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8. Auf der Höhe

In der hellbeleuchteten Einfahrt eines prächtigen Gebäudes der Hauptstadt B. stund der Wagen zur Abfahrt bereit. Ungeduldig scharrten die Pferde den Boden, der Kutscher, in einen warmen Pelzmantel gehüllt, ließ sachte die Kordel der Peitsche auf dem glänzenden Rücken der edlen Tiere spielen, und schaute von Zeit zu Zeit nach der Treppe hin, von wannen die Herrschaft kommen sollte.

Vor dem Hause auf der Straße draußen stund ein Haufe müßiger Gaffer, deren ja jede Großstadt im Überfluß aufzuweisen hat, und wartete neugierig auf die Abfahrt des Wagens; vielleicht war der Zufall günstig und konnte man die Toilette der eleganten Dame bewundern, die sich zu irgend einer Gesellschaft begab; im andern Falle freilich blieb ihnen kaum der Anblick einer verhüllten weiblichen Gestalt gegönnt, welche vom Gatten und Diener sorgfältig in den Wagen gehoben, alsbald in die schwellenden Kissen zurücksank und sich so jeder weiteren Beobachtung entzog.

Das Haus, in dem sich die harrende Equipage befand, war das Eigentum des rühmlichst bekannten Privatdozenten der Chirurgie Dr. Joseph Schlicht oder vielmehr seiner jugendschönen Gemahlin Elfrieda, die es von ihrem Vater am ersten Tage ihrer Ehe zur Morgengabe erhalten hatte. Die Gattin des berühmten Arztes war nämlich das Kind eines Millionärs, der durch glückliche Spekulationen nicht nur ungeheure Reichtümer, sondern auch das Wappenschild und den Titel eines Freiherrn erworben hatte, das höchste Ziel des ehrgeizigen Mannes. Wie denn aber kein Glück auf dieser Erde vollkommen ist, so war auch diesem baronisierten Bankier der männliche Erbe versagt geblieben und er trug das schmerzliche Bewußtsein in sich, daß sein adeliger Name nach seinem Tode wieder in Vergessenheit zurücksinken würde.

Baron Felden hatte schon nach kurzer Ehe seine Gattin verloren; Elfriede, seine kleine Tochter, der schönen Mutter schönes Ebenbild, wuchs, möglichst sorgfältig gehütet, fröhlich heran, entfaltete sich in reizender Anmut und sah nicht ohne eitles Selbstbewußtsein die ganze vornehme Männerwelt huldigend zu ihren Füßen. Von Glanz und Reichtum umgeben, von kriechenden Schmeichlern und Dienern in jeder Laune, jedem Eigenwillen bestärkt, immer gelobt, niemals getadelt, noch weniger bestraft, war es fast wunderbar, daß dennoch manches Gute in Friedas Charakter zu Tage trat; natürliche Anlage, die selbst die verkehrteste Erziehung nicht schädigen konnte und die in ihrem Gemüte sproßte, wie ein zartes Edelpflänzchen unter Unkraut, freilich schwer bedroht, von letzterem erstickt zu werden. Niemand hätte staunen dürfen, wenn die Baronesse von Felden ein hochfahrendes, unliebenswürdiges Geschöpf geworden wäre, das jeden gediegenen Mann abstieß; sie hatte nicht verstehen gelernt, was Großes es um die sittliche Aufgabe des Weibes ist, was um Pflichtgefühl und Hingebung, und was um weibliche Anmut. Für ihren Vater war sie der Inbegriff aller Schönheit und Vollkommenheit, und er hegte die kühnsten Hoffnungen für ihr einstige Stellung in der Welt. Da Elfrieda mit ihrem großen Reichtums eine ungewöhnliche Schönheit verband, wollte dem verblendeten Bankier selbst ein Fürstendiadem nicht zu vornehm dünken, um die Stirne seiner Tochter zu schmücken; ihre glänzende Verheiratung sollte ihn schadlos halten für die eigne schwere Enttäuschung, für den ihm versagt gebliebenen Sohn.

Baron Felden wollte deshalb aus all feinen Himmeln fallen, als ihm Frieda erklärte, sie habe Dr. Schlicht das Versprechen gegeben, seine Gemahlin zu werden. Der Bankier konnte sich außer eines hervorragenden Finanzgenies nicht eben einer tiefergehenden Bildung rühmen, wußte deshalb die geistige Bedeutung des jungen Arztes keineswegs zu schätzen; ihm war Dr. Schlicht nichts weiteres, als ein Mann aus dem Volke, der Sohn einer Arbeiterfamilie, ohne Namen, ohne Vermögen. Was konnte seine Tochter an ihm gefunden haben, um ihn all den aristokratischen Freiern, die sich um ihre Hand bemühten, vorzuziehen?

Als Joseph damals das Elternhaus und die Heimat für seine ungestümen Wünsche zu enge gefunden und deshalb verlassen hatte, war ihm eine Stelle als Reisearzt eines reichen vornehmen Russen angeboten worden und dankbarst hatte er sie angenommen. Bot ihm doch der lebhafte Wechsel der Eindrücke nicht allein die gründlichste Betäubung seines Gewissens, sondern auch eine kostbare Gelegenheit, viel Neues und Interessantes zu sehen, fremde Menschen und Sitten kennen zu lernen und sein ärztliches Wissen wesentlich zu erweitern. Die mehrjährige Reise war überdies noch von großem Nutzen für seine allgemeine Bildung; als Begleiter und quasi Freund des jungen Russen wurde er durch denselben in die meisten hohen Gesellschaftskreise eingeführt, und auf diese Weise mit den feinen Umgangsformen der vornehmen Welt vertraut.

