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Trauter Mühlengesang.

An einem sonnigen Septembertag fuhr der Fünfuhrzug mit dumpfem Pfiff in Altenburg ein. Ein frisches junges Gesicht steckte sein Näschen zum Damenabteil heraus und schaute suchend auf und ab.

Kaum hielt der Zug, so öffnete eine kleine, feste Hand die Tür, eine zierliche Person sprang heraus und fiel der andern zierlichen Person, die draußen wartend gestanden hatte, in die Arme hinein.

»Willkommen, liebes Waldweibchen, willkommen!«

Dabei brannten Lydias Wangen und ihr Herz klopfte; – schier leidenschaftlich drückte sie Gustel an sich, die ließ sich's gefallen, bis sie merkte, daß man ihren Begrüßungseifer aus zwei Zugfenstern und vom Bahnsteig her als Augenweide nahm; da machte sie sich frei, rümpfte das stolze Näschen und sagte: »So, nun wird sich erst in Holkwitz wieder lieb gehabt und nie mehr vor Leuten, dazu sind wir jetzt zu alte Damen. Was siehst du frisch aus, Lydia! Alles gesund und vergnügt zu Hause? Ich bringe dir viele, viele Grüße, auch von Kalkoffs, die wieder in Berlin sind. Nächstens kommt der Herr Kalkoff zu euch – ach du, was ich mich freue!«

»Willst du deine Sachen aus dem Wagen holen?« fragte Lydia, die immer noch nicht mit ihrer Examenangst fertig war.

»Nichts hab' ich weiter – das Täschchen hängt um, der Schirm ist da – alles andre steckt im Koffer.«

»Großartig – nun komm, Michel soll den Koffer holen.«

Sie gingen zusammen durch die Schalterhalle nach der Freitreppe, vor der ein hübscher, mit zwei behäbigen Braunen bespannter Bankwagen hielt. Michel, der Knecht, war im Sonntagsstaat und hielt die Peitsche kerzengerad in die Höhe, wie er's »vom Grafen seinen« gesehen hatte.

Als er Lydias ansichtig wurde, kletterte er vom Bock, drückte ihr die Peitsche und die Zügel in die Hand und sagte: »Nu well ich 'n Kuffer hule.«

Gespannten Auges, mit der Achtsamkeit eines Anthropologen, der einen neuen Menschenstamm ergründen will, betrachtete Gustel den Kutscher.

»Wer ist das nun?«

»Michel, der Großknecht. Eigentlich sollte ich nur einen Einspänner haben und den Jungen, aber ich wollte dir wenigstens das Wenige, was wir können, im Staat zeigen.«

Der Knecht kam etwas breitbeinig, schweren Ganges zurück, Gustels Koffer dagegen tanzte ihm leicht auf der Schulter, er schob ihn auf den Hinterreihen – der Wagen hatte zwei Polsterbänke, die wie Theatersitze hintereinander standen –, nahm Zügel und Peitsche zurück, half dann mit einer etwas lappigen Höflichkeit beiden Mädchen einsteigen, sprang auf und drehte den Kopf.

»Wu sall ich 'n nu zufahre?«

»Langsam am Schloß vorbei und über den Markt bis zum großen Teich; dann flink nach Hause.«

»Bung, dos wellmer ä su moche.« Michel wandte sich zu den Pferden zurück, schnalzte und fuhr los. Gustel aber sagte betroffen und etwas gedrückt: »Ich verstehe kein Wort.«

Lydia lachte. »Ja, Gustelchen, das ist Altenburg; du hast durchaus nach Holkwitz gewollt, wenn dir nun so zu Mute ist, als sprächen sie dort japanisch um dich her, mußt du's eben leiden.«

Da wandte sich Michel um, deutete mit der Spitze der Peitsche geradeaus auf ein breites Haus im Grünen und sagte wohlwollend: »Ich kann mich oo städtsch ausdrücke, dos is es Museum, un die Bäume drim rim sin d'r Schlußgarten.«

Gustel und Lydia sahen sich an, sie mußten beide lachen über dies Städtische, dann stieg es verdächtig in Lydias braunen Augen auf. »Ach, du wirst über alles lachen müssen, über alles, und morgen bitte ich Vater, daß er Herrn Kalkoff abschreibt. Der darf nicht kommen, und wenn darüber die schreckliche Mühle nie verkauft werden sollte.«

