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Die Fahrt nach Saßnitz.

»Warum ist Herr Wehrmann auf einmal abgereist, Papa?« rief Gustel unmutig. »Ich finde es gar nicht nett, wenn man seine guten Freunde gleich ganz und gar aufgibt, sowie man einen kleinen Fehler an ihnen entdeckt. Herr Wehrmann hat gewiß auch Fehler! Du solltest ihm das einmal sagen, Papa.«

»Nachdem er abgereist ist?«

»Er wohnt in Berlin, Papa, du siehst ihn gewiß wieder und Briefe würden ihn sicher auch erreichen.«

»Wahrscheinlich. Ob aber meine Worte weiter als bis an Aug' oder Ohr kämen, das ist sehr fraglich. Bis ins Herz würden sie schwerlich dringen.«

»Papa! er hatte doch gewiß nicht recht! – so auf einmal! ohne adieu! mit dem frühesten Dampfer! das ist nicht sehr gebildet!«

»Er hat mir gestern adieu gesagt, kleine Gustel.«

Gustel sah ihren Vater starr an. »Er hat dir – und du hast ihn nicht festgehalten, Papa? Siehst du, Lydia hat es anfangs mit der Verheimlichung ihrer Familienverhältnisse gerade so gemacht wie Hermine, und ich fand sie schrecklich albern, und nachher tat sie mir doch wieder furchtbar leid; jetzt ist sie gewiß schon viel klüger, und so wär's mit Hermine auch geworden –«

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»Und du hast ihn nicht festgehalten, Papa?« fragte Gustel.

Der Vater zog sein Töchterchen zu sich heran und sagte zärtlich: »Mich freut, wenn du nicht hart und hochmütig bist, wo du einen Fehler siehst, der zufällig gerade nicht dein Fehler ist, Liebling; aber du wolltest doch Lydia nicht heiraten damals, wolltest nicht dein Glück, deine Ehre, dein ganzes künftiges Leben ihrer Wahrhaftigkeit anvertrauen. Das ist ein großer Unterschied. Wir können hier gar nichts tun, als wünschen, daß die beiden Menschenkinder jetzt ohne einander so glücklich werden, wie sie es vielleicht miteinander geworden wären; denn mir schien nicht so, als ob unser Maler den Stoß verwinden könne, den sein Glaube an Herminens schöne Seele erlitten hat.«

Gustel sah bekümmert vor sich nieder, endlich sagte sie: »Und weißt du, Papa, was Hermine nun denkt: die Rittergutstochter hat er heiraten wollen, die Pächterstochter ist ihm zu gering.«

»Nicht doch, Gustel; gewiß nicht, wenn sie ihn wirklich lieb gehabt hat.«

»Doch, Papa! Sie sagte gestern abend schon etwas, was nur so zu deuten war; natürlich so ins Allgemeine hinaus, aber wir verstanden es alle.«

»Um so schlimmer für sie, denn dann kann nicht einmal das Unglück sie besser machen,« sagte Doktor Elwers, sich von seinem Sitze erhebend. »Und nun schlag dir diese verunglückte Heiratsgeschichte aus den Gedanken, kleines Mädchen, jetzt wollen wir hinunter und Wasser treten.«

Eine halbe Stunde später trafen die vom Spatzennest mit denen aus der Villa am Badestrand zusammen. Hermine, die Gustel ganz verstohlen betrachtete, sah noch ein wenig hochmütiger aus als sonst, Myrrha war immer noch übler Laune. Abreisen hätte dieser törichte Maler natürlich nicht sollen, vielmehr sich von nun an fleißiger mit den andern Sterblichen beschäftigen; ja sie hatte eigentlich gewünscht, hier bei dieser günstigen Gelegenheit von ihm gemalt zu werden. Und nun lief der sentimentale Mensch gleich auf und davon! – Aber auch sie erwähnte ihn nicht, ebensowenig wie eines der Waldweibchen.

Lydia und Gustel tollten mit Ida und Frida im Wasser umher, das sich heute spiegelglatt bis zum Horizont dehnte. »Man muß selber ein bißchen Sturm machen.« Hermine und Myrrha besorgten das Baden wie ein lästiges, langweilendes Geschäft. Auch nachher beim Frühstück, das in den Lauben verzehrt wurde, gedachte niemand des Abgereisten, nur machte sich eine etwas gedrückte Stimmung bemerklich, die Doktor Born vergebens durch ein paar Kalauer aufzumuntern suchte.

