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Auf dem großen Wasser.

Wieder einmal stand Paul Elwers in »Ritterpflichten« in der Halle des Anhalter Bahnhofs, diesmal aber auf der Seite, wo die Züge ankamen. Und es war sehr früh am Tag, »schneidig früh«. Da ihn erst Gustel, dann Mausis Frau Bewermann und schließlich noch Ida und Frida geweckt hatten, konnte er sich eigentlich nicht damit brüsten, daß er schon Glock fünf Uhr auf dem Bahnsteig stand. Er behauptete aber kühn: ohne Wecken würde er noch früher fertig geworden sein, und sah sehr ferienvergnügt dem fernen Rauchwölkchen entgegen, das den mit Pfeifen und Fauchen nahenden Zug verkündete.

Schnell wuchs das Wölkchen, spielte in allen sieben Regenbogenfarben, dank der ganz schleierlosen Sonne; dann wurde es grau und rußig im Schatten der Halle und zerflatterte, als die atemlose Maschine hielt, rasch unter dem hohen Gewölbe.

»Mit Adlerblicken« forschte Paul den Zug entlang. Dort war's! dort ging das Fenster in die Höhe, ein junges Köpfchen bog sich vor und zwei braune Augen schauten prüfend bald rechts, bald links.

Paul schwenkte die Mütze. »Hier! hier! Waldweibchen, ho!« Mit Teckelgeschmeidigkeit wand er sich durch die Menge, ehe eine Minute vergangen war, stand er vor den braunen Augen, schwenkte die Mütze noch einmal und rief: »Willkommen in Berlin, Fräulein Krafft! Schneidig, so früh schon helle Augen zu haben!« – Er half ihr aus dem Wagen, belud sich mit ihrem Handgepäck und ließ sich ihren Schein geben.

Lydia lächelte zu alledem, nickte, lächelte wieder, ließ ihn anstellen, was er wollte, sah rechts und links wie im Traum.

»Ich glaub' es gar nicht, daß ich wirklich in Berlin bin.« Das war das erste, was sie sagte. Dann sah sie Paul wieder strahlend und lächelnd ins Gesicht.

»Famos, nicht wahr?« antwortete er geschmeichelt; »na, warten Sie nur, das Piekste kommt erst noch – obwohl dies auch schon was ist.« Dabei deutete er die große Treppe hinab, an deren Fuß der Schutzmann mit den Droschkenmarken stand. »Jetzt sollen Sie mal staunen – er muß vorn herum fahren!«

Was Paul damit meinte, verstand Lydia nicht, willenlos folgte sie ihrem jungen Ritter – die wimmelnden Menschen, das Rufen von Zahlen, das Krachen der Gepäckstücke, die ausgeladen wurden, all die mannigfaltigen unerklärlichen Geräusche, verdoppelt durch den Wiederhall, machten sie schwindlich, und das leidenschaftliche Verlangen, nichts, aber auch gar nichts zu versäumen, ließ sie beinah alles übersehen. Endlich saßen sie in einer Droschke, Lydia hatte kaum bemerkt, daß Paul ihr Gepäck mit einem Dienstmann nach dem Stettiner Bahnhof sandte, sie empfand es kaum, wie ihr Ritter sie heftig am Arme zurückriß, weil sie blindlings in die dort wartenden, sich nach und nach in Bewegung setzenden Droschken hinein lief.

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»Jetzt schauen Sie sich um, ich mache den gebildeten Führer,« sagte Paul.

»Nun also!« rief Paul zufrieden, »wir leben noch – aber ein bißchen mehr als auf dem Rennsteig müssen Sie hier doch wohl aufpassen.«

Lydia fand wieder nur ein Lächeln zur Antwort, aber da weckte sie die Bewegung der Droschke endlich aus ihrer Bezauberung auf. »Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet,« sagte sie schelmisch, »dafür ziehe ich Sie mal in Göhren aus dem Wasser.«

»Na,« meinte Paul, »nur nicht immer gleich an Rückerstattung denken, ich habe gern Außenstände. Jetzt schauen Sie sich um, ich mache den gebildeten Führer. Erst einen Blick zurück auf den Bahnhof. Unser schönster – natürlich – nach Altenburg fahren wir am liebsten!« – dabei machte er Lydia eine Verbeugung, auf die er sehr stolz war; er übte sich einstweilen auf den galanten Studenten ein.