Nach längerer Abwesenheit kehrte der Russe in die deutsche Hauptstadt zurück, um dort noch ein weiteres Jahr zu verbleiben und ließ auch dann den liebgewordenen Reisegefährten nicht von sich. Joseph benützte dieses Jahr zur ernstesten Vorbereitung für sein letztes Examen und erlangte mit Auszeichnung den Doktorgrad.

Seine Doktorschrift hatte in der medizinischen Welt ungeteilte Bewunderung erregt, und ein paar glückliche Operationen, die der noch so junge Arzt bald nachher ganz unverhofft an Stelle seines Vorgesetzten zu machen genötigt war und ausgezeichnet vollführte, sicherten ihm rasch das Vertrauen der leidenden Menschheit.

Man drang vielfach in ihn, sich in B. bleibend niederzulassen und hier seine Praxis auszuüben, und er wiederstand nicht; zog ihn doch nichts in die alte Heimat zurück, er fürchtete im Gegenteile, sein Talent werde dort nicht genügend anerkannt werden, weil man ohne Zweifel seinem Streben das richtige Verständnis nicht entgegenbringe, sondern ihm auf Grund alter Vorurteile noch zürnen oder gar den Gottesleugner in ihm fliehen würde! Kleinliche Krämerseelen! Arme, verblendete Mutter! Ach, dieser Mutter gedachte er zwar noch oftmals in stiller Wehmut, an ihr hing sein Gemüt noch in unveränderter Liebe, aber er bemitleidete sie, er beklagte es, daß sie nicht imstande war, sich zu seiner Geisteshöhe zu erschwingen.

Was Studium und Hörsal, was die Vorträge ungläubiger Professoren vorbereitet hatten, hatten leichtlebige Freunde, schlechte Bücher und der Umgang in der sogenannten feinen Gesellschaft zur Reife gebracht. Die Witze, die anfangs seine Wangen in ehrlicher Scham gerötet hatten, sprudelten jetzt leicht von seinen Lippen, die Religion erschien ihm als Geisteszwang – sie war nur für das dumme Volk vorhanden – die Seele endlich war ein Ding, das ihm auf dem Sektionstische noch niemals begegnet war. Wo war sie dann?

Ohne genauer und tiefer nach Begründung dieser Ansichten zu forschen, nahm er sie in sich auf und wandelte fort und fort auf diesem gottlosen Wege.

Bei all' diesen tief im Innersten versteckten Mängeln und Unvollkommenheiten aber hatte sich Joseph gleichwohl das weiche Herz bewahrt und kam dasselbe gerade in seiner Eigenschaft als Arzt gar vielfach zur Geltung. Ohne Unterschied des Ranges oder Vermögens behandelte er die Kranken, die ihre Zuflucht zu ihm nahmen, man möchte sogar behaupten, daß er oft bei Heilung der Armen eine ganz besondere Aufmerksamkeit und Hingebung an den Tag legte, und viele Gebete stiegen himmelwärts für den guten, menschenfreundlichen Doktor, der nicht nur guten Rat und Hilfe, sondern auch Arzneien und stärkende Speisen und Getränke in die Häuser der Dürftigen trug.

Neben dieser Popularität, deren sich Dr. Schlicht bereits in armen und ärmsten Volksklassen rühmen konnte, war er auch ein hochwillkommener Gast in den vornehmen Kreisen.

An der Seite seines Freundes Nikolaus schon war er allenthalben eingeführt worden, und erfreute sich rasch der allgemeinen Hochschätzung.

Man wußte nichts genaues über seine Herkunft, wohl aber waren Gerüchte von ganz wunderbaren Kuren, die er schon gemacht, über ihn im Umlaufe, auch kamen den Leuten da und dort die Kundgebungen einer dankbaren Mutter, deren einziges Kind Dr. Schlicht gerettet, zu Ohren; die einen hielten ihn für fabelhaft reich, indes andere ihn wieder völlig aus Armut und Elend hervorgegangen glaubten, und so wob sich denn mit der Zeit ein sagenhafter Nimbus um ihn, der ihn namentlich der jungen Damenwelt höchst interessant erscheinen ließ. Nicht ohne Groll fanden die bisherigen Beherrscher der Salons in Dr. Schlicht einen nicht zu unterschätzenden Nebenbuhler und fürchteten, von ihm überflügelt zu werden. Er war auch in der Tat eine seltene Erscheinung. Seine hohe, aber keineswegs derbe, sondern schlanke und geschmeidige Gestalt zeigte das vollendetste Ebenmaß aller Formen; die Augen, die schon in früher Kindheit in ihrem weichen träumerischen Ausdrucke das Entzücken seiner Mutter und Großmutter, in ihrem zornigen Aufblitzen aber klein Gretchens Schrecken gewesen waren, bildeten auch jetzt noch den Magnet, der alle jungen Damen anzog, sein Gesicht zeigte jene zarte durchsichtige Blässe, die man gerne auf durchwachte Nächte oder Überanstrengung im Berufe zurückführt. Schmucklos fielen die dunkelbraunen Haare im natürlichen Gelocke von der freien Stirne in den Nacken zurück; der Ausdruck seiner Züge war durchaus edel und durchgeistigt, die Stimme klang weich und tief, wenn Joseph sang, konnte er bis zu Tränen rühren.

Kein Wunder, wenn sich die Universität B. diesen jungen Gelehrten, zu erhalten suchte, und ihn deshalb sehr bald schon unter ihre Dozenten berufen hatte, kein Wunder, wenn die Damenwelt für ihn schwärmte, und die Herren auf ihn eiferten und jede Gesellschaft sich's zur Ehre rechnete, ihn zu ihren Gästen zählen zu dürfen.