Herr Kalkoff hatte sich gegen seine sonstige Gewohnheit einen Pack Zeitungen mitgenommen und las eifrig, was er noch gestern für kurwidrig und für eine Beleidigung der launischen Schönheit Ostsee erklärt haben würde. Hinter seiner etwas lauten, unbekümmert scheinenden Art verbarg sich ein warmes Herz; Hermine tat ihm leid, und daß er mit seinem Abgott, seiner Myrrha, unzufrieden sein mußte, das quälte ihn um so mehr, als er's nicht fertig brachte, ein tadelndes Wort gegen sie zu äußern.

So schluckte er seinen Aerger mit den abenteuerlichen Geschichten der Saurengurkenzeit in sich hinein, hie und da, wenn die Stille um ihn herum besonders auffällig wurde, las er eine besonders schöne Neuigkeit vor.

Auf einmal wurde er lebhaft, zeigte auf eine Stelle in der Zeitung und rief: »Fräulein Krafft, Fräulein Lydia! Sind Sie mit einem Müller Krafft verwandt?«

»Es gibt sehr viele Kraffts,« antwortete Lydia abweisend. Im selben Augenblick wurde sie dunkelrot; der gestrige Tag fiel ihr ein, »das heißt – –,« fügte sie hastig hinzu. Kalkoff aber fuhr schon lebhaft fort: »Dieser hier will seine Mühle verkaufen, das ist mir wichtig – fahnde schon lange auf so was, – wenn's 'ne ordentliche Sache ist, natürlich, und im Altenburgischen habe ich so wie so schon allerlei Eisen im Feuer.«

Lydia war aufgestanden, heiß und rot sah sie über Herrn Kalkoffs Schulter in das Blatt hinein. Da stand:

 

»Meine im Altenburgischen liegende Wassermühle, genannt die Holkmühle zu Holkwitz, soll aus freier Hand mit oder ohne die anliegenden Ländereien verkauft werden.

Hans Adam Krafft.«

 

»Das ist mein Vater,« sagte Lydia sehr leise, »ich habe ihn immer gebeten, die Mühle zu verkaufen und mit uns in die Stadt zu ziehen, aber ich wußte gar nicht, daß er's jetzt schon tun wolle und – und –«

»Aber das ist ja brennend interessant, brennend! Nun erzählen Sie mal.«

Er fing an, Lydia mit großem Geschick auszufragen, und ehe eine Viertelstunde verging, wußte er eine Menge Wichtiges über Wasserkraft, Lage und Betrieb der Holkmühle, obwohl Lydia alles in den goldensten Farben schilderte und eigentlich von der Müllerei gar nichts verstand.

»Wie merkwürdig,« sagte Myrrha nachlässig, »Müller ist Ihr Vater?«

Gustel lachte vergnügt. »Jawohl,« sagte sie, »und Myrrhas Vater scheint es werden zu wollen.«

Herr Kalkoff klopfte Gustel auf die Schulter. »Nehmen wir an, nehmen wir an, Sie kleines Frauenzimmerchen. Uebrigens werde ich noch heute Ihrem Vater einen Brief schreiben, Fräulein Lydia, und ihn bitten, mir mal die Holkwitzer Mühle in Naturfarben zu schildern, das Töchterchen hätte gar zu sehr in Gold und Rosa gemalt.«

Lydia erglühte wieder purpurn. Das würde ihrem Vater Freude machen – sehr viel Freude – und an welch feinem Haar hatte es gehangen, daß sie Holkwitz mitsamt der Mühle verleugnet hätte.

Wäre nicht die tapfere Gustel ihr Schildknappe gewesen und der gestrige Tag ein eindringlicher Warner, wer weiß!

Herr Kalkoff blätterte nur noch, seine Gedanken umkreisten die Holkwitzer Mühle. So war er schnell bis zu der kleinen Badezeitung hindurchgedrungen, die er als »nichts« bis zuletzt aufzuheben pflegte.