Ganz leise sagte sie das; Michel brauchte es nicht zu hören, und ebenso leise und sehr eifrig antwortete Gustel. Viel Liebes, viel trauliche, verständige Worte, wie sie deren schon manchmal für Lydia aus ihrem warmen Herzen herausgeholt hatte. Sie merkten gar nicht, daß Michel am Museum vorbeifuhr, den Schloßgarten entlang; er aber merkte, wie unaufmerksam sie waren, guckte einmal rechts, einmal links zurück, und als der Blick auf das Schloß frei wurde, eines jeden Altenburgers Stolz, hielt er mit merkbarem Ruck seine Braunen an, knallte kräftig, als wolle er einen säumigen Wirt herausrufen, und sprach zurück: »Nu odder ooch gucke – do hommersch! un su e wos hon se nuch longe nech in ehrn Barlin.«

Gustel guckte, diesmal hatte sie Micheln schon ganz gut verstanden, zumal die Peitsche ihre Zeichensprache dazu gab.

Es war auch des Anguckens wert: breit und stattlich lag das alte Schloß mit seinen zahllosen Fenstern, unregelmäßig durcheinander geschobenen Flügeln, mannigfaltigen Türmen, Altanen und Balkonen oben auf hohem Rasenwall und spiegelte sich in einem grün umbuschten Teich.

Schöner noch schien Gustel dies Schloß von der andern Seite, wo der Hauptflügel auf steilem Porphyrfelsen über die Stadt ragt, die schlanke gotische Kapelle ihre Türmchen und Pfeiler gen Himmel reckt, und eine in riesigem Bogen über die Felsen geführte Auffahrt ihm bei aller Unnahbarkeit ein gast- und menschenfreundliches Angesicht gibt.

»Aber das ist ja wunderschön!«

»Galle he?« Gelt du = nicht wahr?

Michel sprach es voll Befriedigung: der Gast, über den er von wegen des Sonntagsstaats und des blanken Wagens in der Erntearbeit weidlich geschimpft hatte, gewann sein Herz. Etwas flotter wie bisher fuhr er zur Landsbank hinauf, mit der Peitsche auf die sie krönende Saxonia zeigend, dann ging's wieder bergab, ohne auch nur im geringsten einzuschleifen, und über den Markt. Wo irgend Lydia eine Sehenswürdigkeit zu vergessen schien, half Michel getreulich nach. »Der große Teich« mit der grünen, pappelbestandenen Insel war das Letzte, dann fuhren sie zur Stadt hinaus. Die wohlgenährten Braunen liefen, als sei der Teufel hinter ihnen drein; die wellige Landstraße machte ihnen keine Beschwerde. Michel schnalzte hie und da, wenn's bergauf ging; das genügte, den Ehrgeiz der Rosse zu stacheln; bergab verachtete er auch hier außen das Schleifzeug. Lydia war es gewohnt und Gustel dachte nach Ueberwindung des ersten Unbehagens: »Ländlich – sittlich, es laufen so viele Leute mit ganzen Gliedmaßen hier herum, daß unmöglich jeder Wagen, der ohne Hemmschuh bergab fährt, in Trümmer gehen kann.«

So fuhren sie denn weiter auf und ab zwischen Kirschbäumen hin. Und in solchem Aufundab schien das ganze Land sich hinzustrecken, so weit Gustel zu sehen vermochte. Viel Stoppelfelder gab es schon, aber auch noch rotgoldne Aehren, in weichen Wellen von einem sanften Herbstwind auf und ab bewegt; der schwere Altenburger Boden läßt langsam reifen. Hafer stand noch aller Orten. Kraut und Kartoffeln sahen üppig aus. Klee brüstete sich in großblättriger Fülle auf langen Strecken.

»Welche Pracht!«

»Nicht wahr?« Es regte sich doch etwas wie Stolz in Lydias Brust; sie wußte auch ganz gut Bescheid mit allem, was da wuchs oder sonst ringsum im Land zu sehen war, und fühlte sich dem Stadtspatz sehr behaglich »über«.

In der Hauptstadt war Wochenmarkt gewesen und heimkehrende Landleute belebten die Straße. Gustel sah einspännige Wagen, in denen Körbe standen, neben denen die Bauernweiber auf Stroh hockten, oder auf einer eingehenkten Bank, die in Riemen lose hin und her pendelte, sah Radewellen mit leeren Kartoffelsäcken, Hundekarren, Schubkarren und Handwägelchen, Ein- und Zweispänner, – das alles überholten Michels vom Zungenschnalz angetriebene, glattglänzende Braune.