Baronesse Elfrida von Felden hatte den vielbesprochenen jungen Privatdozenten wiederholtemale bei abendlichen Unterhaltungen getroffen, und konnte man das Interesse, das beide junge Leute aneinander fanden, wohl ein gegenseitiges nennen.

Sie fand ihn von dem Augenblicke an, da sie ihn sah, weit besser und gediegener als alle andern Herren, während ihn ihre alles überstrahlende Schönheit förmlich berauschte; er beeilte sich, ihr möglichst bald vorgestellt zu werden, und schon die erste Unterhaltung förderte den lebhaften Wunsch beider, sich recht bald wieder zu begegnen.

So wurde Dr. Schlicht im Hause des Baron Felden ein oft und gerne gesehener Gast, und immer mehr und mehr von der reizenden Liebenswürdigkeit und Anmut Elfridas hingerissen.

Viel mochte wohl zu diesem seinem Entzücken die Pracht ihrer Umgebung, die harmonische Schönheit ihrer Toilette, vielleicht auch der goldene Hintergrund eines völlig sorgenfreien, zu allem Genusse berechtigten Lebens beitragen, auch hatte der junge Arzt sich gar wohl als der verwöhnte Liebling der Damenwelt gefallen, in den Kreisen aber, in denen er sich seit den letzten Jahren bewegt hatte, nur junge Damen nach der heutigen Mode kennen gelernt mit ihrem oberflächlichen Wissen, ihrer seichten leichtfertigen Unterhaltung, ihrer Bildung mit gleißendem Firnis übertüncht, ohne tieferen Wert und Gehalt. Nicht eben schlecht und böse waren sie, gestanden sie ja doch ihre Fehler und Untugenden wie ungezogene verwöhnte Kinder unumwunden zu, und machten auch an die Männerwelt nicht ernstere wichtigere Ansprüche in betreff der Tugend und Religion. Die Bilder seiner Mutter und Großmutter, selbst das seiner heranwachsenden Schwester waren längst in Josephs Erinnerungen verblaßt und paßten überhaupt nicht in diesen goldstrotzenden Rahmen, in dem er die Millionen-Erbin schaute! – Elfrida war wie alle andern, dann und wann vielleicht sogar ein wenig besser als sie; bei ihrer Schönheit, ihrem Reichtum waren Eitelkeit und die Lust sich gelobt zu sehen, und Vergnügungen zu genießen, nur allzu natürlich und auch verzeihlich. So sah Joseph in ihr zwar keinen Engel, wohl aber das reizendste, lieblichste Mädchen, dessen Besitz ihm unaussprechlich begehrenswert erschien. Für echte, wahrhaft weibliche Tugend war ihm längst schon jedes Verständnis abhanden gekommen. Aufopferung, Selbstverläugnung waren Dinge, die man dort, wo man sich mit Vorliebe bewegte, kaum dem Namen nach kannte, und überhaupt nur beim gemeinen Volke voraussetzen zu sollen glaubte.

Nachdem eines Tages das entscheidende Geständnis über die Lippen des jungen Mannes gegangen, und durch die Versicherung heißer Gegenliebe überreich erwidert worden war, machte die Baronesse ihrem Vater hievon Mitteilung. Er war im höchsten Grade über ihre Wahl aufgebracht, stieß aber auf so beharrlichen Willen seitens seines einzigen Kindes, daß ihm nichts erübrigte, als nachzugeben.

So aufrichtig glühend als übrigens die Begeisterung des Bräutigams für seine Erwählte war, war die Zuneigung Fridas für Joseph nicht. Sie hatte allerdings großes Wohlgefallen an dem schönen Manne gefunden, sie hatte sich am liebsten mit ihm unterhalten, weil alles, was er sagte, geistreich und anziehend war, sie hatte gesehen, wie seine Bevorzugung den Ärger der jungen Männerwelt erweckte und wie ihre Freundinnen nicht minder mit einer gewissen Eifersucht nach ihr und Joseph sahen! Sollte Frida, der ja alles, was sie nur immer begehrte, zu Gebot stund, nun auch hier wieder den Preis davon tragen? Sie war nicht ganz frei von einer kleinen eitlen Schadenfreude, als sie Dr. Schlicht der Versammlung als ihren lieben Bräutigam vorstellte. –

Wie oft geschieht's im Menschenleben, daß wir erst, nachdem uns das zu eigen wurde, dessen Besitz wir sehnlichst angestrebt hatten, klare Einsicht erlangen über den wirklichen Wert des gehobenen Schatzes.

So erging es auch Joseph. Nachdem die Flitterwochen, die seiner Hochzeit mit Elfrida folgten, vorübergerauscht waren, bezogen die Jungvermählten das Haus, das Papa Felden seiner lieben Tochter geschenkt hatte.

Dasselbe war in all' seinen Räumen mit wahrhaft erfinderischem Luxus eingerichtet, und die kostbaren Spiegel in den Wänden des Empfangssaales eingelassen von der Decke desselben bis zum Boden herabreichend, waren oft schon Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, wenn immer eine auserlesene Gesellschaft hier in dem gastfreundlichen Hause zu kommen pflegte.

Und das geschah häufig genug. Die junge Frau Doktor liebte fröhliche Gesichter, schöne Toiletten, Kerzenschimmer und Tanzmusik über alles. Viel, viel mehr, als dies bei ihrem ungleich ernsterem Gatten der Fall war.