»Sie meinen wohl nach München?« neckte Lydia. Dazu lachte er, sagte aber dann: »Natürlich ist es schade, daß heuer das dritte Waldweibchen fehlt.«

»Sonst könnten wir uns in Nixen verwandeln.«

»Halt, halt! – Berlin entwischt! – Langsam, Kutscher! Zeitfuhre! – Sehen Sie, wo wir jetzt fahren, ist Königgrätzerstraße, und diese Straße entlang zogen im Sommer 71 unsre Soldaten, als sie aus dem Krieg kamen. Fein! Alles Blumen, Tannen, Fahnen und Masten; Via triumphalis sagt der gebildete Lateiner. Und dort rechts – gleich zwei Museen.«

»Gleich zwei?«

»Na, wir haben ein Dutzend; unsre Bildung! Das bekommen Sie alles auf dem Rückweg zu sehen. Und dies ist der Potsdamer Platz. Piek, nicht wahr? Dorthinein ist die Leipzigerstraße mit so vielen hübschen Läden, daß Ida und Frida allemal zwölf Stunden brauchen, um glücklich durchzukommen, und diese Ecke da ist Josti. Sie wissen nicht, was Josti ist? Nein, so was! Erdbeereis mit Schlagsahne! Wenn wir Elwerse vor Uebermut nicht aus und ein wissen, dann erbetteln wir uns eine Naschstunde bei Josti. Da im Garten sitzen mit Mama und dem kleinen Volk und die Straßen auf und ab gucken: Schneidig!«

Lydia nickte; das konnte sie sich denken! Jetzt war's freilich noch nicht allzu lebhaft, nur Milchwagen fuhren gleich zehn hintereinander vorüber – lichtgrau gestrichen, blau bekittelte Buben auf kleinen Sitzen tragend, aber es lief doch schon allerlei Volk durcheinander. Und was für herrliche fünf Straßen mündeten in diesen Platz! In die schönste bog jetzt die Droschke ein. Dichter Kastanienschatten wölbte sich über ihnen, hinter den Bäumen lagen grüne, stille Gärten und prächtige Häuser, alle noch im tiefsten Schlaf; dann kam wieder ein kleiner Platz mit plätscherndem Springbrunnen, und nun lagen nur noch zur Linken verschlafene Villen, rechts breitete sich weit, grün und würzig der Tiergarten aus. Von fern schimmerte eine Diana aus dem Wiesengrund, dann leuchtete Meister Lessings klare Stirn in der Morgensonne, da und dort kamen Reiter und Reiterinnen aus den weichen Parkwegen herausgesprengt; manchmal öffnete sich dem Blick eine lange gerade Allee, in deren Rahmen sich ein Denkmal oder ein Schlößchen zeigte. Lydia seufzte tief auf vor Entzücken.

Ja, hier mußte man glücklich sein; das war ganz und gar nicht grau in Grau, wie Vater die Städte malte.

Da bog der Wagen links um und hielt; die Treppe herab kam's auf leichten Füßen geflogen und Waldweibchen, Waldweibchen! rufend, fiel Gustel Lydia um den Hals.

Zwei Stunden später, nachdem Lydia sich gepflegt und an Kaffee erfrischt hatte, war die ganze Gesellschaft auf dem Wege nach dem Stettiner Bahnhof. Gustel und Lydia, Paul und Frau Bewermann mit Mausi fuhren voran. Diesmal sah Lydia fast gar nichts, so viel sollte sie sehen; Paul und Gustel riefen immer gleichzeitig: da! dort! und weil Frau Bewermann dann jedesmal meinte, das Allerwichtigste sei vergessen worden, so »erlaubte sich ein alter Dienstbote auch mal ein Wörtchen zu sagen«.

Jetzt war's lebendig auf den Straßen; Menschen, Wagen, Karren, Pferdebahnen, Omnibusse und immer wieder Menschen; das glich schon eher des Vaters großer Stadt. Lydia war zu Mute, als müsse sie schnell einmal die Augen zumachen, um nur überhaupt wieder sehen zu können. Aber die Siegessäule und das Brandenburger Tor und die vielen, vielen Häuser sah sie doch und hatte den Trost dabei, daß sie das alles wiedersehen würde, und dann acht Tage lang gründlich, denn so lautete die Einladung, und Vater würde auch noch das erlauben, wenn er auch bisher stets gesagt hatte: »das Seebad – für deine Gesundheit – meinetwegen das Seebad.«

Traumhaft war ihr zu Mute, als sie endlich im Zuge saß, und sie mußte sich immer wieder fragen: Schläfst du nicht etwa auf deiner Fahrt von Leipzig nach Berlin und wirst vom nächsten Pfiff geweckt werden und dasitzen, ganz allein, ohne irgend ein befreundetes Menschenkind?

