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Muttertränen – Kindessegen


1. Unter dem Holunderbaum

Es war Sonntag Nachmittag. Draußen in der Vorstadt saß in dem Gärtchen hinter dem Hause der Schreinermeister Schlicht mit Frau und Mutter. Auch eine liebe befreundete Nachbarin, Frau Kluge hatte sich der kleinen Versammlung zugesellt. Die Meisterin hielt ihr jüngstes Mädchen auf dem Schoße und reichte ihm lachend eine Schwarzbrotrinde, die der hübsche Flachskopf mit sichtlichem Behagen kaute. Ein etwa dreijähriges Bürschlein spielte zu Füßen der Mutter mit einem hölzernen Wagen, und mühte sich, ihn mit den am Wege liegenden Kieselsteinen zu beladen. Der Vater hatte diesen Wagen eigenhändig geschnitzt und ihn nicht nur in Anbetracht der kindlichen Zerstörungsfertigkeit durchaus solid gebaut, sondern auch noch ziegelrot und blau bemalt, so daß wenigstens Fritzchen meinte, es gäbe sicher kein schöneres Fuhrwerk mehr auf der ganzen weiten Welt. Der kleine Fuhrmann hing übrigens noch sehr gerne am Schurzband der Mutter und spielte deshalb weit lieber allein in ihrer Nähe, als mit den Geschwistern, die sich unfern von den Eltern lustig mitsammen unterhielten.

Eigentlich verdiente der mit nur einigen Kastanienbäumen bepflanzte Hof den vornehmen Namen eines Gartens nicht, aber er war doch das Paradies der Kinder, die dort zu allen Zeiten des Jahres ihren Spielplatz hatten.

Längs der Mauer hin zog sich ein Beet, auf dem Frau Schlicht ihren nicht unbedeutenden Bedarf an Küchenkräutern, Rettigen und Salat pflanzte. Etliche Spaliere von Bohnenranken bildeten eine anmutige, zartgrüne Rückwand und Geisblatt und Springe blühten und dufteten um das aus einfachen Holzlatten zusammengefügte Sommerhaus, das bei großer Hitze Kühlung und Schatten bot.

Im Hofraum stand aber noch ein alter Holunderbaum. Er war die Freude der ganzen Familie und beschattete schon Groß- und Urgroßeltern mit seinen Ästen. Seine Blüten, in Schmalz gebacken, bildeten an jedem wiederkehrenden Johannisfeste die Freude der Kinder. Oft auch hob die sorgliche Mutter eine leichte Erkältung durch rasch verabreichten Fliedertee und erzählte dem kleinen Patienten, der sich weigern wollte, ihn zu trinken, vom Fliedermütterchen im silbergestickten Kleide und der Haube aus Schmetterlingsflügeln, das im Holunderbaum wohnt und in hellen Mondnächten in seinem von zwei Hirschkäfern gezogenen Wagen durch die Luft fährt, die kranken Kinder zu besuchen. Wenn sie schön artig sind und den Blütentee trinken, schenkt ihnen Fliedermütterchen einen schönen Traum und andern Morgens sind sie wieder frisch und gesund. Die kleinen Trotzköpfchen warten dann auf den verheißenen Traum, auf die Elfen und Zwerglein, sie schlürfen den Heiltrank gutwillig hinab und liegen bald mit feuchten Haaren im wohltätigen Schweiße, der alles Ungesunde aus dem kleinen Körper entfernt.

Und wie gut schmeckte im Herbste der Hollerbrei, dieser Schrecken der reinlichen Mutter, die ihre helle Plage hatte mit all den schwarzgefärbten Mäulchen und Händen, und den beschmierten Schürzen – der Hollerbrei, die Wonne der Kinder! – Zum Lieblinge der ganzen Familie war der altersgraue Fliederbaum geworden. Vater Schlicht hatte ihn mit festen Sitzen umgeben, einen Tisch davor gezimmert und hier labte man sich nach der Arbeit des Tages am erfrischenden Trunke, hier auch verplauderte man die Feierstunden der Sonntagsnachmittage und tauschte aus, was die rege Beschäftigung im Laufe der Woche nicht zum ruhigen Beraten hatte kommen lassen.

Auch heute wieder war man nach der Kirche, wo nach guter alter Sitte die Eltern mit den größeren Kindern der Vesper beigewohnt hatten, hierhergegangen, um frische Luft zu atmen und die Sonntagsruhe zu genießen.