»Ei, hört doch, ei, seht doch, Kinder! Mittwoch nachmittag ist in Saßnitz Konzert und der Vergnügungsdampfer fährt dazu hinüber. Das müssen wir wirklich mitmachen – natürlich ein guter Zweck – aber was die Hauptsache ist, die Schwester unsrer Hermine wird singen.«

Hermine schwieg auch jetzt, die andern bekundeten mit allerlei Ausrufen ihre Teilnahme an dem merkwürdigen Zusammentreffen.

»In Saßnitz?« rief Gustel, und Paul fügte hinzu: »Die Aehnlichkeit!«

»Frau Kapellmeister Sorgert ist mit Mann und Kind zur Kur in Saßnitz.«

»Mit dem kleinen Wolfgang Amadeus?«

»Sie sind's, sie sind's!« rief Gustel. »Nein, wie merkwürdig! Voriges Jahr trafen wir die eine Ihrer Schwestern auf der Schmücke und dies Jahr die andre auf dem Dampfer – das muß etwas bedeuten!«

Selbst Hermine lächelte; Gustels Enthusiasmus war zu niedlich.

»Nicht wahr, Papa, wir fahren nach Saßnitz? O bitte, bitte! Wir wollten Lydia doch die Kreidefelsen zeigen bis zur Stubbenkammer hinauf.«

Papa ließ sich erbitten. Die Waldleute – und mit ihnen noch eine ganze Reihe Göhrner Badegäste – beschlossen den Dampfer und das Konzert zu genießen. In frühester Frühe schon kam das zierliche Schiff, »Rügen« genannt, auf die Höhe von Göhren und im vordersten Boot saßen die »erwachsenen« Familien Elwers und Kalkoff. Die Kinder blieben unter Frau Bewermanns und Frau Steens Aufsicht zurück; Ida und Frida waren etwas gekränkt: des kleinen Mozart wegen; Os und Ot schlugen Abschiedsräder vor der Landungsbrücke. Aber auch Hermine blieb zurück.

»Ich werde bei Großmama bleiben,« sagte sie und beharrte dabei, soviel ihr zugeredet wurde. »Großmama ist ungern allein.«

»Ich begreife sie nicht, herzliebstes Fräulein Charlotte, sie ist doch herzlos. Wie kann man seine Schwester nicht sehen wollen, wie kann man!« sagte Gustel, als sie auf dem »Rügen« ein schönes, einsames, luftiges Plätzchen, oben auf dem Radkasten, erobert hatten.

»Kleine Gustel, hast du schon einen sehr großen Kummer durchgekämpft?«

Gustel sah Charlotten nachdenklich an. »Ich – glaube doch – als ich damals dachte, Sie wären mir böse – nachdem Frau Mehlmann ausgestiegen war, – und dann vorher, als Mama so krank lag – und als ich dachte, ich könne Frida nie wieder gut werden; Frida hatte mit Licht gespielt und brannte, und von diesem Schreck war Mama krank geworden.«

Charlotte strich leicht über Gustels Hand. »Ja, Liebling, das ist schon etwas; es gibt aber noch Schlimmeres, das ist, wenn wir selbst schuld sind an unsrem Herzweh und der Not der andern; dann sind einem die liebsten Menschen manchmal der bitterste Vorwurf, und weißt du denn, was alles Herminens Herz bedrückt?«

Nein, Gustel wußte es nicht, war aber trotz Charlottens Mahnung nicht recht geneigt, das zu entschuldigen, was ihr empörend und unbegreiflich schien.

»Zu verstehen suchen, Gustel!«

»Ja – aber!« – Jedenfalls hätte sie jetzt genau wissen mögen, wie es um Hermine Gesterdings Vergangenheit stand, und wie es in ihrem Herzen aussah, damit sie ganz gerecht und ganz gründlich sich ein Urteil bilden und nach diesem Urteil ihr Benehmen einrichten könne.

Charlotte, der sie diesen Wunsch oben auf dem Radkasten mitteilte, während sie in die Binzer Bucht einliefen, lächelte ob des großen Verlangens; dann aber sagte sie ernsthaft: »Und da wir das nicht können, tun wir immer besser, Gustel, wir nehmen recht was Gutes an und sind recht lieb und freundlich gegen alle Menschen, dann tun wir wenigstens keinem unrecht.« Da kamen Friederike, Paul und Lydia heraufgeklettert. Die Mädchen fanden noch Platz auf dem Radkastenbänkchen, Paul setzte sich auf die Stufen, und so ließen sie die lieblichen Ufer an sich vorübergleiten.