Aber sie schlief nicht und sie war auch gar nicht lange müde, Ida und Frida, Paul und Gustel machten zu viel Scherzchen.

Auch füllten sie ein Abteil ganz allein und konnten schwatzen »wie zu Haus«.

Papa hielt einmal Rauchstündchen nebenan, und ehe Lydia nur begriff, wie das möglich sei, riefen die Schaffner: »Stettin – Stettin!«

Schnell stand sie draußen mit beiden Füßen auf pommerschem Grund.

»Ja, Pommern, weißt du, Gustel, das hat meinem Vater immer besonders in die Augen gestochen; er hat mir gesagt, ich solle unterwegs schnell was lernen von pommerscher Gänsezucht.« Dabei seufzte sie aber richtig wieder.

»Aus dem echten Pommerland werden wir schnell wieder heraus sein, jetzt geht's zu Schiff.« Mama, Gruppe Mausi und das Gepäck wurden in eine Droschke verladen, die andern machten sich zu Fuß auf den Weg. Ein tüchtiges Stück von Stettin bekam man zu sehen, ehe man vom Bahnhof zum Schiffe kam, das heißt zum Rügener Dampfer, denn Schiffe – Schiffe gab's ohne Ende und Zahl – große Lastkähne und kleine Lustdampferchen, Segelboote und Segelschiffe, stolz dreifach bemastet, mit Raaen und Spieren aufgeputzt, rußige Schleppdampfer, hellgrüne Obstkähne und lichte Passagierschiffe; – da lag sie endlich, schlohweiß und lustig, die »Freia«, welche die Familie Elwers nach Göhren bringen sollte. Vom Wasser, auf dem diese Schiffe lagen, hatte die junge Gesellschaft noch kaum etwas bemerkt. Und dies Zu-Schiff-gehen war auch weit einfacher, als die »Landratte« Lydia sich das gedacht hatte – geradeaus lief die Holzbrücke vom hochgemauerten Ufer zum Deck hinüber, tripp-trapp war's geschehen, ohne Herzklopfen oder Fährlichkeit. Lydia atmete auf; ganz, ganz heimlich hatte sie sich diese letzte halbe Stunde lang sehr vor dem Zu-Schiffe-gehen gebangt.

An Bord ging's noch eine Treppe hinauf und dort oben saßen unter einem leise flatternden Baldachin, schön luftig und im Schatten, Mama und Frau Bewermann. Mausi kam ihnen entgegengetrippelt: »Gussel, Gussel, nun gehn mi auf Schiff!«

Gustel hob Mausi hoch in die Luft. »Putzchen, wir sind doch schon auf dem Schiff.«

»Nein,« antwortete Mausi, »nicht Schiff, Haus; Mausi Trepp rauf gangen is. Treppe allemal Haus.«

Familie Elwers lachte und vom Nebentisch kam ein leises Echo dieses Lachens. Rücken an Rücken mit Mama hatte sich's dort eine andre Familie bequem gemacht. Eine schöne junge Frau, ein stattlicher Mann, ein nettes junges Dienstmädchen und auf dem Tisch stehend, sichtbarlich als Hauptperson, ein Bübchen von etwa vier Jahren.

Dies Bübchen hatte gelacht.

»Dumm, dumm!« rief es vergnügt, als Familie Elwers zu ihm hinüber schaute – »un ganz klein, ich bin groß, ich weiß was ein Schiff ist.«

Gustel hob Mausi auf die Banklehne, so daß die kleinen Leute sich die Hände reichen konnten. Dazu sagte sie: »Ihr seid alle beide groß, nur eins immer noch größer als das andre.«

Bübchen sah Gustel nachdenklich an, dann sagte es: »Ja, ich bin immer größer und ich heiße Wolfgang Amadeus Mozart.« Es sprach den Namen so feierlich aus, daß keines lachte, nur ein ganz heimliches Lächeln huschte über Papas Gesicht und die schöne fremde Frau sagte leise zu Mama: »Er heißt natürlich nur Wolfgang Amadeus, da er aber gehört hat, er sei Mozart zu Ehren so getauft, haben sich die Namen in dem lieben kleinen Kopf so verbunden, daß sie nicht mehr zu trennen sind.« Laut fügte sie hinzu, dem Bübchen über das Haar streichend: »Mamas Wölfchen bist du, nicht wahr?«