Meister Schlicht hatte einen Krug vor sich stehen, dem er zuweilen zusprach, die Frauen taten sich an frischer Milch gütlich. Jetzt nahm Frau Kluge das Wort: »Ja, ja, Herr Nachbar, ich hab's schon immer gesagt, der Sepperl muß auf den geistlichen Herrn studieren, es wär' schad, wenn der an der Hobelbank verkümmern müßte.«

»Verkümmern, liebe Nachbarin?« erwiderte Schlicht und zog die Falten auf seiner Stirn etwas unwirsch zusammen, »was meinen Sie damit? Mein Großvater und Vater sind wohlhabende ehrliche Bürgersleute gewesen und auch ich bin freudig in ihre Fußstapfen getreten. Das Handwerk hat einen goldenen Boden, und ich möchte nicht, daß der Bursche sich etwas besseres dünkte, als seine Geschwister.«

»Er ist es aber,« rief Frau Kluge lebhaft, »er ist es wirklich. Seh'n Sie nur, wie er sich von den andern abscheidet, als ob er nochmal ein leibhaftiger Prinz wäre. Allen Respekt vor Euch und Euren netten Kindern, aber der Sepperl steht unter ihnen drin, wie eine junge Zeder unter den Fichtenbäumen! er ist immer der erste in der Schule, der Liebling seiner Lehrer, und man darf ihn nur beobachten, um sich klar zu werden, daß er nicht als ein einfacher Schreinermeister sein Leben fristen soll.«

Frau Kluge hatte, was man so sagt, einen Narren gefressen an dem ältesten Buben des Schlichtschen Ehepaares. Sie hatte seinen Vater schon als jungen Mann gekannt, als er durch den Tod des alten Meisters Schlicht aus der Fremde heimberufen, das kleine Anwesen samt dem Geschäfte übernahm, und mit seiner braven Mutter zusammenlebte, die ihm das Hauswesen besorgte. Als er zwei Jahre später die tugendsame Jungfrau Notburga zum Altare und als sein liebes Weib in sein Haus führte, saß Frau Kluge strahlenden Angesichtes unter den Hochzeitsgästen, denn sie tat sich nicht wenig darauf zu gute, daß sie es an empfehlenden Worten und Lobsprüchen über die häuslichen Tugenden Notburgas, deren Mutter ihre Jugendfreundin gewesen war, nicht hatte fehlen lassen. Als endlich nach einem weiteren Jahre Notburga ihrem Manne ein kräftiges Mägdlein schenkte, bot sich Frau Kluge großmütig an, an diesem und allen noch weiteren Kindern Patenstelle zu vertreten.

Dafür ward man ihr sehr verpflichtet. Ihre Freundschaft hatte stichhaltige Proben bestanden, und so durfte sie sich schon dann und wann im Familienrat ein Wörtlein mitzureden erlauben. Heute aber fand ihre Rede nicht unbedingte Zustimmung. Die Großmutter Schlicht, die von Kindern und Kindeskindern hochgeschätzt und geachtet, im Hause lebte, und trotz ihrer vorgerückten Jahre von früh bis spät unermüdet tätig war, hatte wie ihr Sohn zum Vorschläge der Gevatterin den Kopf geschüttelt.

»Sie mögen wohl recht haben, liebe Kluge,« hatte sie gesagt, »daß unser Sepperl ein Gnadenkind ist; er ist viel kränklich und deshalb mühsamer aufzuziehen gewesen, als alle übrigen, er hat recht schöne Talente und lernt leicht; seinen hellen Kopf kann er aber auch in der Werkstätte brauchen und mein Sohn soll an seinem Ältesten die Stütze finden, die er erhofft.«

»Benno zeichnet aber jetzt schon ganz brav, der wird sicherlich auch einmal ein tüchtiger Schreiner werden,« wendete Mutter Notburga mit sanfter Stimme ein.

»Nun gut, dann gibt's zwei brave Meister,« versetzte Herr Schlicht, und schaute dabei ernst nach seiner Frau, die sich errötend über Lenchen beugte, das auf ihren Armen friedlich eingeschlafen war. Er wußte es seit langem schon, Joseph war ihr Liebling; so sehr sie sich Mühe gab, allen Kindern gerecht zu sein, so trat doch überall und immer diese Vorliebe für ihn zu tage, und im Geheimen begegneten ihre sehnlichsten Wünsche denen ihrer Nachbarin Kluge.

