gustel ans Herz griff: Fräulein Charlotte war in Berlin gewesen. In Berlin gewesen, während Gustel nicht zu Hause war! Und wie hatten Freude, Hoffnung und Planschmiederei sich allzeit mit solch einem Besuch abgegeben!

»Fräulein Brant besuchte mich um eines ganz bestimmten Zweckes willen, Gustel; wir haben zusammen ein gutes Werk vor und du darfst uns helfen.«

Gustel antwortete nicht, noch lag das Rot der Enttäuschung auf ihren Wangen, aber mit ausdrucksvollem Blick sah sie den Vater an in Erwartung eines Wortes über das, wobei sie helfen sollte.

»Es handelt sich um Friederike Schauroth; nur ein klein wenig erfrischt vom letzten Sommer, hat sie gleich wieder mit vollem Dampf gearbeitet und ist nun so mit Kräften und Nerven zu Ende, daß gar nicht an ein Michaelisexamen gedacht werden kann. Der Arzt verlangt ein Jahr völlige Ruhe. Du kannst dir denken, wie unglücklich das arme Mädchen ist, wie schwer bedrückt von Sorgen, und du begreifst, daß eben diese Sorgen und die Pein über den Mißerfolg das Gesundwerden am meisten hindern. Gar nicht arbeiten, meinen wir deshalb, würde am schlimmsten für sie sein, sie darf nicht den ganzen Tag Zeit zum Grübeln haben.«

Da Doktor Elwers schwieg, nickte Gustel ein klein wenig mit dem Kopf. »Ja, Papa, aber –?«

»Nun also: nach langem Hin- und Hersinnen fiel uns etwas ein. Ich werde Friederike Schauroth für Ida und Frida als Sommerlehrerin anwerben. Da die Mädel sich pflegen sollen, wird auch Friederike wenig Arbeit haben, aber sich doch nützlich fühlen, und ihr könnt bis tief in den Herbst hinein hier bleiben, ohne daß die Busselchen allzusehr verwildern. Im Winter mag dann Friederike ihnen Nachhilfestunden geben, damit das versäumte halbe Jahr in der Schule nicht zu bemerklich wird, und sind die Kräfte wieder da, vermag sie auch in Berlin zu lernen und Examen zu machen. Sie kann dort Pauls Stübchen haben. – Nun, Gustel? ist das nicht weise zurecht gelegt? Mama findet das auch.«

»Die gute Mama,« sagte Gustel leise.

»Ja, Gustel; das müßten wir natürlich längst schon wissen, aber allemal, wenn wir so recht deutlich merken, wie gut sie ist, dann fällt es uns wieder auf wie etwas Neues.«

Gustel wurde rot und sah den Vater verwirrt an. »Du meinst – ich wäre ein schlechtes Mädchen –«

»Halt, halt; nicht gleich so im Galopp bis ganz hinunter in den Abgrund der Bosheit. Mir scheint nur, statt dich auf die Altersgenossin und das gute Werk zu freuen, denkt der törichte Kopf da an all die kleinen Unbequemlichkeiten, die möglicherweise aus solcher Guttat entspringen könnten. Natürlich müssen wir uns hie und da einmal zusammennehmen, wenn wir einen kranken Menschen und ein krankes Gemüt heilen wollen; aber welche Freude wird es dann auch sein, wenn einstmals Friederike Schauroth nicht nur als ein gesunder, sondern auch als ein heitrer Mensch von uns Abschied nimmt.«

»Papa,« sprach Gustel wehmütig, »du kennst Friederiken nicht.«

»Kennst du denn Gustel Elwers ohne Eltern, ohne Geschwister, mit Zukunftssorgen und überarbeiteten Nerven?«

»Nein, nein, die kenne ich natürlich nicht.«

»Nun also – wer weiß, was das für ein unangenehmes Persönchen wäre. Jetzt wollen wir einmal die Bekanntschaft mit jener uns gleichfalls fremden Friederike Schauroth machen, der es gut geht, die gesund gepflegt und etwas verwöhnt dabei wird.«

Friederike kam; sie war über Stralsund gereist, weil der Gedanke an die Seefahrt ihr angst machte. Nun hatte sie Fähre, Eisenbahn und Wagenfahrt hinter sich und war so zermürbt von alledem, daß sie zunächst zwei Tage im Bett liegen mußte und dann noch weitere acht umherschlich, trotz leidenschaftlichen Verlangens unfähig, die übernommenen Pflichten auszuüben.