»Ja,« sagte der kleine Mann, »und mit der ganz kleinen Großen will ich spielen.«

Bald war er mit Mausi »dick intim«, und Frau Bewermann hütete mit Stolz: »die schönsten Kinder aufs janze Schiff.«

Gustel aber hatte, noch ehe der Anker gelichtet war, eine Entdeckung gemacht. Sie nahm Lydia bei der Hand, zog sie zur Brüstung und flüsterte: »Sie haben einen Geigenkasten mit, er ist ein Künstler. Himmlisch, einfach himmlisch!«

Lydia rümpfte das Näschen. »Ich begreife dich nicht. Künstler! Man läßt sich von ihnen etwas vorspielen, was man bezahlt, und lobt es, wenn sie etwas können, aber im Leben hält man sich von ihnen zurück, denn sie sind nur ein klein bißchen besser wie Zigeuner und Jahrmarktsleute, aber nie so, daß man mit ihnen verkehren möchte; da sind mir Bauern noch lieber.«

Gustel sah Lydia starr an. »Jetzt begreife ich dich wieder einmal nicht.«

»O du! du hast natürlich gleich am ersten Vormittag einen neuen Schwarm.« Das klang bedenklich gereizt, aber eben deshalb lachte Gustel jetzt ganz vergnügt.

»O du! jetzt verstehe ich dich schon wieder; eifersüchtig bist du. Aber das ist töricht, weißt du, sehr! – denn schwärmen muß Gustel – und bin ich deshalb schon jemals untreu gewesen?«

»Nein,« antwortete Lydia zögernd, da Gustels Schweigen eine Antwort verlangte, »aber – aber es könnte noch kommen.«

Gustels Empörung kam nicht zu Worte, denn Paul eilte herbei und verkündete: »Jetzt geht es los!«

Die Schiffsglocke klang zum letztenmal, der Dampf quoll stärker aus dem kurzen, dicken Schlot, ein Ton wie das Stöhnen eines Riesen kam aus dem Kessel herauf, die Ankertaue knarrten, und langsam, vorsichtig suchte die »Freia« ihren Weg hinaus aus dem Gewirre der nachbarlichen Schiffe. Sowie sie freies Fahrwasser hatte, begann sie schneller und schneller dahinzugleiten, die Maschine im Grunde fauchte und pochte, Lydia behauptete, jeden Stoß der Achse zu spüren, aber nicht lange, so hatte sie sich an die Bewegung gewöhnt und sah hellen Auges hinaus nach den Ufern der Oder – sehr merkwürdig waren diese, aber so flach freilich, daß die bescheidenen Ufer ihrer heimatlichen Pleiße romantisch schienen gegen diese arbeitsame Ebene. Wohin man schaute, ragten Kräne empor, bereit, Waren ein- oder auszuladen – rechts und links waren ihrer in Arbeit; Docks tauchten auf mit kranken Schiffen, die verpflastert werden sollten, und die langgestreckten Werfte des Vulkan, auf denen wie in des alten Feuergotts unterirdischer Behausung gehämmert wurde, nur daß dieser Vulkan, statt Schild und Schwert wackerer Helden, Panzerschiffe in die Welt schickte: von Meer zu Meer. Wie das klang! Lydia wurde es heiß – nein, da mochte sich die Steinbruchklippe, die so malerisch über das grüne Wässerchen daheim ragte, nur zehnmal verstecken.

Nun kamen sie gar ins Haff. Die Ufer wichen zurück, ein großer See schien sich aufzutun, stolz schnitt die »Freia« an einem Schulschiff vorbei, an dem eben ein Schock weißkittlicher, junger Burschen die Segel reffte. Mausi jauchzte auf über die flinken Gestalten, die da hin und wieder kletterten, an den Rahen hinanliefen wie Katzen und klipp klapp mit oahoi im schönsten Takt die Segel zusammenrollten.