Binz lag wie eine weiße Spielschachtel im Grünen. Während die Boote auch hier Konzertlustige heranbrachten, sah man drüben am Strand die Badenden wie Idas und Fridas Porzellanpüppchen auf und nieder tauchen. Dann fuhr der Dampfer an Krampas und Saßnitz vorüber. Steil stieg der schmucke Ort vom Strand zur Höhe hinan.

»Das reine Sorrento!« rief ein weitgereister Herr.

Dann steuerte das Schiff um den Vorsprung, und die wunderlichen Kreidefelsen, die schlohweiß im Lichte der Morgensonne sich aus dem Grün des Waldes heraushoben, tauchten nun auch vor den Blicken der Lustfahrer auf.

Jauchzende Rufe, Scherzworte und allerlei Deutungsversuche begrüßten jegliches Neue der seltsamen Felszacken. Der Hengst und die Wissower Klinken, die Witten-Tippen und die Tipper-Wacht, der Mönchssteig und der Königsstuhl glitten vorüber; nur zu schnell war die gewaltigste der Kreidegruppen erreicht.

»Stubbenkammer!« rief der Steward, und alle Reisenden machten sich bereit.

Hier hatte der Dampfer ziemlich dicht heranfahren können, kurz war die Strecke, die das Boot zurücklegte, und drüben stieg man eilfertig hinauf, von dem schmalen steinigen Strand auf bequemem Bergpfad an ockergelben Quellen und geborstnen Kreidefelsen vorüber, bis zu dem Gasthof, wo der Buchenwald sich so lauschig wölbte, daß einem zu Mute war, als sei man auf einmal mitten hinein in den Thüringer Wald verzaubert.

Nur hatten die Waldweibchen heute keine Zeit, sich der Waldstimmung hinzugeben; zuviel sollte Lydia, »dem Fremdling«, gezeigt werden. Während die Aelteren sich ein behagliches Frühstück gönnten, liefen die drei Jüngsten nach dem Königstuhl, um Lydia hinab aufs Meer schauen zu lassen. Das war nun freilich einzig schön – tief unten lag das smaragdgrüne Wasser, jäh und phantastisch ragten die weißen Zacken zu ihnen empor, Perlmutterglanz malte die Sonne auf die kleinen Zitterwellen draußen über dem ruhigen Bogen, in dem sich die See bis zum Horizont hinausspannte. – War das wirklich flüssiges Wasser – nicht vielmehr ein metallenes Rund? Unbegreiflich.

Dann liefen sie nach dem Herthasee – schwarz und geheimnisvoll lag er im Waldesschatten – erklommen die hohen Rasenwälle der Herthaburg, von denen aus man über wogende Wipfel noch einmal ein blaues Streifchen See erblickte. Natürlich bewunderten sie auch die uralte, königliche Buche, deren Krone einen weiten, weiten Rasenkreis überschattet, und viel andres hätte es noch zu bestaunen gegeben, wenn Doktor Born nicht als Abgesandter der höheren Mächte gekommen wäre, um die drei zurückzurufen.

Nachdem sie sich also zwangsweise gestärkt und ausgeruht hatten, machte man sich auf den Weg nach Saßnitz; – zwei Stunden lang durch den herrlichsten Buchenwald wandern, immer wieder einmal zur Linken einen Lugaus nach der See oder auf die Kreideklippen, der schönsten Insel Deutschlands – da lohnte es schon, sich müde zu laufen.

Die beiden Mamas, Friederike und Herr Kalkoff mußten fahren. Ein wundervoller Augenblick war's, als ihr Wagen an den Fußwandrern vorüberkam – in Reih und Glied stellten sie sich auf, schwenkten Hüte, Tücher und Schirme und riefen so leidenschaftlich: »Heil, heil, heil!« daß die Pferde beinahe durchgegangen wären. Glücklicherweise hatten sie dasselbe Temperament, wie die Göhrener Fischer: sachte und stetig! Der Kutscher bekam wieder Oberwasser.

