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Geburtstagsleid, Geburtstagsfreud.

»Mein liebes Fräulein Laport, haben sich die Mädchen am Montag gezankt? Es ist eine solch merkwürdige Stimmung über sie gekommen.«

Mademoiselle verneinte lebhaft; ruhig, nett und ordentlich war's zugegangen am Montag. Nach dem Kaffee war, wie jedesmal an diesem besonderen Tage, von allen, unter Anführung der Achtzehnjährigen, gespielt worden: Verse wurden gemacht nach vorgeschriebenen Endreimen, Blindenmalerei und Steckbrief. Wie sonst hatte man gelacht über drollige Zeichnungen und abenteuerliche Personenbeschreibungen. Gezankt? Nicht die Spur – manierlich und lustig war's zugegangen.

Fräulein Klementine schüttelte den Kopf. So viel stand fest, bei den Sechzehnjährigen war nicht alles wie vorher, aber eins der jungen Mädchen fragte sie nie um dergleichen, sie mußte sehen, ob der Zufall ihr Aufschluß gab, da Mademoiselle versagte. – Die Beteiligten, obwohl sie sich bemühten, in Gegenwart der Erwachsenen wie sonst zu sein, fühlten sich recht unbehaglich. Schwül war die Stimmung noch immer. Zwar hatten »die beiden Verräterinnen« den Croquetplatz nicht verlassen gehabt und es geschah auch keine »Anklatscherei«, – aber wußte man, was noch kommen würde? Irgend einmal! Bei Gelegenheit! Nein – das konnte man nie wissen. Gustel wurde »geschnitten« – Liese vorsichtig behandelt – da Liese früher mitgewesen war, würde sie sich nicht selbst »ins Tintenfaß reiten«.

Hoch gingen die Wogen, als am Mittwoch Nachmittag Fräulein Charlotte und Tante Rhenius durch den Vorgarten kamen.

Am Mittwoch? Schon wieder? Ungewöhnlich! Das hat sicher etwas zu bedeuten! Sie hat uns am Ende erkannt!

Ein Wispern, Tuscheln und Köpfezusammenstecken begann; dann befahl Erna: »Harmlos tun!« und man fuhr auseinander.

In atemloser Spannung beobachteten die Backfische Fräulein Charlotte. Sie benahm sich aber durchaus wie sonst. Weder sprach sie allein mit Gustel, noch mit Fräulein Klementine oder Professor Schering. Sie ging nur einmal in die Küche zu Fräulein Lisbeth. Das war ungefährlich.

Herzklopfen würde es freilich gegeben haben, wenn Erna dies Küchengespräch hätte belauschen können. Aber das konnte niemand: Fräulein Charlotte nahm sich die Lina in die hinterste Ecke, ehe sie fragte, wie es denn möglich gewesen sei, daß die jungen Mädchen am Montag heimlich hätten in die Stadt gehen können.

Lina wurde rot, gab sich aber Mühe, unbefangen zu tun – das wäre nicht möglich, die müßten verkannt worden sein, auch sei doch die Mademoiselle da, sie, die Lina, könne nicht immer aufpassen.

Aber Fräulein Charlotte schien das gar nicht zu hören. »Ich will Ihnen etwas sagen, Lina. Sie haben auf die Tür acht zu geben, der helle Glockenton ist nicht zu überhören – wenn Sie Ihre Pflicht tun, kann niemand heimlich verschwinden, also: treffe ich die Zöglinge noch einmal so in der Stadt, dann rede ich und Ihr Teil Schuld daran könnte Sie um Ihre Stelle bringen.«

Lina antwortete nichts mehr, war aber fest entschlossen, ihre gute Stelle zu behalten. Die »Trinkgelder« der Backfische waren wirklich nicht groß, besonders diesmal, wo nur vier durch den Zaun gekrochen waren, hatte es herzlich wenig gegeben.

Wenn Fräulein Charlotte reden wollte, falls es noch einmal vorkäme, würde die Lina lieber die Hüte einschließen als in den Garten tragen.

Die Naschkatzen schickten unterdessen ihre Sorge schlafen – niemand sagte etwas, nichts ward entdeckt. Hätte man nicht den täglichen Aerger über die beiden Tugendbolde gehabt, wäre der kleine Zwischenfall längst vergessen worden. So verblieb freilich immer noch die Erinnerung.

Man zankte sich nicht, behüte, dazu war man »zu anständig«, aber »nett« war man auch nicht miteinander.

Gustel und Liese Böning, die beiden vereinzelten, kamen dabei natürlich am übelsten weg.

»Bist du sehr innig mit deinem Zwilling?« fragte Liese eines Nachmittags in der Freistunde.