Lydia aber deckte die Hände über die Augen: »Schrecklich! wenn sie nun herunter fallen!«

Da trat Wolfgang Amadeus zu ihr hin und zupfte sie am Aermel. »Du! Ein Schiffsjunge fällt nie, und Wölfchen fällt auch nicht; und wenn ihr fidel seid, wollen wir alle Tage zusammen Wasser patschen, dann werde ich euch helfen, wenn ihr hineinfallt.«

Sie machten die schönsten Pläne, wie und wann Wölfchen ihnen helfen solle, leider umsonst, denn die Eltern von Wolfgang Amadeus wollten nach Saßnitz, und das war ein tüchtiges Stück zu Wasser wie zu Lande von Göhren entfernt.

»Tückisch!« rief Gustel, als sich das herausstellte. Lydia aber wurde beinahe übermütig vor Freude; sie erlaubte Gustel auf einmal, die schöne Fremde anzuschwärmen, und half sogar ein bißchen mit. »Es war ja nur auf kurze Zeit.«

Das Paar hatte sich längst als »Kapellmeister Sorgert und Frau« vorgestellt, man aß zusammen und versäumte darüber beinah wie das Schiff in Swinemünde anlegte.

»Nun geht es hinaus ins Weltmeer,« verkündete Frida mit lauter Stimme. Die Luft wurde steifer – Paul schlug den Kragen auf und behauptete, es sei ein Sturm im Anzug. Er brachte Ida richtig zu einem bedenklichen Gesicht. Zwar hatte sie am Abend vor der Abreise gesagt, heuer könne er sie nicht wieder graulich machen, sie sei nun zu alt und glaube nicht mehr an Nixen und Meerkönige, aber Sturm? Sturm gab es doch, und was es gab, das konnte auch kommen, heute wie gestern oder ehegestern.

Da war es gut, daß der freundliche Kapitän tröstend versicherte, der Sturm sei auch auf Ferien, heute gäb's nur ein Schmetterlingswindchen.

Und so war's und so blieb's. Der Kapitän war ein besserer Windkenner als Paul.

Hinaus in die Ostsee, an der Greifswalder Oie mit dem nadelfeinen Leuchtturm vorbei, den sich langsam aus dem Wasser hebenden Ufern der Halbinsel Mönchgut entgegen, fuhren sie glatt und lustig dahin.

»O weh, nun heißt es Abschied nehmen – Schwarm, fahre wohl!« flüsterte Gustel Lydia neckend ins Ohr, als der Dampfer angesichts der Göhrener Landungsbrücke hielt und die Schiffstreppe hinabschlug.

Lydia vermochte trotz Gustels Treueversicherung ein Freudengefühl über das Zurückbleiben der Kapellmeisterfamilie nicht zu unterdrücken. Nur konnte sie sich dem Genuß nicht lange hingeben. Plötzlich wurde ihr klar: da hinab sollst du! In das Boot, das da unten auf und nieder wippt, wie es den Wellen gefällt, und von hier oben sollst du auf steiler Treppe hinunterkraxeln – das kannst du ja gar nicht, da wirst du schwindlig und ohnmächtig und fällst ins Wasser und ertrinkst.

Angstvoll sah sie zu, wie die andern hinabkamen. Zwei Jungen sprangen ganz keck ins Boot, aber dabei schwankte und wippte es so heftig, daß die, die schon drin saßen, aufschrieen; und nun sollte eine alte Dame hinunter, die seufzte und stand zögernd oben an der Treppe: Die muß ja ins Wasser fallen, dachte Lydia und machte die Augen fest zu, um das wenigstens nicht zu sehen.

Da tippte sie etwas auf die Schulter: »Komm, Lydia – Papa und Mama sind schon unten, wir müssen sonst auf ein andres Boot warten, und das ist langweilig.«

Lydia machte die Augen auf; richtig, da saß Mama Elwers mit Ida und Frida ganz behaglich neben der dicken Dame, die auch nicht ertrunken war, und Papa streckte Gustel die Hand entgegen; eins, zwei, drei war sie unten im Boot.

»Nur Mut,« flüsterte ihr Pauls Stimme ins Ohr, »das Wasser hat hier wirklich Balken.«

Da ärgerte sie sich, biß die Zähne zusammen und fing an hinabzusteigen. Es ging merkwürdig gut, aber die Kniee zitterten ihr noch, als sie schon neben Gustel saß und die Schiffer, nachdem Paul als letzter herabgekommen war, vom Dampfer abstießen.

