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Das verstopfte Diebesloch und Gustels Geständnis.

Der Montag, vor dem sich diesmal eigentlich alle Backfische fürchteten, kam heran. Der feierliche Abschied, zu dem sich die Zurückbleibenden am Gatter versammelten, war vorbei, die allerletzten Staubwölkchen, die der Wagen aufwirbelte, verwehten in der Ferne und Lina schloß mit kräftigem Ruck die Türe des Vorgartens zu. – Erna war heute von beängstigender Geschäftigkeit; sie hielt Wanda und Fanny einen längeren Vortrag, sie brachte Lydia in tödliche Verlegenheit durch die Worte: »Sei keine Landpomeranze!« Sie legte Hüte, Handschuhe und Schirme auf den Betten zurecht, von wo Lina sie während des Essens wegholen sollte, sie rannte in den Garten, um an dem Schlupfloch in der Hecke zur Seite zu binden, was der letzte Monat etwa überwachsen hatte. Denn diesmal mußten sie unbedingt gehen – ganz unbedingt – sonst hätte es ja gerade ausgesehen, als wäre Gustel Elwers Hauptperson und Platzkommandant.

Es war noch reichlich Zeit an der Hecke zu basteln, denn Lina trödelte heute unglaublich mit dem Mittagessen; Liese und Wanda hatten deshalb noch gar nicht decken können.

Schnell, als wäre sie nicht die elegante Großstädterin, sondern ein echter Wildfang, rannte Erna durch den Blumengarten vorm Haus, über den Spielplatz nach der Hecke, die gegen den Wald hin das Grundstück abschloß. Sie kniete vor dem »Türchen« nieder, holte Bindfaden aus der Tasche und schickte sich an, die losen Zweige, die die Oeffnung deckten, zurückzubinden.

Aber was war denn das? Sie mochte ziehen und zupfen, die Zweige gaben nicht mehr nach; da waren Stöcke in die Erde gerammt, mit Draht und Bast die Zweige kreuzweis verbunden, und diese Arbeit war so gut gemacht, daß ein Zerstören und Wiederherstellen Stunden in Anspruch genommen und böse Spuren hinterlassen hätte.

Ernas erster Gedanke war: das hat diese Auguste getan! Gleich darauf mußte sie sich freilich zugeben, daß Gustel dann wohl hätte des Nachts in den Garten entwischen müssen, um Zeit für diese kunstvolle Arbeit zu finden.

»Als ob die Hecke eine Sturmflut aushalten sollte!« schalt Erna und suchte hastig auf und ab, ob sich nicht ein andrer günstiger Ausschlupf herstellen lasse. Sie fand auch eine dünne Stelle, bei der nicht allzuviel nachzuhelfen war, ehe sie aber die Arbeit recht begonnen hatte, läutete die Eßglocke, und heiß, rot und zornig flog sie zurück.

»Und wir gehen doch! nun bestimmt! nun gerade!«

Als sie im Hausflur ankam, stiegen eben die Fischlein herab, die sich fürs Essen nett gemacht hatten. Nur Mademoiselle und Friederike waren noch oben.

»Wer hat die Hecke verstopft?« rief Erna den Herabsteigenden zornig entgegen. Keine wußte zu antworten; nur Lina, die eben mit dem leeren Tellerbrett aus dem Speisesaal trat, sagte: »Wahrscheinlich Kellermann; er hat vorgestern den ganzen Nachmittag über ein Diebsloch in der Hecke gebrummt.«

»Aber Lina,« rief Erna, »das hätten Sie ihm doch ausreden sollen!«

»Ausreden? wie denn? Er hatte es doch gefunden. Und drum rum reden, damit er am Ende denkt, ich brauche das Loch zum Durchschlüpfen? Nein, dazu ist mir meine Reputatschon zu lieb. Und überhaupt, ich gebe mich nicht mehr damit ab, es ist recht gut, daß die Hecke zu ist; wenn es doch welche von den jungen Damen für unrecht halten, mag ich nicht mehr – und es ist mir auch zu unsicher.«

Damit ging sie in ihre Küche und zog die Türe hinter sich zu.