Etwas müde waren die Mädchen doch, als sie endlich in Saßnitz am Mittagstische saßen; früh aufstehen, Seeluft und Bergwandrung den ganzen Tag, das wirkt auf den Beweglichsten, aber diese Müdigkeit verflog vollständig, als sie plötzlich durch die Türe ihrer Veranda Erna Hiltrop eintreten sahen.

»Nein, so etwas! Der jute Jroschen!«

Erna hörte dies Wort, wandte sich um und eilte auf die Fischchen zu.

»Merkwürdig!« rief sie. »In Berlin sahen wir uns nie und in Saßnitz kommen wir zusammen!«

Und sich umschauend, fügte sie leise hinzu: »Aber das ist ja beinahe die ganze Villa Schering!« worauf Doktor Born lustig nickte und ebenso leise den Vorschlag machte, die neuste »alte Bekannte« durch Vorstellung allgemeiner bekannt zu machen.

»Ich bin ein schreckliches Mädchen!« rief Gustel diesmal ganz laut, »noch gar kein bißchen junge Dame, aber jetzt will ich auch fein vorstellen.«

Erna war sehr vergnügt, als sie »so viel nette Leute« kennen lernte, setzte sich zu der kaffeetrinkenden Jugend und fing an, ein bißchen groß zu tun.

»Wir mußten leider heuer in ein ruhiges Seebad, weil Mama angegriffen ist von dem amüsanten Winterleben – wir werden natürlich zerrissen, Auguste; nun, du wirst eine kleine Ahnung davon haben, aber du, Lydia, armes Ding, dir würden die Augen übergehen, wenn du mich hättest tanzen und Theater genießen sehen.«

»Dafür ist meine Mama jetzt aber auch nicht angegriffen,« antwortete Lydia ärgerlich.

Erna schob das spitze Näschen hoch.

»Nein, Landleute sind das nie, robuster Schlag. Nun war ich zur Entschädigung für diese langweilige Sommerfrische vorher mit dem Papa vierzehn Tage auf Rigikulm – da ist es herrlich, sage ich euch – nur die reichsten Leute finden sich dort zusammen, denn es ist entsetzlich teuer; Engländer, Amerikaner, High life; Nabobs und lauter Erscheinungen, von denen ihr nur ab und zu einmal in den Büchern zu lesen bekommt.« – »In guten Büchern, Fräulein Hiltrop?« fragte Doktor Born mit so harmlosem Gesicht, daß Erna gar nicht recht wußte, ob er es wirklich böse gemeint habe.

Rot wurde sie aber doch und fuhr ein bißchen hastig fort: »Kurz, es war einzig schön. Und dann reisten wir über München zurück.«

Als sie von München sprach, wurde Gustel lebhaft und wippte wie elektrisiert in die Höhe.

»Ach! München? Ich reiste unmenschlich gern einmal nach München. Hast du Schönchen gesehen?«

Erna zupfte die Spitze ihres Aermels zurecht: »Natürlich. Ich mußte mich doch endlich über Wandas Verhältnisse orientieren, ob man künftig noch du zu einander sagen könne und so weiter. Die Verhältnisse sind gut, viel besser als man Wandas Reden nach annehmen konnte. Ein hübsches Haus in der Stadt, eine große Spinnerei draußen auf dem Land; ich bekam alles gezeigt. Und sie hat einen einzigen Bruder, der dem Vater schon an die Hand geht. Aber Wanda selbst – ihr sagt Schönchen – von Schönheit keine Spur mehr – rein garstig ist sie geworden – elend, mit Schatten überall, die Augen geradezu unnatürlich groß. Wandas Schönheit ist vorbei.«

Das sagte Erna mit großer Bestimmtheit, wie ein alter Professor, der beweist, daß eine Kröte keine Nachtigall ist.

»Unsinn!« rief Gustel empört.