Gleich hinter der Stadt begegneten sie einem Schubkarren, den eine Bäuerin schob in einer Tracht, wie solche Gustel freilich noch nie gesehen hatte. Ein enger, nur bis zum Knie reichender Rock umspannte die Gestalt so fest, daß die Frau nur ganz kleine Schrittchen zu machen vermochte. Ueber diesem Rock trug sie eine etwas längere breitbändrige Schürze, die rings um den ganzen Menschen lief; die dunkelblauen Strümpfe waren in ihrer vollen Länge zu sehen vom Knie bis zu den ausgeschnittnen Schuhen. Der Oberkörper steckte in einem miederartigen Schnürleib, der sogenannten Kontusche, der Kopf in einem seltsamen Kopftuch, das kein bißchen Haar herausgucken ließ und vom Nacken an in einer zweiten, doppelflügligen Schürze über den Rücken hinabfiel.

Gustel sagte nichts, und sah sich die Frau ein wenig verstohlen an.

Ob das wohl die Tracht war, die Frau Krafft trug? Ein wenig unbehaglich war ihr der Gedanke, aber gleich darauf schalt sie sich aus: »Wenn deine Mütter und Urmütter so gegangen wären, fändest du es auch nett. Sei nicht albern, Gustel Elwers, Kleider machen nicht Leute.«

Lydia aber hatte den Blick wohl gesehen, und als sie wieder einer Bäuerin begegneten, sagte sie sehr tapfer – nur die Lippen zuckten ein ganz klein bißchen: »Das ist nun die altenburgische Tracht; freilich nur für die Arbeit. Sonntags gibt's weiße Strümpfe und statt der Kontusche einen Spenzer, das ist eine Jacke, in die vorn ein ganz steifer vom Gürtel bis zum Knie reichender halbrunder Latz eingeschoben wird. Die Männertracht ist viel hübscher, trotzdem sieht man sie viel seltener – manche der großen Bauern tragen sie nur noch bei feierlichen Gelegenheiten, wie der Offizier die Galauniform. Ach dort! Da ist einer, der auf dem Wagen dort. Sieh dir seine Tracht an. Pumphosen, Jacke und das kleine runde Hütchen sind die Hauptstücke.«

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Gleich hinter der Stadt begegneten sie einem Schubkarren, den eine Bäuerin schob.

»Merkwürdig,« sagte Gustel, »wie verschieden es in der Welt zugeht.«

Was sie noch vorbringen wollte, blieb ungehört, von der Höhe ging jetzt die Straße ins Dorf hinab; merkwürdigerweise schleifte Michel diesmal die Radbremse an, und das Kreischen des Rades und das neugierige Umschauen in dem ersten Altenburger Dorf ließen Gustels Rede gleicherweise stocken.

»Holktz!« rief Michel, mit der Peitsche einen weiten Kreis beschreibend, und Gustel begriff, daß dies Holkwitz heißen sollte. Sauber war die Straße, die hinabführte, behäbig standen die kleinen Häuser beisammen, alle hatten vorn einen Blumengarten mit starkduftenden Gewächsen »für den Kirchenstrauß«, mit grellgelben Kürbissen und Spalierwein, rückwärts einen Grasgarten mit Aepfel- und Zwetschenbäumen, die jetzt voller Früchte hingen.

Diese Straße führte geradeaus auf einen Fluß zu, der in mäßiger Breite lebhaft dahinfloß, bog sich dann, diesem Flusse folgend, nach links und hatte just hier am Ausbug die Mühle liegen.

Gustel hörte plötzlich das Rauschen des Wehres und sah einen Steg über das Wasser geschlagen, dann bog der Wagen aus, gewann in einer halsbrechenden Kurve, auf die Michel sehr stolz war, das Tor und fuhr rechtsum in den Mühlhof ein.

Gustel hätte auf einem Rittergute zu sein gemeint, wenn sie's nicht eben besser gewußt und das Rauschen des Wassers und das seltsame Klappern des gehenden Werkes sie nicht eines andern belehrt hätten.