Joseph hatte sich an der Seite Fridas eine stille liebe Häuslichkeit geträumt, ein Zusammenleben gleichgesinnter Seelen, wo man sich über gemeinsame Interessen unterhält, wo eines das andere zu veredeln und zu belehren sucht, wo Dritte und Fremde überhaupt völlig überflüssig scheinen zum glücklichen treuinnigen Verkehre. Er hoffte, diesen und jenen Fehler seines jungen Weibes mit Geduld und Liebe zu bessern, sie war ja eigentlich trotz aller Professoren und Erzieherinnen nicht erzogen worden und er hielt sie für wohl bildungsfähig in jeder Hinsicht. Leider fand er sich hierin bitter getäuscht. Sie verlangte nicht nach ernster Unterhaltung, sie scheute jede auch die geringste Mühe der Pflicht und Selbstverleugnung, sie begehrte nur Genuß und Freude.

Daß ihr Gatte sich schon in jungen Jahren eines so bedeutenden Rufes erfreute, daß er als Operateur bereits eine Berühmtheit erlangt hatte, schmeichelte ihrer Eitelkeit nicht wenig, sie fühlte sich ihm jedoch keineswegs dankbar hiefür. Hatte sie doch um dieses Ruhmes willen, ihre siebenzackige Krone hingegeben, und sich mit seinem bürgerlichen Namen begnügt. War das nicht schon des Opfers genug? Was wollte er noch mehr? Mit Josephs Familie wünschte sie schon vom Anfange ihrer Verlobung keinerlei Annäherung.

»Du kannst nicht verlangen, mein Bester,« sagte sie herablassend, »daß ich mit Deinen Angehörigen irgendwie in Verkehr trete. Ich und sie sind auf zweierlei Boden aufgewachsen haben ganz verschiedene Erziehung genossen und daher auch verschiedene Lebensanschauungen. Es ist also besser, wir bleiben einander fremd und ferne. Die einfachen Leute müßten ja doch nur in Verlegenheit geraten, wenn sie sich in einen Vergleich mit mir einlassen wollten, und es bleibt ihnen besser solche Beschämung erspart.« –

Joseph hatte auf solche hochmütige Bemerkung kein Wort der Entgegnung; er war nur sehr bleich geworden, und hatte die Lippen fest zusammengebissen, um sich keine Äußerung des Unwillens entschlüpfen zu lassen, aber in dieser Stunde hatte sich ihm zum erstenmale eine eisige Hand auf seine junge, glühende Liebe gelegt. Er hatte einen Blick in das Innere seiner Braut getan, der ihn fast mit Schrecken für sein künftiges Eheleben erfüllte.

Und doch, war er selbst noch so sehr von Eitelkeit und Hoffart umgarnt, daß er bis zu einer gewissen Grenze der jungen Baronesse recht gab, ja daß er sich sogar im Stillen Glück wünschte, daß sie die Möglichkeit einer Annäherung von vornehinein abgeschnitten hatte.

Unter den gegebenen Verhältnissen war es besser, Frida sah seine Eltern und Geschwister gar nicht, als daß er vielleicht über diese hätte erröten oder eine spöttische Bemerkung hören müssen, über ihre mangelnde Bildung.

O Joseph, Joseph! Wohin haben Welt und Selbstsucht dich gebracht!

Denkst du denn nicht, wie die Liebe einer guten Mutter, und wäre sie auch die ärmste Frau aus dem Volke, so mächtig, so gewaltig ist, und dabei so demütig, daß sie jede auch die größte Tiefe zu überbrücken, und mit feinfühligem Takte, den keine Schulweisheit, wohl aber ganz allein das Herz lehrt, in alle Verhältnisse sich zu fügen weiß!

So kam es, daß man sich lediglich mit einer kurzen schriftlichen Verlobungsanzeige an die Eltern begnügte, und nur Bruder Benno um Besorgung der zur Heirat nötigen Papiere ersuchte.

Vorerst konnte und wollte Joseph nicht mehr von Frida verlangen; aber im Stillen hoffte er, die Zeit würde vielleicht ihre schroffen Vorurteile mildern, und seine liebe Gattin geneigt machen die Seinen irgendwie anzuerkennen.

Als Frida aber bereits zweimal Mutter geworden war, und sich in ihren Gesinnungen nicht die mindeste Änderung zum Guten wahrnehmen ließ, verschloß der tief gekränkte Gatte diesen Schmerz in seine Brust, und sprach kein weiteres Wort mehr darüber. Aber um das innige, warme Verständnis zwischen beiden Ehegatten war's geschehen, in gleichgültiger Ruhe lebten beide neben einander hin, Joseph voll Aufmerksamkeit gegen seine schöne Gemahlin, sie hinwiederum in seinem Ruhm, sowie in jeder neuen Ehrung und Auszeichnung, die ihm zu teil wurde, geschmeichelt.

Frida fand nach wie vor ihr eigentliches Lebenselement in der Gesellschaft, so brachte Joseph ihr denn gern das Opfer und begleitete sie, wohin sie verlangte, obschon er seine Abende ungleich glücklicher im eigenen Hause oder noch mehr in Gesellschaft seiner beiden lieben Kinder verlebt hätte.

Heute sollte er sie wieder auf einen Ball begleiten, den der englische Gesandte in seinem Palais gab und wozu auch Dr. Schlicht, als Hausarzt des Gesandten mit seiner Gemahlin geladen worden war.

Elfrida hatte die Gewohnheit, wenn sie abends das Haus verließ, ihre beiden kleinen Mädchen im Kinderzimmer aufzusuchen, und ihnen »gute Nacht« zu bieten. Mit diesem Besuche, den sie auch jeden Morgen und Mittag für wenige Minuten abstattete, glaubte die oberflächliche Frau ihrer Mutterpflicht zu genügen.