Das brachte sie immer von Zeit zu Zeit wieder in Tränen und Gustel hatte zu trösten. Was dachte sich Gustel dabei für eine Menge Dinge aus, die ihr nie vorher eingefallen waren: vom Zweck des Lebens und dem Lobe der Geduld; was erzählte sie alles von den Leuten im Dorf – Dinge, die sie längst wußte, aber nie darauf angesehen hatte, ob sie wohl Farbe genug hätten, um einen Fremden zu erfreuen. Jetzt, da sie Friederiken unterhalten wollte, sah sie sich das zu Erzählende viel genauer von allen Seiten an, um die kluge Gefährtin nicht zu ärgern oder zu langweilen.

Sie suchte auch sonst Aerger von ihr fern zu halten, denn »Aerger ist wie Frost für eine Wunde, er hält jegliche Heilung zurück«, hatte Doktor Born voriges Jahr einmal gesagt, »Lachen aber ist die Sonne bei uns zu Lande – die heilt und lockt die Blumen aus der Erde.«

Zum Lachen freilich brachte Gustel Friederiken nicht leicht, hatte sie doch mit dem Aergerverhüten schon eine ganz hübsche Arbeit. Sie mußte oft tüchtig schelten.

»Ida, Frida! wie benehmt ihr euch! Ihr habt nett gegen Fräulein Schauroth zu sein, wie gebildete Kinder.«

Erst Schweigen, das etwas nach Verbissenheit aussah, dann ein Seufzer Idas und auf diesen Seufzer Fridas entschlossene Bemerkung: »Ich mag sie nicht.«

»Mögt sie nur! Jetzt ist sie krank; wenn sie gesund ist, ist sie famos – und wer gegen Kranke nicht sehr nett ist – ist ein ganz gewöhnlicher Mensch.«

Weg war Gustel und Ida und Frida starrten sich an.

Ein ganz gewöhnlicher Mensch? Sie beide – Elwersens nette Mädel? – die die allernettesten der Welt sein würden, wenn Gustel ihnen nicht leider zuvorgekommen wäre? Ein ganz gewöhnlicher Mensch? Das konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

»Weißt du was?« sprach Frida, »wir werden also sehr aufmerksam gegen die kranke Friederike sein, furchtbar ruhig in der Lehrstunde – es ist ja nicht lange – und von wegen dem Tüchertragen und Fußbankschleppen können wir uns ja ein bißchen fern von ihr halten, damit es nicht zu mopsig ist.«

Schwieriger war's, den Kalkoffärger von Friederiken fern zu halten. Myrrha warf rücksichtslos ihre Häkchen aus, mochten sie noch so schmerzhaft treffen, und auf Herminen war Friederike manchmal beinah eifersüchtig, wenn Gustel ihr hilfreich zusprang.

Aber schließlich gelang Gustels Beruhigungsfeldzug; – bald als Steuermann, bald als Moralprediger, dann als Schildträger, brachte der Spatz Friederiken leidlich sanft über die ersten bösen vier Wochen hinüber und sah dann auf einmal mit Staunen, wie recht der Vater gehabt hatte. Sie machten die Bekanntschaft einer ganz neuen Friederike, einer Friederike, die sogar herzlich lachen konnte über kindischen Uebermut.

Das ging freilich nicht ohne Rückfälle; ab und auf stieg die Stimmung – aber vorwärts kamen sie trotz alledem, und als die Ferien nahten, die den Vater bringen sollten, und Gustel sich zum erstenmal überlegte, ob er Friederiken wohl besser finden werde – strömte ihr ein heißes Glücksgefühl durch das Herz: er würde zufrieden sein.

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