Gustel schüttelte traurig den Kopf. »Nein, gar nicht, obwohl ich nichts gegen sie habe, als daß sie sich ziert. Aber ich begreife sie überhaupt nicht, am ersten Tag schon war sie wunderlich, und jetzt redet sie nur noch das Nötigste mit mir, weil Erna sie am Bändel hat.«

»Magst du mich lieber?«

»Natürlich.«

»Schön, dann will ich mal eine Tat tun.«

Gustel war sehr neugierig, was Liese Flederwisch eine Tat tun nannte, und als sie ein Weilchen gebettelt hatte, gestand Liese ihren Plan.

»Siehst du, Gustel, sie haben mich mit Wanda zusammengetan, damit ich von dem zierlichen Persönchen Ordnung lerne, aber es ist nicht das Rechte. Wanda ist zu ordentlich, das bedrückt mich. Ich weiß, Wandas Vollkommenheit werde ich nie erreichen, und diese Gewißheit legt meine schönsten Vorsätze lahm. Und ich stehe jeden Morgen mit so herrlichen Vorsätzen auf! – mit ganz großartigen Vorsätzen! – die Vorsätze könnten den Augiasstall in ein Prunkgemach verwandeln, aber dann sehe ich, wie Wanda sich anzieht! So nett und adrett, kein Rockbund schief und keine Falbel zerdrückt, nichts abgerissen und nirgends ein Fleckchen, und all die zahllosen kleinen Sächelchen, Tag für Tag am selben Platz – und die Härchen so glatt, als sei jedes ein wohlgedrilltes Soldätchen, das ganz genau weiß, wohin es gehört, und sich nicht vom Platze rührt, und das alles so langsam stetig und ohne Wandel ausgeführt – das kann ich ja gar nicht lernen – niemals! Meine Glieder werden immer von irgend einem unregierbaren Sturmwind durcheinandergeblasen und die Haare erst recht. ›Langsam‹, sagt Wanda, ›viel langsamer mußt du kämmen‹ – jawohl – langsam kann ich eben nicht. Und dann ärgere ich mich über das vollkommene Schönchen und werde auch noch eingebildet, denn ich sage mir dann immer zum Trost: ein Dummchen bist du wenigstens nicht! und ehe ich mir also auch noch den Charakter verderben lasse, möchte ich lieber mit dir Zwilling sein.«

»Piek!« rief Gustel.

»Ja! Denn mit dir ist's was andres; du bist ordentlich, aber es läuft dir doch mal eine menschliche Schwäche unter, an der man sich trösten kann; bei dir würde ich wenigstens hie und da Mut zum Wettlauf gewinnen.«

Erst lachte Gustel Tränen darüber, daß ihre Wildfangdummheiten Liese Mut zur Tugend machten; dann nahm sie die Gefährtin bei der Hand, führte mit ihr ein »Jubeldreherädchen« aus und rief: »Nun aber lauf und schütte Fräulein Klementine dein Herz aus, ich warte hier auf den Erfolg.«

Liese rannte davon, streckte einen Gartenstuhl nieder, stolperte auf der Verandatreppe und verwickelte sich oben in Fräulein Lisbeths Garnknäuel, der vor die Speisesaaltür gerollt war.

Von ihren weiteren Fährlichkeiten sah Gustel nichts, daß die Bitte aber unerfüllt bleiben sollte, das sprach sich in jeder Bewegung Liesens aus, als sie nach kurzer Frist zurückgeschlichen kam.

Liese Böning schlich. Eins der ungehorsamen Beine setzte sie langsam vor das andere, den Kopf hielt sie schief und ihre Wangen brannten. »Nichts, Gustel,« sagte sie wehmütig, »bleibt alles beim alten.«

Da Gustel nicht gleich antwortete, berichtete Liese weiter: »Die Wanda sei gerade die Rechte für mich, denn – das sollte wohl ein Trost sein – ich solle die langsame Wanda auch ein wenig beweglicher machen – auch seist du Lydia gut als natürlicher Mensch und Lydia sei dir gut als Beispiel, wie man auf sich achten und sich mit Ueberlegung benehmen müsse – ja, Gustel! und wir möchten nur hübsch voneinander lernen und uns vertragen, lieb könne man sich auch haben, wenn eine Pappwand dazwischen sei.«

»Das ist eigentlich wahr,« rief Gustel, die schon wieder lachen mußte, weil Liese dastand wie ein windzerzauster Sperling. »Und nun wollen wir nach dem Spielplatz gehen, sonst gibt es spitze Reden.«

Dort war eine Croquetpartie in vollem Gang; die beiden mußten sich mit den Bocciakugeln begnügen. Gustel gewann natürlich, denn wenn Liese rechts werfen wollte, rollte ihre Kugel ganz gewiß in weitem Bogen nach links. Aber sie vergnügten sich aufs beste, obgleich Ernas Stichelwort: »die Aparten«, deutlich zu ihnen hinüberdrang.