Das Kinderzimmer war einer der größten und luftigsten Räume des ganzen Hauses. Tapeten und Möbel waren mit ebenso viel Geschmack als Harmonie ausgesucht, in einer Ecke stand eine Gruppe prächtiger Blattpflanzen, in deren Mitte man eine reizende Statue des Glückes, auf einer Kugel schwebend, das Blumen-Füllhorn in den Händen, aufgestellt hatte; zu Füßen der Statue schwammen im krystallenen Glasbehälter glänzende Goldfische zwischen Muscheln und Felsen. Die vom Plafond niederhängende mit rotem Glas gedeckte Lampe warf ihren rosigen Schimmer auf die nächsten Gegenstände und beleuchtete auch das zarte Gesichtchen eines reizenden, kaum drei Jahre alten Mädchens. Die Kleine saß auf dem Schoße ihrer Wärterin und lehnte das Lockenköpfchen müde gegen ihre Brust. »Lilli, mein Herzchen,« sagte die freundliche Kinderfrau, »wir gehen jetzt schlafen, dann bist du morgen wieder frisch und munter. Komm, lege die Händchen hübsch zusammen und bete noch dein Nachtgebet.« Das Kind tat, wie ihm befohlen ward. Seine nur um zwei Jahre ältere Schwester hatte sich bisher emsig mit ihrer Puppe beschäftigt und sich bemüht, sie in Schlaf zu singen. Jetzt schlug sie die grünen Seidenvorhänge eines kleinen Wiegenkorbes zurück, legte die Puppe auf die mit Spitzen besetzten Kopfkissen und deckte sie mit einem leichten Federndeckchen zu. Ach, manche arme Mutter wäre überglücklich gewesen, hätte ihr Kindlein solch' ein Bett, und Ausstattung an Wäsche besessen, wie Ellas schöne Puppe.

Nun aber stellte sich auch Ella mit ernstem Gesichte neben die Wärterin, bereit, ihr Nachtgebet zu sprechen.

»Lieber Gott,« betete Fräulein Rosa vor, »habe Dank für alles Gute, was Du uns heute wieder –«

»Ermüden Sie doch die Kleinen nicht mit diesem sinnlosen Geplapper!« unterbrach plötzlich eine weibliche Stimme die beginnende Andacht. Die Mutter der beiden Kinder war unvermerkt eingetreten, ihren Nachtbesuch bei den kleinen Mädchen zu machen. Sie trug ein Kleid von korinthrotem Samt mit langer Schleppe und einen Zweig Klematis durch die schwarzen Haare geschlungen; da und dort waren einzelne Diamanten als Tautropfen in den Blumenkelchen angebracht. Eine glitzernde Schließe, aus denselben Edelsteinen, schloß die vierfache Perlenschnur ab, die um den blendend weißen Hals lag, und den einzigen Schmuck bildete, den die Dame heute trug.

Über dem Arme hing eine Boa von kostbarem Pelz. Die Dame war in dieser überaus geschmackvollen Toilette, die von eben so viel Reichtum, als Geschmack zeugte, eine durchaus vornehme Erscheinung. Allenthalben wurde die junge Frau bewundert und Dr. Schlicht um ihren Besitz beneidet.

»Kinder verstehen noch nicht, was sie beten, also hat ihr Gebet auch keinen Wert, meine Liebe, lassen Sie sich das gesagt sein.« Noch ehe jedoch die Getadelte ein Wort der Entschuldigung zu stammeln vermochte, hatte Ella das samtene Kleid bewundernd gestreichelt, und dabei ausgerufen: »Oh Mama, wie schön Du bist![ Gib mir doch einen Kuß, liebe Mama!« Flüchtig berührten Frau Fridas Lippen die Stirne ihres Töchterchens. »Tritt mir nicht zu nahe, Elli,« warnte sie, als das Kind versuchte, seine Arme um sie zu schlingen, »ich will nicht verknittert in die Gesellschaft kommen.«

»Was tust Du denn dort, Mama?« frug das Kind neugierig.

»Ich tanze und plaudere und unterhalte mich.« »Darf ich auch mit Dir gehen, liebe Mama, wenn ich einmal groß bin?«

»Freilich, mein Engel.«

»Und bekomme ich dann auch solch ein schönes Kleid, wie Du heute eines trägst?«

»Natürlich, so schön Du es nur immer willst.«

»Und auch Perlen und Edelsteine und eine Kette um den Hals und schöne Ringe an den Fingern?«

Dabei spreizte die kleine Eitelkeit jetzt schon ihre rosigen Fingerchen aus, als sähe sie im Geiste Edelsteine daran funkeln. Ihr Schwesterchen flehte indes mit weinerlicher Stimme: »Lilli will keine Edelsteine, Lilli möchte ihren Papa haben!«

»Was hat das Kind?« frug die junge Frau, von den Tränen der sonst so fröhlichen Lilli betroffen, fehlt ihm etwas? »Die Kleine scheint unwohl, sie fiebert ein wenig, und ihr Kopf ist heiß,« versetzte die Wärterin.

»Es wird nicht viel bedeuten, bringen Sie sie bald zur Ruhe, Rosa, damit sich mein Mann nicht ängstigt, wenn er nach ihr sieht; er wäre wahrhaftig im Stande, anstatt mich zur Gesellschaft zu begleiten, die ganze Nacht hier zu sitzen und über Lillis Schlaf zu wachen.«

Ella hatte inzwischen mit dem Nachahmungstriebe der Kinder ihre Puppe aus der Wiege genommen und hielt sie ihrer Mutter hin.