»Alt geworden!«

»Mit sechzehn Jahren?«

Doktor Born aber machte sein ernsthaftestes Ulkgesicht und sprach: »Man hat Beispiele; sehr schöne Mädchen bekommen manchmal die Pfauenkrankheit, die verdirbt das größte Meisterstück der Natur; hie und da ist aber auch eine Augenschwäche der Betrachtenden schuld, die › envierie‹ nennt es der moderne Psychologe.«

Erna war nicht dumm und ihre französischen Aufgaben hatte sie allzeit ordentlich gelernt; da sie aber Doktor Born noch gar nicht kannte, wußte sie nicht genau, wie dieser ernsthaft vorgetragene Scherz zu nehmen sei. Gustel hatte gar nicht auf ihn gehört, ihr trauriges Gesichtchen veranlaßte Paul, der Schwester tröstend auf die Finger zu klopfen. »Sei nicht betrübt, wenn Schönchen auch wirklich häßlich geworden wäre, goldig bliebe sie doch immer, das allergoldigste Waldweibchen. Wir wollen gleich mal einen Gruß aus Saßnitz an sie abgehen lassen.«

»O Paul, das sagst du! Du findest sie auch goldig? Trotz deiner Ideale.«

»Na, weißt du! Meine Ideale sind in der Seeluft merklich verblaßt; ich glaube, die Farben waren nicht echt.« Damit sprang er auf und lief zu dem Kellner, der niedliche Karten mit Strandbildern verkaufte.

Das Kärtchen war kaum beschrieben und kreiste noch bei Friederike und Charlotte zur Unterschrift, als Myrrha plötzlich aufstand und mit dem Ausdruck lebhafter Ungeduld sagte: »Kommen Sie, Doktor Born, wir wollen versuchen, Frau Sorgert noch vor dem Konzert zu sprechen. Wenn unser ungnädiges Fräulein Gesterding auch nicht mitzukommen geruhte, so will ich doch so gnädig sein und Grüße vermitteln.«

Da sprang auch Erna lebhaft auf.

»Ihr kennt Frau Sorgert? Himmlisch! Ich kenne sie natürlich auch! Ich kenne alle berühmten Leute. Aber so genau wie eure Reisegesellschaft kenn' ich sie natürlich nicht. Denn jetzt weiß ich auf einmal, wer diese Kalkoffs sind – ich habe schon von ihnen gehört! Kommt, kommt! wir wollen den beiden nachgehen, ich erzähl' euch unterwegs, was ich von der Sängerin weiß.«

Damit nahm sie Lydias und Gustels Arm. »Faßt nur ordentlich unter – hier braucht man sich nicht zu genieren, hier ist's wie auf dem Dorf, kein Chic und keine Haltung, aber zeitweise ganz bequem. Also diese Frau Sorgert ist einzig schön – feines Gesichtchen, blondes Märchenhaar und eine Stimme – Kinder – man schwebt zum Himmel, wenn man sie hört; die ganze Welt um einen wird zum Dom. Und ihr Mann, der Kapellmeister –«

»Wir sind mit ihnen von Stettin bis Göhren gereist.«

»Ach? Aber sonst wißt ihr nichts von ihnen? Nun seht ihr! Ich bin manchmal in musikalischen Soireen mit ihnen zusammen, unter andern bei einer Frau Gauß, wo sie schon gesungen hat, als sie noch ganz unberühmt war und ihren Kapellmeister noch gar nicht kannte. Damals hatte ihr Vater durch einen schlechten Menschen sein ganzes Geld eingebüßt und sie mußten ihr herrliches Rittergut verkaufen – sie hatten nachher gar nichts, nur eine lahme Tante und acht Kinder! Denkt nur, wie gräßlich. Ich – ich wäre gestorben. Aber sie waren nicht so feinfühlig und von derberer Art, sie haben es ganz gut ausgehalten; der Papa hat sein altes Gut wieder gepachtet – was ich auch nicht könnte – gräßlich schwer! Aber diese Adelheid ist eine Berühmtheit geworden, weshalb ich für sie schwärme; ich schwärme für alle Berühmtheiten, das gehört zur Bildung; und der eine Bruder in Indien wird als ein Kaffeenabob wieder nach Hause kommen, sagt mein Onkel, der es versteht; und eine zweite Tochter hat einen Professor – was auch ganz nett ist, wenn man da auch weniger Geld verdient als in Indien.«

»O Erna! tu doch nicht so geldgierig,« rief Gustel ärgerlich, »es ist ja gar nicht dein Ernst, so habsüchtig bist du ja gar nicht!«

»Was? habsüchtig? Du hast wohl von diesem Doktor Born gelernt? Ja so, du warst schon in der Villa Schering die kleine Moralsuse. Nun, ich nehm' dir's nicht übel; du hast eben etwas spießige Ansichten. Nett warst du doch, ein guter Spatz und hast nie geklatscht. Und deshalb vertrau' ich dir auch an, was ich noch von den Gesterdings weiß. Es liegt auch jetzt noch, wo sie doch wieder so recht im Glück zu sitzen scheinen, ein schwarzer Schatten auf ihnen, und diesen Schatten« – Erna senkte die Stimme – »wirft die Tochter, die bei euren Kalkoffs Gesellschafterin ist.«

»Ach!« rief Gustel mit erschreckter Miene.

