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Villa Schering.

»Hier, Klementine! Hier haben wir auch dein Fischchen!« rief Charlotte Brant zum Fenster hinaus und hob winkend die Hand.

Eine große, etwas hagere Dame kam schnellen Schrittes heran, schüttelte Charlotten die Hand, begrüßte Frau Professor Rhenius und wandte sich dann zu Gustel.

»Auguste Elwers oder Lydia Krafft?« fragte sie, die kleine zögernde Hand ergreifend, »ich erwarte zwei neue Zöglinge.«

Gustels letzter Rest von Mut war verflogen. So intim war Fräulein Charlotte mit der Villa Schering? Sie duzten sich sogar! Wenn sie nun von ihren Untaten erzählte und diese Klementine im voraus auf Gustel Wildfangs Fehler aufmerksam machte? Aber im nächsten Augenblick beruhigte sie sich schon. Nein, das würde dieses goldige Fräulein Charlotte nicht tun; außerdem war Gustels anmaßendes, kleines Herz im tiefsten Grunde davon überzeugt, daß Charlotte sie lieb habe, richtig lieb, wenn sie es auch mit keinem halben Worte zugegeben hatte.

Sie ergriff also bedeutend mutiger die dargebotene Hand und sagte: »Auguste Elwers! Meine Eltern lassen sich sehr empfehlen und Mama hätte mich gern selbst gebracht, aber sie war erkältet, und ich soll gleich eine Postkarte in den Kasten stecken, sobald Sie mich glücklich hier haben.«

Dann sagte Charlotte, die inzwischen Onkel Rhenius, einen prächtigen alten Herrn, begrüßt und der Tante aus dem Wagen geholfen hatte, mit schelmischem Lächeln: »Hier nebenan saß noch ein kleiner Diamant, der geschliffen werden will!« und richtig, eben stiegen als die letzten von sechs Reisenden der alte Herr mit den leuchtenden blauen Augen und das zierliche Fräuleinchen vom Bahnhof Weimar aus und sahen sich um.

»Lydia Krafft?« fragte Fräulein Schering, und gleich darauf sah Gustel noch, wie sich die drei nebenan die Hände schüttelten. Dann wurde sie Professor Rhenius als neue Schülerin vorgestellt und durfte die Schirme und Taschen, die sie aus dem Wagen geräumt hatte, an Charlottens nettes Dienstmädchen abgeben.

»Unsre alte gute Hanne kocht inzwischen Kaffee, weil Fräulein Lottchen keinen gewärmten mag, auch nimmt sie sechs Bohnen mehr dazu, als an uns allein spendiert werden, also dächt' ich, wir überließen die Villa Schering ihrem Schicksal und schlügen uns seitwärts in die Büsche.«

So sprach behaglich Professor Rhenius.

Als Gustel sich nach Fräulein Klementine umwandte, sah sie mit Bedauern den blauäugigen Herrn wieder in den Wagen steigen; der Zug brauste nach einigen Minuten ab. Gustel hatte inzwischen schnell ihre Karte schreiben dürfen.

»So, Kinder,« sagte Fräulein Klementine fröhlich, »nun macht Bekanntschaft, während ich euer Gepäck besorge und die Karte in den Kasten stecke. Aber ›du nennen‹, das bitte ich mir aus. Ihr seid jetzt für ein Jahr lang Schwestern.«

Darauf ging sie zu einem Manne, der seitwärts neben einem Schubkarren stand. »Ob der zur Villa Schering gehört?« dachte Gustel. Das schlohweiße Haar des Alten, die tausend Fältchen, die schier gegerbte Haut schienen mit einer jahrhundertlangen Laufbahn zu prahlen, die gewandte Kraft aber, die den Karren nach der Gepäckausgabe schob, strafte die Fältchen lügen. »Gefällt mir,« dachte Gustel.

Ebenso rüstig ging Fräulein Klementine neben ihm her. »Gefällt mir auch«, dachte Gustel noch einmal, dann wandte sie sich dem Mitfischlein zu.

»Schön guten Tag, Lydia Krafft und ›du‹! Auf gute Bekanntschaft!«

Lydia gab zögernd die Hand hin; dies Mitfischlein war für ihren Geschmack zu derb; sie sehnte sich nach feinerem Umgang.

»Wo bist du denn her?« fragte Gustel gemütlich weiter.

»Aus Thüringen.«

»Nein, so was,« dachte Gustel, »warum macht sie das so umständlich? Nun muß ich erst noch nach dem Ort fragen!« Sie tat's und Lydia antwortete etwas zögernd: »Aus – Holkwitz.«

»Na, siehst du, ich weiß zwar nicht, wo Holkwitz liegt, ich hätte es aber doch wissen können, und ich sage darum, wenn man mich fragt, woher ich komme, nicht erst aus Preußen, sondern gleich aus Berlin.«

»Ach!« Berlin erweckte Lydias Achtung. »Holkwitz liegt im Altenburgischen und ist sehr fruchtbar,« sagte sie wichtig, als solle die Fruchtbarkeit Berlins Vorzüge wenigstens etwas wett machen.