»Sieh nur, Mama, Gretchen hat auch einen heißen Kopf, sie fiebert.« – Die Dame aber, ohne die kleine Plauderin zu beachten, wendete sich zum Gehen. Die Wärterin rief sie nochmals zurück: »Verzeihung, gnädige Frau, es wäre aber gewiß gut, wenn der Herr Doktor noch nach Lilli schauen wollte, ich bin recht ernstlich um sie in Sorge.«

»Rosa, meine Liebe, Sie sind ein Hasenherz,« erwiderte die Dame lächelnd, »was soll denn mit dem Kinde sein? Hast Du Schmerzen, mein Schäfchen?« frug sie die Kleine. Das Kind senkte das Köpfchen noch tiefer auf Rosas Schulter und schien jede weitere Frage abwehren zu wollen. Ella wiegte indes ihr Puppenkindlein, sachte hin und her und sprach mit wichtiger Miene: »Ich bleibe schon bei Dir, mein Liebling, ich bin keine böse Mama, ich gehe nicht auf den Ball, ich bleibe schon bei meinem kranken Gretchen zu Hause.«

Eine Blutwelle stieg heiß in die bleichen Wangen der jungen Frau, die sich von den unschuldigen Lippen ihrer Tochter an ihre mütterliche Pflicht ermahnt hörte; aber schon im nächsten Augenblicke war das vergessen und die stolze Schönheit zum Kinderzimmer hinausgerauscht.

Rosa war sichtlich verstimmt zurückgeblieben. Sie würdigte das traurige Verhältnis zwischen Kindern und Mutter nur allzuwohl und suchte mit zehnfacher Liebe diesen armen, reichen Kindern zu ersetzen, was sie entbehren mußten, das Mutterherz nämlich, und einer Mutter sorgsame Liebe. War's zu verwundern, daß auch die beiden kleinen Mädchen weit zärtlicher an ihrer Pflegerin, als an der eignen Mutter hingen, die sie kaum dreimal des Tages und dann nur auf kurze Zeit zu sehen bekamen.

Mit Dr. Schlicht war das ganz anders. Die beiden kleinen Mädchen waren seine teuersten Kleinode, und geduldig trug er die Launen seines hochfahrenden Weibes, weil sie die Mutter dieser liebenswürdigen Geschöpfe, die Mutter seiner Kinder war. Er schenkte den Kleinen jede freie Minute seiner viel beanspruchten Zeit, und hätte um ihr süßes Plaudern gern alle Gesellschaftsfreuden hingegeben.

Sie boten auch in ihren verschiedenen Charakteren einen immer neuen Reiz für die Beobachtungen des zärtlichen Vaters.

Elisabeth oder Ella, wie man sie nannte, sprudelte über von Lebendigkeit und Mutwillen; immer hatte das Hexchen eine Schelmerei im Kopfe; ihre Schwester Lilli dagegen war sanft und sinnig. Obschon erst drei Jahre alt, verriet sie doch bereits ein warmes, tiefes Gemüt, und eine große Vorliebe für ihren Vater, der sie geradezu vergötterte.

Im Umgange mit seinen Kindern erheiterte sich seine ernste Stirne, und der bittere Zug um seinen Mund, den viele an dem vom Glücke verwöhnten Manne ganz unbegreiflich finden wollten, verschwand bei ihrem Kusse. Oft, wenn er Ella und Lilli auf den Knieen hielt, träumte er sich zurück in seine glückliche Kindheit. Er erzählte dann den Kindern von einem kleinen, fröhlichen Jungen, der noch viele Brüderchen und Schwesterchen hatte und (ach!) eine so liebe, gute Mutter, und wie sie alle so hübsch zusammengespielt hätten in einem Garten, mit Kastanien und Holunderbäumen bepflanzt. Die kleinen Mädchen horchten überaus begierig auf, und einmal frug ihn Ella: »War Deine Mama auch so schön wie die unsrige, lieber Papa?« Darauf gab er bewegt zurück: »Oh so schön, meine süße Ella, und noch viel, viel gütiger als schön!« Dabei zitterte seine Stimme und die Augen wurden feucht.

Lilli wollte alle Namen der lustigen Kinder wissen und er nannte sie und vergaß keinen Einzigen.

Eines Tages zeigte ihm Ella ihre neue Puppe. »Weißt Du, wie sie heißt, Papa?« frug sie mit wichtigem Ernste.

»Nein, mein Herzkind, wie soll ichs wissen?« »Ich habe sie Gretchen genannt, wie das lustige kleine Mädchen, von dem Du immer erzählst.« Dafür küßte Papa die süße Plauderin und lobte ihren guten Einfall.

Zuweilen stieg in seines Herzens Tiefe der sehnsüchtige Wunsch auf, seine zwei Lieblinge seiner guten Mutter zu zeigen. »Wie würde sie sich an ihnen freuen!« dachte er, »und wie würde sie sie lieben!« Ein eifersüchtiger Schmerz erfüllte ihn bei dem Gedanken, daß seine Geschwister wohl auch längst schon verheiratet und ihre Kinder die Freude der Großmutter sein würden. Nur seine lieben Engel hier müssen ferne bleiben! – Aber sie wußte ja gar nichts von ihrem Dasein; er hatte ihr kein Einzigesmal geschrieben. Wozu auch alte Wunden aufreißen?