Ein blanker viereckiger Hof lag vor ihr, die Düngerstätte in seiner Mitte war aufs stattlichste ummauert, rechter Hand begrenzte ihn ein freundliches einstöckiges, aber langgedehntes Haus, vor welchem grüne Bänke standen und eine Bohnenlaube in fröhlichster blütenroter Pracht in die Welt hineinlachte – geradeaus breiteten sich Scheuern und Ställe – zur Linken am Wasser lag das eigentliche Mühlhaus.

Und laut war's in dieser ländlichen Stille! Die Pumpe knarrte, die Kühe brüllten, Melkeimer klapperten, das Geflügel rannte ruckend und gurrend umher.

»Himmlisch!« rief Gustel und sprang mit kühnem Satz vom Wagen, ehe Michel die helfende Hand ausstrecken konnte.

»Sachtchen, sachtchen,« sagte er. Als aber alles gut ablief, verzog er das Gesicht zu einem vergnügten Schmunzeln und sagte befriedigt: »Dos is ju e Murdskarl!« Die beiden Braunen und der Sonntagsstaat taten ihm nicht fürder leid.

Wie Gustel so dastand, mit heißen Wangen und glänzenden Augen Umschau haltend, kam eine Frau aus der Bohnenlaube. Sie war ungefähr ebenso gekleidet wie die Bäuerin mit dem Schubkarren, hatte einen Korb Aepfel im Arm, den sie auf die Bank setzte, wischte sich die Finger an der Schürze von Obstsaft rein und kam auf die Mädchen zu.

»Mutter,« sagte Lydia leise und eilte mit der Freundin Frau Krafft entgegen.

»Da bin ich,« sagte Gustel, »und ich danke sehr schön für die Einladung und meine Eltern lassen auch vielmals grüßen.«

Frau Krafft sah Gustel mit freundlichen, gutmütigen Augen prüfend an. Ihr rundes Gesicht war frisch und rotwangig, die Hand aber rauh und hart, eine tüchtige Arbeitshand.

»Guten Tag auch,« sagte sie, »und laßt's Euch bei uns gefallen. Wir wollten doch der Lydia ihre beste Freundin so sachte kennen lernen. Lydia, nu führ mal den Gast auf die Stube.«

Frau Krafft sprach jetzt nur mit einem ganz kleinen Anklang an die altenburgische Mundart, als die beiden Mädchen aber in die kühle, große Hausflur getreten waren, hörten sie die Frau draußen zu Michel sagen: »Wos stiehst de denn un guckst? moch flenk, der Bauer wort uff'n Falde – mr muß nich su vel Sparenzien moche!«

»Ju, ju, Frau, nor immer stateweg, 'ch gieh schun vun salber,« klang Michels verhallende Antwort dagegen, während die Freundinnen die breite, schlichte Treppe hinaufliefen. Auf dem ersten Absatz tickte ihnen eine hohe Schrankuhr entgegen.

»Uralt,« sagte Lydia.

Gustel sah unwillkürlich eine lange, lange Reihe von Urahnen, Großmüttern und Müttern mit Namen Krafft vor dieser Uhr stehen und sich die Arbeitszeit ablesen – wo hatten sich zu ihren Zeiten die Elwerse in der Welt herumgetrieben? Sowie sie nach Hause kam, wollte sie den Vater danach fragen, und sie meinte auf einmal zu begreifen, was das Schwerste für Lydias Eltern sein würde, wenn sie das Mühlgut verkauften. Sie selbst kam sich wie ein ganz neuer wurzelloser Mensch vor, den der erste Wind ohne Schaden auf ein andres Plätzchen wehen konnte, sie würde schon weiter wachsen, aber die hier waren wie ein uralter Baum, der Wurzeln haustief in die Erde geschickt hatte; wenn man den ausgrub, würde er anderswo wieder einwurzeln können? Vielleicht wenn er mußte – aber aus freiem Willen? Wenn Reue über den unnötigen Wechsel die Kraft des guten Willens täglich aufs neue schwächen würde?

Sie folgte Lydia einen breiten Gang entlang, der weiß gescheuert, mit gekräuseltem Sand bestreut, an breiten, niedrigen weißen Türen vorbeiführte und durch dies viele Weiß ganz hell war, obwohl nur an seinem Ende zwei Fenster ein grünes, baumverschattetes Licht einließen.