Erna war dicht am Weinen. »So? nicht! wir sollen den Spaß nicht haben! und ihr seid schuld! und Auguste hat es ganz gewiß dem gräßlichen Kellerwurm gesteckt.«

»Nein, das habe ich nicht,« rief Gustel empört, »ich stecke niemandem etwas – aber ich sage wie Lina: ich bin froh darüber, denn Heimlichkeiten machen mir allemal Angst, Heimlichkeiten verderben den Charakter.«

Da eben Mademoiselle oben auf der Treppe erschien, mußte Erna ihre Antwort hinunterschlucken. Sie lief hinauf, faßte Friederike und hielt sie fest, ihr die allgemeine Empörung zu klagen.

Gustel aber, ohne Mademoiselle zu bemerken, faßte Lydia und Liese und sang, die beiden im Kreise mit sich herumziehend: »Heil sei dem Tage – Heil sei dem Tage – Heil! Heil! Heil!«

Liese war sofort bei der Sache, aber auch Lydia wurde angesteckt, war sie doch zu froh, aus dem bösen Zwiespalt auf so bequeme Art erlöst zu sein – so sangen sie denn alle drei noch einmal! »Heil sei dem Tage, Heil! Heil! Heil!«

Starr stand Mademoiselle und schaute hinab. » Ah, c'est trop fort!« rief sie aus, aber das dreistimmige Heil verschlang den schwachen Ton – hörten die Sängerinnen doch nicht einmal, daß draußen ein Wagen vorfuhr und die Glocke am Gatter kräftig gezogen wurde.

Ungesehen huschte Lina hinaus, öffnete und ließ zwei Damen ein; die ältere von ihnen schob das Mädchen einfach beiseite und ging rüstigen Schrittes die Stufen zur Haustür hinauf.

»Nein, so etwas!« rief sie in den verklingenden Jubelgesang hinein. »Und das ist meine sanfte Großnichte, die nicht bis drei zählen kann!«

Diese Stimme! Gustel wandte sich nach der Tür und strich dann unwillkürlich die Haare glatt, denn dort stand leibhaftig die Tante Rickwitz aus Gotha und hinter ihr zeigte sich Fräulein Charlottens lächelndes Gesicht.

»Hurra, Tante Lottchen!« rief Gustel noch im vollsten Uebermut und wollte eben hinzufügen: Heil! Heil! Heil! – als ihr einfiel, daß sie sich wie ausgelassene Jungens, aber nicht wie strebsame Schülerinnen der Villa Schering gezeigt hatten – sie wurde rot und verlegen und stotterte: »Ach, Tante Charlotte, was denkst du nun von uns?«

»Ich denke, wenn die Katze nicht zu Hause ist, tanzen die Mäuse,« sagte Tante Rickwitz trocken, aber die Augen lachten dabei und sie fügte gleich darauf hinzu: »So, nun kannst du mir einen Kuß geben.«

Der Kuß ward freudig gegeben; einen gleichen mußte sich Fräulein Charlotte gefallen lassen, als dann Tante aber fragte: »Und weshalb schriet ihr immerfort Heil?« da wurde Gustel wieder verlegen.

»O – weil – ich – es war nur ein Loch im Zaun – ein Diebsloch sagte Kellermann, und das hat Kellermann zugemacht, Tante, weißt du und – und, nun sind wir so fidel, weil nun nichts mehr passieren kann –«

»Hasenfüße,« rief Tante Rickwitz, Charlotte aber begriff, zumal auch Lina sehr stolzen Gesichtes bestätigte: »Ich habe Kellermann einen Wink gegeben.« – Die Tante strich Gustel über das Haar und sagte: »Nun mache dich recht flink nett und ausgehbereit, draußen hält unser Wagen, wir nehmen dich mit auf die Wartburg. Die Erlaubnis haben wir, ich konnte Professor Scherings Wagen eben noch abfangen und die andern sollen nach Tisch auch hinaufkommen.«

Fräulein Charlotte bekam noch einen feurigen Kuß, dann flog Gustel hinauf, während die beiden Damen das Nötige mit Mademoiselle Laport besprachen, die endlich ihr Entsetzen über das Siegesgeheul der Barbaren überwunden hatte und die Treppe herabkam.

Zehn Minuten später saß Gustel der Tante Rickwitz und Fräulein Charlotte gegenüber im bequemen Landauer. Sie gab sich sehr viel Mühe, gerade so gedrückt, bescheiden und schweigsam zu sein, wie damals in Gotha, nur fehlte eben die gedrückte Stimmung durchaus und Komödie spielen konnte Gustel glücklicherweise nicht.