»O!« seufzte Lydia ganz entsetzt.

Die drei Fischchen steckten die Köpfe dicht zusammen, und Erna sprach nachdrücklich weiter: »Ja! sie soll sehr schön sein.«

Lydia und Gustel nickten lebhaft Zustimmung.

»Und sehr stolz, eigensinnig und obenhinaus.«

»Ja, vielleicht – das ist ja nicht nett, aber deshalb ein so ganz schwarzer Schatten?«

»Nicht deshalb! der Schatten stammt noch von früher. Damals, als die Eltern in Not waren und alle Geschwister halfen und sich geradezu großartig benahmen, da war sie allzeit auf Besuch bei einer vornehmen Freundin und dann mit einer reichen Dame auf Reisen.«

»Wahrscheinlich ging's ihr wie dir, sie war auch so feinfühlig und konnte das Armwerden nicht aushalten.«

Erna schob die Augenbrauen hoch: »Ich glaube, Doktor Born hat auch dich angesteckt, Lydia – ich erzähle meine Geschichte jetzt nur noch dem Spatz. Also, Gustel! die Gesterding ist nun schon seit vier Jahren bei diesen Kalkoffs und hat in der ganzen Zeit die Eltern noch nicht ein einziges Mal besucht, nur an Geburtstagen und zu Neujahr schreibt sie förmliche Briefe. Ist das etwa kein Schatten? Gräßlich! Sie ist, was die Engländer das Skelett im Hause nennen. – Auch mit Sorgerts, auf die sie doch mächtig stolz sein könnte, verkehrt sie nicht. Ich weiß von Frau Gauß, daß die Schwester versucht hat, sich ihrer anzunehmen – doch umsonst, sie ist unzugänglich für alle Liebe und Anhänglichkeit, – Gletscherprinzessin!«

»Abscheulich!« sagte Gustel.

»Ja! und ich denke mir, da steckt auch noch etwas andres dahinter – etwas Grauenhaftes, was ich unbedingt entdecken werde!«

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Gustel hob den Jungen glückselig in die Luft.

Einen Augenblick lang bedachten die Fischchen stumm, was da wohl hinter dem Ungeheuerlichen stecken könne, dann aber machte sich Erna plötzlich los: »Wolfgang, der kleine Wolfgang Amadeus!«

Richtig! Da kam Wolfgang Amadeus Mozart, weiß wie eine Schneeflocke, herangetrippelt; er kümmerte sich aber gar nicht um Erna, sondern steuerte geradewegs auf Gustel zu, streckte ihr seine Aermchen entgegen und rief: »Du! Du! wo is Mausi, meine kleine Mausimaus?«

Gustel hob ihn glückselig hoch in die Luft und erzählte ihm dann eine wunderschöne Geschichte von Mausis Göhrener Tageslauf, von ihrem Schloß im Sand, dessen riesige Türhüter Os und Ot alle Löwen und Seeschlangen von Mausi verscheuchten.

»Ich auch, Wolf auch Riese! – ich komme mit dir ins Sandschloß.«

Lydia schien er gar nicht wiederzukennen, Erna war Luft für ihn, Gustels Hals hielt er zärtlich umspannt, die Konzertkrause unbarmherzig zerknüllend.

Dank dieser rücksichtslosen Liebe war Gustel die erste, die einen Gruß der bewunderten Sängerin empfing. Auf anderem Weg, als Myrrha erwartete, war Frau Sorgert herangekommen und stand nun plötzlich hinter Mama Elwers' großer Tochter.