Heute hatte Dr. Schlicht nicht einmal mehr Zeit gefunden, seinen kleinen Mädchen den Nachtkuß zu geben! Er war erst im letzten Momente vom Spital nach Hause gekommen und fand Frieda schon im vollen Staate, ungeduldig seiner wartend. So warf er sich denn rasch in seine Gesellschaftskleider und beruhigte sich damit, daß die Kinder wohl seien und bereits schliefen. Hätte er geahnt, daß Lilli nach ihrem Papa verlangte, er wäre um jeden Preis für einen Augenblick in das Kinderzimmer gekommen. So aber schritt man zum bereitstehenden Wagen und fuhr vor das Palais des Gesandten. Inmitten des glänzenden Ballfestes drängte sich ein Livreediener zu Dr. Schlicht heran und überreichte ihm ein Billet, auf dem mit zitternder Hand geschrieben stand: »Lilli scheint sehr krank, – bitte sogleich kommen, (Rosa).« – Er erbleichte bei dieser kurzen Nachricht. Eilends suchte er seine Gattin auf.

»Lilli ist schwer krank, Frida, komme mit mir nach Hause!«

Die schöne Frau, die eben am Arme eines jungen Diplomaten auf und ab promenierte und sich mit dem Fächer die vom Tanzen erhitzten Wangen kühlte, zuckte bei seiner Mitteilung ärgerlich die Achseln: »Rosa ist eine ängstliche Närrin,« sagte sie, »wie lächerlich von ihr, unser Vergnügen zu stören!«

»Mir scheint die Sache doch bedenklich, liebe Frida, komm mit mir.«

»Ich kann jetzt nicht, Sr. Durchlaucht, Fürst N. tanzt die nächste Tour mit mir, er hat sie so dringend erbeten; ich komme Dir nach, schicke mir in einer Stunde den Wagen.«

Dann wandte sie sich lächelnd wieder ihrem Tänzer zu. »Mein guter Mann! Bei allen Gefahren so ruhig und besonnen, kann bei dem eigenen Kinde so völlig außer Fassung geraten,« sagte sie, ihr eigenes unnatürliches Verhalten beschönigend. Joseph eilte indes nach seinem Wagen. »Herzloses Weib!« zischte er zwischen den Zähnen, als er sich allein in die Kissen warf, und den Pferden Flügel wünschte, um mit größter Schnelligkeit nach Hause zu kommen. Endlich hielt man an. Mit einem einzigen Sprunge war der Doktor aus dem Wagen, die Treppe hinaufgeeilt, und stund jetzt vor dem Kinderzimmer. Sein Herz schlug heftig gegen die Rippen und er mußte gewaltsam an sich halten, um gefaßt eintreten zu können. Sein erster Blick fiel auf das geliebte Kind, sein nächster, es war der Blick des Arztes, galt der kleinen Patientin. Lilli lag bleich und regungslos in den Armen ihrer treuen Rosa, die zärtlich über sie gebeugt jede mögliche Erleichterung zu gewähren suchte, während Träne auf Träne über ihr kummervolles, gutmütiges Angesicht träufelte.

»Seit wann ist sie so?« frug der besorgte Mann leise.

»Schon bald nach Ihrem Fortgehen, gnädiger Herr,« berichtete die Wärterin, »wurde Lilli unruhig, sie verlangte herumgetragen zu werden und klagte über Hitze und Kopfweh. Ich tat, was ich konnte, und es gelang mir nochmals, sie zu beruhigen. Vor einer Stunde aber kam der schreckliche Anfall; ich glaube, sie sterben zu sehen, es war fürchterlich, ich wagte nicht, sie nur einen Moment aus den Armen zu lassen, und so schickte ich nach Ihnen – o mein Gott! was habe ich Todesangst gelitten um das arme süße Kind!

Dr. Schlicht verordnete nun mit der ihm eigenen Klarheit alles, – was nur irgend Erleichterung oder Hilfe schaffen konnte, aber der Todesengel hatte die holde Kindesblüte bereits geküßt. Ein zweiter, noch heftigerer Anfall knickte das zarte Leben; röchelnd sank Lilli in die Arme des trostlosen Vaters, das brechende Auge groß und fragend auf Rosa gerichtet, die nach bestem Können Hilfe und Beistand zu leisten sich bemühte. In diesem Augenblicke ward die Türe aufgerissen und keuchend, mit glühenden Wangen, an allen Gliedern bebend, stürzte Frau Frida an das Sterbebett Lillis. Ihr Mann hatte sie nach Hause befohlen, und nun schien sie außer sich vor Schrecken. »Was ist da vorgegangen? Hat man etwas versäumt? Wie war's möglich sonst, daß Lilli, die ich –«

»Stille, stille«, fiel der Gatte ihr ins Wort, »wie wagst Du es, unvernünftigen Vorwurf zu erheben, während Du selbst Deinem leidenden Kinde ferne bleibst und Deinem Vergnügen nachgehst? Rosa hat Deine Stelle vertreten, hat unserem stillen Engel hier mütterliche Liebe und Sorgfalt gewidmet, – Gott wird es ihr lohnen! Der tückischen Krankheit aber, die auch unsere süße Blume niedermähte, steht alle menschliche Kunst machtlos gegenüber.«

Früher oder später macht die Natur in jeder Menschenseele ihre Rechte geltend. So auch bei Frida, dem verwöhnten Lieblinge der Gesellschaft. In ihrer Eitelkeit und Genußsucht hatte sie ihre Kinder bisher lediglich als Spielzeug betrachtet, sich aber niemals ernstlich um sie bekümmert. Nun brach sie unter dem Schlage, der sie so unerwartet getroffen, völlig zusammen. Vor der kleinen Leiche auf die Knie hingeworfen, raufte sie sich die Haare, warf Blumen und Schmuck fort und bat Lilli mit den zärtlichsten Namen, sich nur einmal noch zu regen, nur einmal noch nach ihrer armen Mutter zu schauen, und nicht von ihr zu gehen; – dann wieder stürzte sie über die bereits erkaltende Hülle im namenlos bitteren, tränenlosen Schmerze.