Nahe diesem Ende öffnete Lydia eine Tür und ließ Gustel eintreten. Sie standen in einem großen Zimmer; breit und niedrig waren auch hier die Fenster, die allesamt ins Grüne sahen, breit war das Bett an der Wand und alle andern Gerätschaften, breit und fest – wie für die Ewigkeit getischlert. In Kleinigkeiten verriet sich Lydias schmückende Hand: vor dem Sofa lag ein hübscher Teppich, Blumen putzten den Tisch und ein paar Niedlichkeiten standen und lagen umher.

Gustel fand dies ganze Zimmer mit allem Neuen und Gewohnten gleichermaßen »heimelich«. Lydia selbst aber war gar nicht mit ihrem Erfolg zufrieden. Sie fiel Gustel um den Hals und sagte: »Bitte, bitte, laß dir's gefallen und bereue es nur ja nicht, und was du auch erlebst: bitte, bitte, behalte mich lieb.«

»O du!« antwortete Gustel nur – das andre überließ sie einem nachdrücklichen Kuß. – Nachher sagte sie, während sie ihr Hütchen absetzte: »Wie jung deine Mutter aussieht! Glaubst du, daß sie mich schließlich wird leiden mögen?«

»Natürlich, dich mögen ja alle Menschen leiden; es ist mir gar nicht bange.«

»Du, du! willst du mich eitel machen? – Ja nicht, sonst kommt gleich der Spatz heraus, dickgefüttert von Selbstvertrauen, und dann mach' ich dummes Zeug. Und es ist auch nicht wahr: Erna und auch Fanny haben mich ja nie gemocht.«

»Weil sie dumm waren.«

Gustel wollte eben ernstlich böse werden, da kam Michel mit dem Koffer und gab ihrem Gespräch eine andre Richtung.

»Bist du müde? Bist du hungrig? Sonst wollen wir gleich noch Vater guten Tag sagen, er ist drüben auf dem Felde.«

Gustel war sofort bereit, mitzukommen; die Wonne über all das Neue, was sie zu sehen bekam, hätte sie über jegliche Müdigkeit weggetäuscht.

Die Mädchen gingen wieder hinab, über den Hof in das Mühlhaus hinein. Gustel wollte schon Mühlenstudien machen, aber sie war nur in einem Durchgang und atmete unwillkürlich auf, als sie aus dem Bereiche des dröhnenden Werkes hinaus in das Freie trat. Ein schmaler Brettersteg führte längs des Hauses über dem Wasser hin – gerade vor ihnen gingen die Balken des Wehrs quer über den Fluß.

»Traust du dich da hinüber zu laufen? Sonst ist dort der Weg und ein Stück weiter hin die steinerne Brücke.«

Natürlich traute sich Gustel; die Balken waren trocken und breit und so fest wie Eisen. – »Sie haben noch jeden Eisgang ausgehalten,« sagte Lydia stolz.

Inmitten des Flusses blieb Gustel stehen und sah sich um. Ein eigenes wonniges Gefühl umfaßte sie: das Rauschen des Wassers, das Klappern der Mühle, der Duft des Grummets, der von den flußumsäumenden Wiesen aufstieg, – buschigen Wiesen, hie und da von einem Trüppel glanzblättriger Erlen oder silbriger Weiden bestanden – wie war das schön! Gebirgsbewohner hätten nichts Bewundernswertes an diesen Ufern gefunden, aber das Kind der Ebene sah jeden kleinen Reiz dieses gewundenen Flußlaufs; die schroffen Wände eines alten Steinbruchs schienen ihm majestätisch, die kleinen Rinnsale, die rechts und links sanftmütig einmündeten, lieblich, die schattigen Ufer wie aus einem Königspark, und alles ringsum war frisch und grün und üppig.

»O Lydia, Lydia!« rief Gustel, »ich habe mir eine Mühle anders gedacht – klein und hoch hinauf, in einer wildromantischen Felsschlucht, an einem schmalen stürzenden Bach – aber so schön, wie dies alles hier ist, doch lange nicht. Wird dir nicht einmal das Herz brechen vor Sehnsucht, wenn du das nicht mehr haben kannst?«

»Du hast mir versprochen, erst alles ganz genau anzusehen, ehe du urteilst!« sagte Lydia leise.