»Da ist ja unsre junge Reisegefährtin! Lassen Sie sich nicht gar so sehr von meinem Wildfang plagen!«

Gustels strahlendes Gesicht sprach: Er plagt mich nicht! und die Lippen sagten: »Wir sind alle da: Mama, Papa, Lydia und Paul, wir wollen alle ins Konzert.«

Frau Adelheid lächelte. »Das freut mich für unsre Armen.«

Da erblickte sie Myrrha Kalkoff, und eine starke Bewegung ging über das schöne Gesicht. »Sind Kalkoffs auch zum Konzert hier?« fragte sie leise.

Und unwillkürlich ebenso leise, als müsse ein lautes Wort wehtun, antwortete Gustel: »Nur die Eltern und Fräulein Myrrha.«

In demselben Augenblick entdeckte Myrrha die berühmte Frau an der Seite des »Backfischs« und kam eilig naher.

»Meine süße, gnädige Frau!« rief sie schon von weitem. »Endlich seh' ich Sie einmal wieder – und wieviel hab' ich Ihnen zu erzählen.«

Frau Sorgert ließ sich willig von Myrrha entführen und ging wohl zehn Minuten lang in ernsthaftem Gespräch mit ihr auf und ab.

Jetzt reden sie von Hermine, dachte Gustel. Erna aber, die gar nicht zur Begrüßung der Sängerin gekommen war, sagte ärgerlich: »Welch unangenehmes Mädchen das ist; mit dieser Myrrha würde ich nicht umgehen.«

Beinah hätte Gustel gelacht, so ernsthaft ihr zu Mute war, denn fast gleichzeitig hatte sie gedacht, daß Erna und Myrrha, trotz großer äußerlicher Verschiedenheit, sich doch eigentlich recht ähnlich seien.

Doktor Born aber lachte wirklich und lustig auf, während er antwortete: »Ja, ja, es sind immer die Extreme, die sich miteinander wohl fühlen.«

Dafür bekam er einen kleinen, schiefen Blick aus Ernas Augen, der etwa sagte: »Du bist mir mal ein unangenehmer Berliner,« und dann siegte ihre gute Laune doch wieder, und plötzlich lachten sie alle vier sehr lustig miteinander, obwohl keines ganz genau wußte, worüber die andern eigentlich so vergnügt waren.

Diese Lachstimmung ohne Grund hielt an. Man schrieb eine Neckkarte an Liese Böning, »das nachgeborne Waldweibchen«, bei der Paul und Doktor Born sich als »unbekannte Größen« unterzeichneten. Sie kauften einem kleinen, frechen Buben aus dem Geröll gesuchte Versteinerungen ab – viel zu teuer – aber mit dem größten Entzücken: Teufelsfinger, dergleichen entstehen sollen, wo der Blitz in kieselige Erde schlägt, und Seesterne, die unbedingt Glück bringen, wenn sie an das richtige Glückskind geraten, und kamen in einer Stimmung in den Konzertsaal, in der den Mund halten und zuhören zu den schwierigsten Aufgaben der Erde gehört.

»Nun aber ganz still,« sprach Paul, der sich als Mann und Sittenwächter aufspielen wollte, was Gustel zu der feierlichen Deklamation veranlaßte:

»Ich unglücksel'ger Atlas,
Eine Welt des Schweigens soll ich tragen.«

Ss! Ss! Ss! Das Orchester setzte ein und spielte die Freischützouverture.

»Lieber Weber sei nicht böse,
Heute machen wir Getöse«

reimte Erna.

Aber dann trat Frau Sorgert auf das Podium, und schon vor ihren ersten Tönen flog Uebermut und Lachstimmung weit hinaus in die blaue Luft und war nicht wieder einzufangen.

Ach, wie war das schön!

Schön und gewaltig wie die See, in weichen, großen Wellen floß die mächtige Stimme über sie hin, daß ihnen fast der Atem verging in wonnigem Schrecken.

»O du, die einst mir Hilfe gab, nimm dies Geschenk, o nimm es wieder, Diana,« klang Iphigeniens leidenschaftliches Gebet durch den Saal.

»Gerade, als sei einem das Herz rein gebadet von allem Kleinkram und Erdenschmutz – nur liebe, schöne und herrliche Gedanken waren noch drin zu finden,« sagte Gustel am Abend, als sie die Mutter zur guten Nacht küßte.

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