»Piek! Freut mich, ich mag's gern, wenn wir aus recht verschiedenen Weltwinkeln sind, da erfährt man was Neues. Du hast übrigens einen entzückenden Papa.«

Lydia errötete. »Das war nicht mein Papa, nur – sein – intimster Freund und unsres Grafen Amtmann und mein Pate.«

»Pate ist auch gut. Sind deine Eltern nicht wohl, daß keines mitgekommen ist?«

Lydia schwieg und wurde so rot, daß Gustel mitleidig dachte: »Ach, gewiß sind sie sehr krank oder gar eines von ihnen tot, ich frage nicht mehr.« Ehe sie aber von etwas anderm beginnen konnte, stand Fräulein Klementine wieder bei ihnen und sagte: »So, nun ›erlaufen‹ wir uns unsern Kaffee.«

Während sie nach der Villa Schering wanderten, erzählte das Fräulein von den Hausgenossen, mit denen sie nun ein Jahr lang zusammenleben und arbeiten sollten. Da wartete ihrer eine blonde Miß Harriet, klein und zierlich, wie die jungen Mädchen selber, aber eine vorzügliche Kennerin ihrer Sprache und ihrer Literatur; da lehrte auch Mademoiselle Laport, dunkelhaarig und älter an Jahren, eine Pariserin, von der ein elegantes Französisch spielend zu lernen war, sobald man den guten Willen dazu hatte.

Es gab in der Pension drei Achtzehnjährige, deren jede sich noch in einem besonderen Fach vervollkommnen wollte und deren Tageslauf nicht mit dem der Backfische zusammenging, außer den Mahlzeiten natürlich. Fünf Sechzehnjährige aber freuten sich auf die beiden neuen Arbeitsgenossinnen.

»Piek!« rief Gustel, wurde rot, wollte sich verbessern, schwieg aber lieber, denn Fräulein Klementine Schering berichtete weiter, als hätte sie gar nichts gehört, von Fräulein Lisbeth, der Kochkünstlerin, bei der die Backfischlein die Geheimnisse der Haushaltung lernen würden, von dem Direktor Professor Schering, Fräulein Klementinens Bruder, und von Professor Rhenius, den beiden Lehrern sämtlicher Wissenschaften.

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Während sie nach der Villa Schering wanderten, erzählte das Fräulein von den Hausgenossen.

»Und jener Mann, der sich dort hinter uns mit euren Koffern müht, das ist der Kellermann, Gärtner und Faktotum des Hauses, der nun schon seit beinahe fünfundvierzig Jahren im Dienste der Villa Schering steht. In fünf Jahren kann er sein goldenes Dienstjubiläum feiern.«

»Piek!« sagte Gustel schon wieder, ohne es überhaupt zu merken. »Fünfundvierzig Jahre, das ist romantisch, da muß er ja furchtbar alt sein!«

»Behüte; er trat fünfzehnjährig als Hausbursche bei meinen Eltern ein, ist vom Hausburschen zum Gärtner und Alleskönner aufgerückt und hält jetzt die ganze Villa zusammen. Fragt ihn nur gelegentlich mal selber.«

Dabei leuchtete verstohlene Schelmerei aus Fräulein Klementinens ernstem Gesicht. Das war gerade, als scheine auf einmal die Sonne über eine graue Landschaft, und in Gustels liebefähigem Herzen schoß gleich ein dicker, grüner Neigungskeim in die Höhe.

Da machte die Landstraße, die sie nun schon seit geraumer Zeit entlang gingen, eine Biegung und die Villa Schering lag inmitten ihres prächtigen Gartens vor ihnen.

Trotz der frühen Jahreszeit konnte man sagen, sie lag im Grünen, denn der Vorgarten war mit Thuja, Buchs, Immergrün, Epheu, Tannen und Mahonien geschmückt. Wunderhübsch sah es aus, das weiße Haus zwischen dem dunklen Grün, und weithin leuchtete in goldenen Buchstaben die Aufschrift über dem zierlichen Balkon: Villa Schering.

»Wie freue ich mich darauf, mit so viel gleichaltrigen Mädchen meiner Sphäre zusammen zu lernen,« sagte Lydia Krafft, als sie die Gartenschwelle überschritten, »ich war in dieser Beziehung recht vereinsamt.«

Gustel hatte zwar auch wenig Umgang mit Altersgenossinnen gehabt, weil Eltern und Geschwister sie völlig in Anspruch nahmen, aber daran dachte sie eben jetzt gar nicht; das Wort »vereinsamt« rührte sie, sie drückte Lydia die Hand und sagte tröstend: »Na, wart nur, wir wollen dich hier schon recht fidel aufkrempeln.«

Lydias entsetztes Gesicht bemerkte sie gar nicht, denn eben trat Professor Schering ihnen zu freundlichem Willkommen entgegen.

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