Ihr Gatte litt nicht minder schwer unter dem Schicksalsschlage, der sein Herz betroffen. Er hätte seinen Reichtum, seine Ehre, seine Stellung, – alles, alles hingegeben, hätte er damit sein heißgeliebtes Töchterchen ins Leben zurückzurufen vermocht! Aber hier sah er seine Macht am Ende – hier war das Glück, das ihm bisher so fest zur Seite stand, treulos gewesen, und zum erstenmal fühlte er, daß eine Grenze gezogen sei zwischen Welt und Ewigkeit, die keiner aufzuheben, keiner ungestraft zu mißachten vermag. Mehr als alles quälte ihn die Furcht, seine Lilli sei ihm jetzt für immer verloren, und er werde sie nie, nie wieder sehen! Nie wieder! O schrecklich! Entsetzlich! Ach, daß er noch hätte glauben können, wie dereinst am Herzen seiner Mutter!

Seine Gattin wurde bewußtlos auf ihr Zimmer getragen. Als sie endlich wieder zu sich kam, machte sie sich Vorwürfe, daß sie auf den Ball gegangen sei, klagte Rosa, ihren Gatten, ja am liebsten Gott selber an, als trügen sie die Schuld an ihrem furchtbaren Mutterschmerze. Im Sterbezimmer aber hatte sich plötzlich eine zarte Stimme vernehmen lassen: »Lieber Papa, laß mich doch zu meiner Lilli! Ich bitte Dich, ich mag nicht ohne Lilli spielen!« Ella war's, die schluchzend in ihrem Bettchen saß. Gleich anfangs hatte eine Dienerin sie wegbringen wollen, war jedoch auf so heftigen Widerstand gestoßen, daß man dem trostlosen kleinen Mädchen vorläufig den Willen ließ. Nun hatte aber in der Überstürzung der letzten Stunden niemand mehr an die weiteren Folgen und die Gefahr, der das Kind ausgesetzt wurde, gedacht, und so war es Zeugin des ganzen schrecklichen Dramas geworden, das sich vor ihren Augen abspielte. Der Schrecken schüttelte Ellas zarte Gestalt, Furcht und Grauen schienen sie ganz zu beherrschen, die Verzweiflung des Vaters, die Ohnmacht der Mutter, Rosas Tränen, das Entsetzen auf allen Gesichtern machten einen tiefen Eindruck auf die zartbesaitete Kindesseele, und bald sah sich Dr. Schlicht genötigt, von Lillis Leiche weg, das Krankenlager seiner Erstgeborenen aufzusuchen, die in ein schweres Gehirnfieber gefallen war.

Tag und Nacht wich er jetzt nicht von dem leidenden Kinde, und in unermüdeter Sorgfalt teilte Rosa all die schrecklichen Stunden – aber es schien, als ob das Glück des reichen Mannes seinen Höhepunkt erreicht hätte; lange hatte er seinem Schicksale übermütig getrotzt, hatte seines Gottes vergessen, seine Hilfe verschmäht, und sollte nun empfinden, daß der Mensch mit all seinem Wissen doch nur ein armer, ohnmächtiger Wurm ist, den ein einziger Hauch des Herrn vernichten kann. Nach weiteren acht Tagen stand Joseph Schlicht am Sarge seines zweiten Kindes, und sein Schmerz grenzte an Verzweiflung. Er raste wider Gott, nannte ihn grausam und ungerecht, weil er gewagt hatte, sein Liebstes zu sich zu nehmen. Der Gedanke aber, daß seine Kinder Gottes Eigentum wären, war ihm nicht nahegetreten.

Seine Frau, das verhätschelte Schoßkind des Reichtums, lag noch schwer krank darnieder, sie wäre die letzte imstande gewesen, ihren Gatten zu trösten, denn sie bedurfte selbst einer Stütze, um nicht völlig unterzugehen. – Bald nach Ellas Tode hatte die treue Rosa das Haus verlassen, Frau Frida konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen. – Die ehedem so geselligen Räume schienen jetzt wie ausgestorben, die Tafelfreunde blieben ferne, denn die Weltmenschen hören nicht gerne klagen und scheuen Krankheit und Tränen.

Inmitten dieser Verlassenheit begann Joseph allgemach über sich und sein bisheriges Leben nachzudenken. Vielleicht beteten seine beiden Engelchen am Throne Gottes für die teure Seele ihres Vaters, vielleicht auch begann die Saat der Muttertränen zu reifen – genug, er dachte und erwog, er erkannte und mit der Erkenntnis kam die Reue, mit dieser der Entschluß, zurückzukehren. Die Gnade war noch nicht ganz von ihm gewichen – sie lag nur still verborgen in ihm, unbeachtet, ungerufen, viele Jahre lang – jetzt aber trat sie ihm und seinem schmerzgefolterten Herzen nahe. Er sehnte sich, wieder einmal zu beten, – er sehnte sich nach Trost und Frieden! Und einmal, als er am Krankenbette seiner Gattin wachte, schrieb er der geliebten fernen Mutter einen langen, langen Brief. Er enthielt die ganze Geschichte seines Lebens, und schon graute der Tag, als er das Schriftstück beendigte.

»Mutter, hilf Deinem armen Sohne, hilf mit Deinem Rate, mit Deinem Gebete!« So schloß Joseph sein Schreiben, und die leidensmatte Seele fühlte sich getröstet und erquickt. Gleich dem milden Frühlingsregen auf die schmachtende Natur, so senkte neue Hoffnung in sein Inneres sich nieder, und begann die Wunde zu heilen, und das Vertrauen in die Allmacht der Mutterliebe zu wecken.


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