»Ja, und das will ich, wenn ich aber etwas so schön finde, muß ich reden, sonst ersticke ich vor Entzücken. – Und da sind auch Kähne! Lyddi, wir können Kahn fahren?«

Lydia nickte Zustimmung. »Unterhalb des Wehrs,« sagte sie sehr leise, »oben leidet's Vater nicht. Ich hatte zwei Brüder, weißt du, mit denen ist da oberhalb der Kahn einmal umgeschlagen, und die Mühle hat beide umgebracht. Ich hab' es dir nie erzählt, weil es zu schrecklich ist.«

Mit einem Blick des Entsetzens sah Gustel nach dem Bretterhaus, hinter dem das Rad donnerte – und ein Schleier schien über das lichte Landschaftsbild zu fallen. Sie eilte jetzt an das andre Ufer hinüber und ließ dann Lydia vorausgehen.

Nach kurzer Wanderung über einen Wiesenweg, durch einen schmalen Busch, standen sie vor dem Feld, auf dem der Müller Krafft »nach dem Rechten sah«.

Man war beim Ausnehmen von Frühkartoffeln; breitschultrig stand der Bauer auf dem Rain, hie und da ein Wort die Reihen der Arbeiter entlang rufend.

Wie ein Feldherr, dachte Gustel. Die Mädchen waren schon ziemlich nahe, als Michel sie überholte; er hatte sich umgezogen und ging mit Schritten seinen Weg, die so langsam schienen wie all seine Bewegungen, dabei aber so lang waren, daß er die trippelnde Eile der beiden Mädchen in kürzester Frist hinter sich zurückließ.

»Wedder da?« sagte der Bauer, als der Knecht neben ihm stand, und wandte sich von den Kartoffeln weg: Michel übernahm nun die nötige Aufsicht. Beim Umwenden aber wurde der Bauer der Mädchen ansichtig, blieb stehen und ließ sie herankommen.

»Guck mal an, da is jo dos Gustel. Nu laß der's gefalle un moch mer de Lydia nich wetterkopsch.«

Dabei gab er Gustel die Hand, aber lange nicht so kräftig, wie sie's gerne gehabt hätte, auch machte sie seine Rede zu nachdenklich, als daß ihr gleich die richtige Antwort eingefallen wäre. Er wartete gar nicht darauf, er hielt nichts vom vielen Reden, nickte den Mädchen noch einmal zu und ging quer übers Feld nach dem Steinbruch zu.

»Hinterm Steinbruch ackern sie,« erklärte Lydia leise, und in diese Erklärung hinein klang die Stimme des zurückrufenden Vaters: »Sag der Mutter, Feieromd kumm 'ch wedder.«

Vater Krafft hielt es nicht für nötig, um des Berliner Gastes willen hochdeutsch zu reden.

»Weißt du was,« sagte Gustel, als er in dem Hohlweg verschwand, der durch den Steinbruch führte, »jetzt fiel mir Walter Scott ein.«

»Ich habe nichts von Walter Scott gelesen,« antwortete Lydia wieder leise.

»Nicht? Dann tu's. Piek! Und nun zeig mir, zeig mir – ich bin so kribbelich auf alles Neue; ich kann heute nicht still auf einem Platze stehen.«

Und Lydia zeigte das Mühlwerk mit den mächtigen Rädern, Walzen und Riemen, den großen Steinen und endlosen Böden, die Ställe mit ihrem warmen, wunderlich gemischten Duft, den Blumengarten, der zwar größer war, sonst aber durchaus den kleinen in der Dorfstraße glich, neben ihm den Gemüsefleck und den großen heckenumgebenen Grasgarten hinter dem Haus, in den die Fenster der Gaststube guckten.

Erst das Läuten der Feierabendglocke rief die Mädchen zurück. Als sie in die große Unterstube traten, fanden sie da eine lange Tafel, fertig für das Abendbrot, und das ganze Gesinde versammelt. Gleich nach ihnen trat auch der Bauer ein und ging an seinen Platz oben quer an der schmalen Seite des Tisches.

»Gesegn's Gott!« sagte er und setzte sich. »Gesegn's Gott!« antworteten die Leute und taten desgleichen.

Neben dem Vater saß die Mutter, ihr gegenüber hatte Gustel ihren Platz bekommen und an ihrer andern Seite saß Lydia, dann reihten sich hüben und drüben in strenger Rangfolge der Großknecht und die Müllerburschen bis zum kleinsten Stalljungen herab; danach erst kamen die »Weibsen« des Guts, von der »Grußmeed« an bis zum Gänsemädchen.