Der Tag war zu wonnig: goldigster Mai, alles in Blüten, junges Laub überall, ein feiner Luftstrom voller Duft, der die lichtgrünen Blätter ganz leise vor dem Himmelsblau hin und her bewegte, und überall Licht, Lust und Gesang – Vögel und Menschen, alles tirilierte – Gustels Wildfang reckte und streckte sich, er war nicht im Zaum zu halten. Von Zeit zu Zeit steckte er sein vorwitziges Mäulchen heraus. Tante Rickwitz lernte heute ein neues Nichtchen kennen – artig war's und wohlerzogen, gewiß; lief und sprang, wo es was zu helfen gab, konnte schweigen, wenn Tante oder Charlotte etwas zu sagen hatten – aber die Glieder waren gelöst, flott ging's hin und her – und die Zunge auch, sie stammelte nicht mehr leise und schüchtern, nachdem sie zweimal gefragt worden war, eine unbeholfene Antwort. Tante Rickwitz wunderte sich und Charlotte lächelte vor sich hin. Gustel war ganz unbefangen, und da sie sich so gewaltig anstrengte, den maitollen Wildfang im Zaum zu halten, meinte sie, genau »so sanft« zu sein wie in Gotha.

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Zehn Minuten später saß Gustel der Tante Rickwitz und Fräulein Charlotte gegenüber im bequemen Landauer.

Und es war und blieb »ein wonniger Tag«. Sie aßen oben im Restaurant zusammen zu Mittag; studierten die Wandsprüche; freuten sich an dem Blick hinaus ins frühlingsgrüne Land. Dann kam die Schar aus der Villa Schering, und als Tante Rickwitz erklärte, alle seien ihre Gäste, flüsterte Gustel ihr bittend zu: »Süße Tante, Schokolade!« Die Bitte ward erhört. Der Jubel war groß, nur Erna zog ein Näschen, denn Fanny und Wanda erklärten sehr entschieden: solche Schokolade schmecke doch noch besser als durch Zaunlauferei gewonnene.

Die satten Menschenkinder wanderten dann in die Burg hinein. Zuerst in den kleinen Vorhof, in dem das Lutherhaus steht, dann in den großen Herrenhof, den das Landgrafenhaus beherrscht. Alles entzückte Gustel, alles, außen und innen. Sie meinte in einer Märchenwelt zu sein, sie meinte des Wächters Horn zu hören und den Hof sich füllen zu sehen mit bunten Gestalten, mit Minnesängern vor allen. Wolfram von Eschenbach billig voran, ernsten, heiligen Gesichts, seinen Harfenknaben zur Seite und Walther von der Vogelweide danach – den mochte sie eigentlich noch lieber; wenn sie an den dachte, war ihr immer, als höre sie Vögel zwitschern – und heute, wo so wie so schon alles zwitscherte, mußte Herr Walther von der Vogelweide den Preis erringen und ersingen.

»Herr Walther von der Vogelweide,
Wer das vergäße, täte mir leide,«

rief Gustel in die Wälder hinab, die unter den von zierlichen Säulen getragenen Fenstern lagen.

»Ach du! mit deinen alten Herren, ich lobe mir die Ritter von heute, die da in Menge den Weg heraufziehen,« hielt Erna Widerpart.

»Nein, aber die heilige Elisabeth – die möcht' ich gewesen sein,« prahlte Fanny.

»Mir wäre eine glückliche Landgräfin schon lieber, etwa beim Sängerkrieg da oben sitzen und Kränze verteilen – himmlisch!«

»Natürlich, Lydia will auf dem Thron sitzen! – Wanda müßte hinauf – ach, Schönchen, setz dich ein einziges Mal hier im Sängersaal auf den Hochsitz.«

Der Führer erlaubte es, Schönchen saß oben – ihre Verlegenheit zeigte sich nur in etwas tieferem Rot der Wangen, anmutig und ihrer Glieder sicher, saß sie da: eine kleine Königin.