»Die Aparten«, das hing ihnen an die nächsten Wochen lang; obgleich sie sich ehrlich Mühe gaben, friedlich zu sein. Nur gegen Erna fehlte es ihnen eben doch an gutem Willen, und da Erna die andern »am Bändel« hatte, so verdarb sie immer wieder den Erfolg der kleinen Annäherungsversuche.

So kam der erste Mai heran, an dem Friederike ihr siebzehntes, Gustel ihr sechzehntes Jahr vollendete.

Was war das sonst für ein wonniger Tag für Elwers' Wildfang! Erst voriges Jahr! – Ida und Frida hatten ein Trompetenkonzert an Gustels Bett aufgeführt, zu dem Paul vor der Thür die Trommel schlug; Papa hatte das Töchterchen beim Kaffee angedichtet:

»Frohsinn mit dir durchs Leben fahre,
Bis weiß die Löckchen und die Haare.«

Das war der Schluß gewesen, und Mama hatte sie ganz, ganz fest in die Arme genommen, und dann war's an den Beschertisch gegangen, natürlich in großem Geleite – Papa, Mama, Ida, Frida, Mausi (noch winzig klein auf der Wärterin Arm), die Köchin und der Redaktionsjunge, der gerade da war – wie immer, wenn was Gutes abfiel – wahrscheinlich wurde es ihm in der Küche gesteckt.

Und heute?

Wo war der Frohsinn, der mit Gustel durchs Leben fahren sollte? Sie lag schon seit einer Stunde wach im Bett, ehe die andern sich nur zu regen begannen, die andern, von denen keine wußte, was jetzt für ein wichtiger Tag anhub; – sie aber war »in der Fremde«, sagte sie unwillkürlich.

Aber da mußte sie über sich selber lachen. »Dummes Zeug! Uebers Jahr war sie ja wieder zu Hause! Tapfer, Auguste Dorothee Charlotte Elwers – nicht so viel Sums mit sich selber machen!«

Dabei wippte sie ihre Füße aus dem Bett und begann die Morgentoilette.

Das Lachen weckte Lydia und entlockte ihr einen tiefen, tiefen Seufzer. »Wer auch immer so lustig sein könnte wie du,« sagte sie, »entweder bist du sehr glücklich oder sehr oberflächlich –«

Gustel schlug Schaum in ihrer Waschschüssel und antwortete nicht.

»– Denn es gibt viel mehr Ursache in der Welt zum Seufzen als zum Lachen.«

Gustel spritzte Lydia ein paar Schaumflocken ins Gesicht. »Steh lieber auf, sonst verspätest du dich und hast Ursache zur Wehmut.«

»Dies Nach-der-Uhr-Aufstehen ist auch entsetzlich!«

Aber sie stand auf und war halbwegs fertig, als Liese Böning den Kopf um die Ecke bog.

»Kommt, kommt! Friederike hat heute Geburtstag, die Gratulationskur beginnt.«

Gustel zog die Oberlippe hoch, ging aber widerspruchslos mit.

Semmelchen hatte ein Gedicht gemacht. Es begann im Holperschritt:

»O Friederike, Vorbild hehr,
Von Gelehrsamkeit und Tugend schwer
Bei so wundervoller Jugend –«

und war sehr lang. Mit einem nachsichtigen Lächeln ließ sich Friederike die »Torheit« gefallen, nahm überhaupt die ganze Gesamtgratulationshuldigung (so nannte es Erna) hin, wie etwas Selbstverständliches, was sie leider ihrer Würde halber ertragen müsse, was aber doch nichts sei als Zeitverlust.

Dann gingen sie hinab.

Unten waren im Speisesaal zwei Teller bekränzt und zwei Plätze mit Sträußen geziert: Maiblumen, ein dicker Busch.

Mit Ah und O! bekam nun Gustel Glückwünsche von den Gefährtinnen zu hören.

»Nein, so was nicht zu sagen!«

Sie tat eben doch apart! –

Jetzt auf einmal war Gustel ihrer Geburtstagsgenossin weit über. Auf ihrem Platz lag ein Berliner Paketchen und »ein Berg« Briefe; Friederike fand nur eine einzige Karte – diese eine Karte weckte freilich einen Jubelruf.