Viele Menschen und alle schweigsam, nur die Löffel klapperten in den Näpfen mit der sauren Milch, und danach die Messer auf den Tellern. Gustel war's, als sei ihr Märchenbuch lebendig geworden: Vater Krafft kam ihr vor wie ein alter Rittersmann, um den seine Mannen und Bankgenossen in der Halle saßen, oder wenn sie noch weiter zurückdachte, wie ein König aus Jung Frithjofs Zeit oder vom Phäakenland, wo die Königin mit ihren Mägden in der Halle spann und am Wasser die Wäsche spülte.

Sie konnte nicht anders, sie mußte schwatzen, sie war zu aufgeregt.

Erst sah Vater Krafft sie prüfend an. Das Bauernmißtrauen war lebendig in ihm, trotz Lydias begeisterter Schilderung; hielt er doch seine Lydia für, leider Gottes, ein bißchen verdreht. Er hatte diese Berlinerin nicht nur eingeladen, weil er sich »von keinem Menschen nichts schenken ließ« – er hätte die Elwerssche Gastfreundschaft auch mit Nahrungsmittelkisten wettmachen können – sondern weil er sich »das Denk« Das Ding – Dingelchen. mal ansehen wollte. Gefiel sie ihm nicht, dann sollte sein »Mächen« keinen Schritt wieder ins Preußische hinein dürfen.

Sein prüfender Blick, den Lydia ängstlich beobachtete, verlor aber bald an Schärfe, und als die ahnungslose Gustel erzählte, wie fein ihr das Altenburger Land gefalle, und wie jämmerlich bei ihnen daheim die sandigen Felder aussähen: ein Halm so weit vom andern, daß sein Schatten dem Nachbar mühsam guten Tag sagen könne, da lachte der Bauer kurz und hell auf und sagte: »E su e Quirlequitsch!«

Und auf dieses Wort hin ging ein Kichern um die ganze Tafelrunde. Das Lob der Felder setzte Gustel, ohne daß sie das beabsichtigt hatte, auf einmal mitten hinein in die Gunst der Holkwitzer.

Um Neun ging das ganze Gut schlafen; Gustel aber packte erst gemächlich ihren Koffer aus, guckte noch ein bißchen in den Grasgarten, wo sie nie gehörte Naturstimmen zu belauschen meinte, schrieb einen langen Brief nach Hause und schlief so spät ein, daß am andern Morgen das zeitig erwachende Leben und Treiben der Landwirtschaft ihrem Schlaf durchaus nichts anhaben konnte.

So kam's, daß Lydia, als sie um Acht in das Gastzimmer guckte, eine Langschläferin fand, und diese Langschläferin fühlte sich plötzlich durch einen stürmischen Kuß geweckt: »Gustel, Gustel, komm schnell! Wir müssen gleich schreiben, ich darf Schönchen einladen!«

Gustel setzte sich vergnügt aufrecht. »Schönchen könnte schon da sein, du Trödlerin.«

»Nein, nein, sie könnte nicht. Ganz unmöglich. Vater wollte nicht, erst müsse er sehen, wie du ihm gefielest, eh' er die andre Stadtpflanze auch noch herein ließe.«

»Ich?«

»Jawohl, und eben jetzt, eh' er aufs Feld ging, hat er gesagt: ›Schreib flink an deine Münchnerin und lade sie ordentlich ein, damit sie zum Erntefest da ist!‹ Goldige Gustel!«

Gustel war glühendrot geworden, sie hielt den Strumpf, den sie eben anziehen wollte, hoch in der Luft und stotterte: »Das heißt? heißt das wirklich – dein Vater mag mich gern?«

»Freilich. Ich wußte es gestern schon, als er dich Quirlequitsch nannte. So sagte er immer zu mir – als – als er noch zufrieden mit mir war.«

Ein verlegenes Mitleid dämpfte Gustels Freude. »Was heißt denn eigentlich Quirlequitsch?« fragte sie endlich.

»Etwas Nettes natürlich – es kommt von quirlen – ich glaube: lustig und beweglich muß ein richtiger Quirlequitsch sein.«

»Also sei lustig und beweglich, du dumme Lyddi!« rief Gustel und sprang aus dem Bett. Der Brief an Schönchen war natürlich von großer Eile.

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