»Ich wollt', ich wäre ein Sängerknabe gewesen! Durch dick und dünn wäre ich mit meinem Dichter geritten!«

»Mit Herrn Walther, natürlich.«

»Irgend einer, irgendeiner, alle Dichter sind wundervoll,

›Wen freut des edlen Sanges Brauch,
Des Herz ist auch gar edlen Sinnes,
Denn Sang ist ein gar edles Gut,‹

singt Johannes Hadlaub.«

»Also Gustel ritte am liebsten durch den wilden Wald und wäre ein Bube. Gustel, Gustel! Ob sich darüber nicht die Villa Schering grau grämt.«

»Ach nein, ach nein, Tante Rickwitz, das ist nur so ein ›Wenn, vielleicht, unter Umständen‹; ein Traum-, Phantasie- und Uebermutsgespenst! In Wahrheit hält's Gustel mit Schusters Rappen.«

»Plappermäulchen.«

Damit ging Tante Rickwitz die Treppen hinunter, durch den Korridor, in dem die boshaften Sprüche auf die Frauen stehen, zum Beispiel: Mit zwanzig Jahren ein Pfau! – und wandte sich erst wieder zurück, als sie oben auf der Treppe stand, die vom Landgrafenhaus in den Hof führt.

»Gustel!«

Gustel flog heran. Vor ihnen lag der Schloßhof, gegenüber der Burggarten und über dessen niedere Mauer herein grüßte das grüne Thüringer Land.

»Sag mal, Frauenzimmerchen, du bist ja ganz ausgewechselt. Macht das der Wein von heute mittag oder die Mailuft? Welches ist denn nun die echte Gustel; diese hier oder die von letzthin in Gotha?«

Betreten sah Gustel der Tante ins Gesicht. »Ich – ich – glaube, ich bin immer echt, Tante – es ist nur so wonnig heute.«

»Ach so, und in Gotha war's nicht wonnig.«

»Tante Charlotte!«

»Oder hattest du damals das Visitenkleid für alte Leute angezogen?«

»Nein, nein, behüte! wenn ich auch natürlich sehr nett sein wollte, Tante Rickwitz; denn sieh mal, ich wollte dir doch gefallen, du solltest doch denken, ich sei ein ganz manierliches Patchen; und drum wurde ich noch viel, viel verlegener, als die Mehlmannsdamen vor mir standen, denn die hatte ich vorher wo anders getroffen. Tante Lottchen, es war der schrecklichste Tag meines Lebens!«

»Dummes Mädchen. Meine guten Mehlmänner?«

»Ja, Tantchen, sie sind sehr gut, aber ich, ich war doch so bodenlos gewesen auf der Fahrt; weil sie so komisch sprachen, macht' ich es ihnen nach, und ich hatte mich damals schon sehr geschämt, als ich Fräulein Charlottens Augen sah, wie sie aber nun gar noch bei dir zu Gast waren, da wär' ich am liebsten in ein Mauseloch gekrochen – ich dachte ganz ernstlich ans Davonlaufen. Drum war ich so verlegen den ganzen Tag – und wie du mich dann lobtest, schämte ich mich halb tot, und nun bin ich froh, daß es heraus ist, denn ich mußte dir's sagen.«

In Tante Rickwitz' Gesicht hatten die verschiedenartigsten Empfindungen Ausdruck gefunden. Erst Staunen, dann Entrüstung, dann kam ein heimliches Lachen in die Augenwinkel, und am Ende etwas, das beinah wie Rührung aussah.

Gustel sah nichts davon, sie hatte die Augen tief gesenkt bei dieser Beichte und war dann froh, daß sie »die Falschheit« vom Herzen herunter hatte, aber doch auch bange, wie ihr Geständnis wohl aufgenommen werde.

Eine kleine Weile lang blieb es still; endlich sagte die Tante: »Das sind mir schöne Geschichten! Das einzige Gute daran ist, daß du mir jetzt reinen Wein eingeschenkt hast, und darum soll's vergeben und vergessen sein, Mamsell Uebermut. Aber das merke dir, du Taugenichts, an dem ich nun einmal meinen Narren habe: den Uebermut halte im Zaum; nicht so pimplich wie letzthin und nicht so himmelstürmend wie heute. Das Rechte liegt allemal in der Mitte.«

Drauf lagen sie sich in den Armen und gaben sich mitten in der Wartburg einen Kuß, von dem alle beide nicht ganz genau wußten, wer eigentlich angefangen hatte.

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