»O, Herr Professor! o, Fräulein Klementine! Der Vormund schreibt, daß es ihm gelungen sei, von Michaeli ab eine Halbstelle im Seminar für mich auszuwirken! Da darf ich Michaeli übers Jahr schon das Examen versuchen – das ist wundervoll!«

»Du bist noch ein wenig zu jung für das Examen übers Jahr, aber immerhin kannst du den Versuch machen,« sagte Fräulein Klementine freundlich, »jedenfalls bleibst du bis Michaeli unser liebes Töchterchen.«

Keine verstand, weshalb Friederike Fräulein Klementine plötzlich so lebhaft die Hand küßte. Sie wußten wohl, Friederike war Waise und hatte keine Heimat, aber daß sie schon seit Ostern nichts mehr bezahlte und bis Michaeli nur »Gast« des mildtätigen Geschwisterpaares Schering war, das ahnte keine und sollte auch keine ahnen, denn Erna und Fanny waren stolz auf ihre wohlhabenden Eltern und geneigt, geringes Vermögen für eine Schande zu halten.

Gustel hatte nicht viel Beachtung für Friederikens Geburtstagsfreude übrig, sie hatte die Briefe aus der Heimat geöffnet und senkte die Augen tief aufs Papier, damit ihr niemand in das Antlitz sehen könne. Das Auspacken des Paketes war dann sehr geeignet, die Wehmut in Jubel aufzulösen.

Obenauf lag ein Gruppenbild: die ganze Familie im Hofgärtchen, das Haus im Hintergrund, Papa hielt Mausi auf dem Arm – Ida und Frida mit des Hauswirts Bernhardiner, Paul, der Mama den Sonnenschirm haltend, Frau Bewermann, die Wärterin, mit erhobenen Händen nach Mausi langend, wie sie es immer tat, wenn Papa mit »ihrem« Püppchen scherzte, denn »Papa war zwar Papa, aber doch eben auch nur ein Mann und als solcher kleinen Kindern unbedingt schädlich.«

Darunter stand: Gratulationsvisite!

Gustel schickte strahlenden Gesichts das Bild rund um den Tisch. Allen machte es Spaß, denn es war wunderhübsch – so natürlich, als habe der schwarze Kasten die ganze Familie ganz von ungefähr überrascht.

Nur Lydia seufzte, als sie dies Bild häuslichen Glücks ansah, und Gustel dachte: es muß irgend etwas Fürchterliches, Erbarmungswürdiges bei ihr zu Hause los sein – sie ist zwar ein bißchen albern, aber sie tut mir schrecklich leid.

Unter dem Bildchen lag ein zierliches Armband und eine dazu passende kleine Brosche von Papa und Mama, auf der glatten goldnen Scheibe war ein flügelschlagender Spatz eingelassen, aufs feinste braun und grau emailliert; eine gleiche kleine Scheibe saß auf dem schmalen Reif des Armbandes. Gustel wurde dunkelrot vor Vergnügen. Ida und Frida hatten mit zappelnden Fingern ein Nadelkissen gestickt, Paul schickte eine Sammlung Vexierbilder, die er mit großem Geschick allen wirklichen und sogenannten Onkeln aus ihren Zeitschriften herauszubetteln wußte, und auf dem Grund der Bonbonschachtel stand: süße Küsse von Mausi.

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Gustel hatte die Briefe aus der Heimat geöffnet und senkte die Augen tief aufs Papier.

»Sind sie nicht himmlisch gut!« rief Gustel, als diese Schätze um sie hergebaut waren.

Fräulein Klementine stimmte lächelnd bei und fügte dann hinzu: »Es gibt noch eine Geburtstagsfreude: Friederike Schauroth, Auguste Elwers, Elise Böning und ich sind zu Fräulein Charlotte zur Schokolade gebeten.«

Während Gustel und Liese jubelten, sahen die vier anderen Fischchen sich bedenklich an. Den Geschwistern Schering fiel nicht auf, daß die vier andern weggelassen wurden, denn alle Glieder der Villa Schering lud Charlotte nie auf einmal ein, das schlechte Gewissen aber ängstigte jene. Sie hat uns erkannt, sagten sie sich, und das ist die Strafe.

Die Eingeladenen waren sehr glücklich und feierten einen »Elitenachmittag«. – Erstens ging es dem Gaumen sehr gut, zweitens gab's für die Geburtstagskinder je ein wunderniedliches Notizbuch, drittens konnte man zu dritt Fräulein Charlotte und Klementine so recht ausgiebig anschwärmen und viertens fand Gustel, angesichts des Spatzes auf Brosche und Armband endlich, endlich den Mut, Charlotten zu erzählen, daß sie fürs Schwalbenkränzchen schwärme, und daß Papa behaupte, eben dieser Spatz sei sie.

Als sie sich abends in ihrem Bett ausstreckte und an die Angehörigen daheim dachte, kamen ihr wohl ein paar Tränen in die Augen, aber es waren keine bitteren Tränen, sie dachte dabei: »Und es war doch auch ein schöner Geburtstag.«

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