Oben winkte die Familie Sorgert ihnen nach, Wolfgang Amadeus mit beiden Armen, unten klatschte Mausi in die kleinen Hände bei jedem Wiegen des Bootes. Es war eine sanfte, schöne Fahrt nach dem Ufer hinüber, aber das Zittern verlor Lydia doch nicht ganz. Jede der weichen Wellen, mit denen das Meer sie dem freundlichen Göhren zutreiben wollte, schien ihr eine beängstigende Sturmwarnung; sie hörte kaum, wie Gustel ihr den Badestrand mit den Stegen und Hütten zeigte, auf dem jetzt Laken und Höschen, lustig flatternd, zum Trocknen aufgehängt waren; sie achtete nicht darauf, wie Paul ihr die Stange oben auf dem Felsvorsprung als Sturmwarnungszeichen erklärte.

Als ob man den Sturm nicht auch ohne solch aufgezogenen Ball merken würde!

Schwindlich war ihr zu Mute, als sie sich endlich auf der schmalen kleinen Landungsbrücke fand und von den mit ihr Aussteigenden ans Land geschoben wurde.

Dort standen in buntem Gemenge die Badegäste, um das große Ereignis des Tages, die Dampferankunft, zu genießen und die neue Gesellschaft zu mustern. Die Ferien hatten schon gewirkt, es gab eine Fülle von Kindern, die sich im Sand kollerten, und während einige der Erwachsenen neiderfüllt sagten: »Welch eine köstlich ruhige Fahrt die heute gehabt haben!« setzten andre ein wenig spöttisch hinzu: »Ja, aber ob sie Wohnung bekommen werden? Es soll alles besetzt oder bestellt sein, sagte der Postmeister, und gestern hat schon ein Herr auf dem Billard geschlafen, ehe er weiter ins Land hinein gewandert ist.«

Das machte nun der Familie Elwers keine Sorgen, sie wurden von ihrem Spatzennest erwartet. Stine Steen machte dort seit drei Tagen rein und Stine Steens Junge hielt mit seinem Schubkarren schon seit einer halben Stunde am Strand »von wegen der Koffers«.

Und da eilten ja auch noch viele andre empfangsbereite Menschenkinder auf sie zu. Allen voran mit Siegesgeheul Os und Ot, ihnen folgend mit Lächeln und Nicken Herr Kalkoff und Myrrha. Die braunseidene gnädige Frau blieb zwar neben Großmama auf der Bank an der Düne sitzen – »nur nicht ins Gedränge« – ließ aber ihr Spitzentuch grüßend im Winde wehen. Hermine Gesterding kam den Herbeieilenden langsam nach.

»Jetzt weiß ich es!« rief Paul plötzlich und faßte Gustels Arm. »Den ganzen Tag hab' ich mich umsonst gequält, aber jetzt weiß ich's – unsrer Hermione sieht die Frau Kapellmeisterin ähnlich, merkwürdig ähnlich – nur freundlicher und glücklicher sieht unsre neue Bekannte aus, deshalb verwischte sich die Ähnlichkeit immer wieder.«

Gustel stimmte dem Bruder nachdenklich zu, aber ehe sie sich über den wichtigen Fall verbreiten konnte, mußte sie Frau Stine Steen begrüßen.

Frau Stine Steen war eine hübsche ältliche Bäuerin, die ihre Mönchguter Tracht trug und Elwersens Häuschen verwaltete. Jetzt konnte sie sich nicht genug über Mausi wundern: »Was dat förn söutes Gör worden was,« und als sich endlich die »ganze Kohorte« in Bewegung setzte, ging sie mit allerlei Handgepäck beladen neben Frau Bewermann und Mausi dem Zuge voran.

»Gott behüte, die vielen Kinder! Was ist denn das für eine erhebliche Familie?« fragte der kleine spitze Herr, der das Witzemachen unter den Badegästen übernommen hatte.

»He, Fischer Sture, wo haben die denn eingemietet?«

Fischer Sture stand breitbeinig in seinen weiten weißen Segeltuchhosen am Strande und schaute Doktor Elwers behaglich nach. Er kniff das linke Auge zu und sah schief aus dem rechten auf den kleinen, spitzen Sprecher hinunter, dann antwortete er, immer fein langsam, wie's der Mönchguter Art ist: »Die mieten nich ein, die sind ansässig, die hüren to uns, nich to ju.«

»Ansässig? Sieh mal an! Nun, da trampeln die Kinderfüße wenigstens nicht erholungsbedürftigen Menschen auf den Köpfen herum.«

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