Sie hatte jedoch den Blick ihres Mannes als stummen Vorwurf genommen und wagte nichts weiteres mehr einzuwenden.

Eine kleine Weile schien der Faden der Unterhaltung abgebrochen; man pflegt dann zu sagen, es wandle ein Engel mitten durch die Gesellschaft. Jedes hing seinen Gedanken nach und keines wollte zuerst wieder beginnen.

Da wurde plötzlich der Lärm fröhlicher Stimmen vernehmbar. Vier hübsche, hellblonde Kinder kamen zum Hollerbaum gestürmt, die Röte der Gesundheit auf den Wangen, und ihnen voran ein Knabe von etwa 10 Jahren, der in seiner ganzen Erscheinung merkwürdig von den Übrigen abstach. Während sein, nur um ein Jahr jüngerer Bruder Benno rosige Grübchen im Kinn und Wangen trug und in seiner kurzen gedrungenen Figur eine gewisse Behäbigkeit verriet, war Joseph oder Sepperl, wie man ihn zu Hause nannte, weit über sein Alter schlank gewachsen, sein Gesicht schmächtig, Hände und Füße klein und schmal; das dunkle Haar fiel natürlich gelockt von der Stirne zurück und die stahlblauen Augen hatten einen weichen, träumerischen Ausdruck. Geschah es jedoch zuweilen, daß der Knabe zornig wurde, so konnten diese sanften Augen gar unheimlich funkeln und das dicke Gretchen flüchtete dann in einen Winkel der Stube, weil sie sich vor Sepperl fürchtete. –

»Vater, Mutter, Großmutter, Pate Kluge« schrieen jetzt die kleinen Mäulchen durcheinander, »wir haben wunderschön gespielt, Benno hat hinter den Bohnen mit seinen Bausteinen einen Altar gebaut und Sepperl hat die Vesper gesungen. – Ich habe ministriert, bemerkte Benno, »und ich mußte meine Schürze hergeben zum Baldachin,« eiferte Grete, »dann hat Sepperl gepredigt und wir alle haben zugehört; sogar der Pums ist ruhig geblieben, und Lieschen hat ihre drei Puppenkinder mitgenommen zur Predigt.«

»Das paßt sich aber nicht,« fiel Benno in die Rede der kleinen Schwester, »Puppen gehören nicht in die Kirche.«

Der Vater klopfte dem klugen Knaben auf den Blondkopf. »Brav so, mein Bursche, da hast du ganz recht, und ein andersmal muß der Meßner die Puppen nicht zur Kirchentüre hineinlassen.«

»Wir haben ja keine Kirche gehabt und im Freien gespielt«, schwatzte Grete abermals, und der Benno hat geweint, weil –«

»Grete!« unterbrach sie Sepperl rasch und schaute ihr vorwurfsvoll ins Gesicht, indes sie dunkelrot wurde und mit den Händen die Augen bedeckte. »Ja, Vater, Benno hat geweint«, bestätigte Paul.

»Warum hat Benno geweint?« frug jetzt die Großmutter. Benno war ihr ausgesprochener Liebling, der ihr jeglichen Liebesdienst an den Augen abzusehen sich bemühte, und den der Vater deshalb scherzweise den Pagen der Großmutter hieß. Die Kinder waren viel zu gut erzogen, als daß sie bei der Frage der alten Frau geschwiegen oder gar ihre Zuflucht zu einer Lüge oder Ausrede genommen hätten, und etwas beschämt, doch aber frei und offen antwortete jetzt der älteste.

»Benno hat predigen wollen, und als er angefangen hat, ist er stecken geblieben, da haben wir ihn ausgelacht und er hat geweint –«

»Es war nicht schön von Euch, ihn auszulachen,« meinte die Großmutter, für ihren Liebling empfindlich, Sepperl aber ergriff seines Bruders Hand und sagte: »Du brauchst ja auch nicht zu predigen, Benno, du kannst ja doch nicht studieren, und bei unserer Spielerei macht's ja nichts.«

»Ja freilich,« seufzte Benno. Doch lag in den wenigen Worten, die er sprach, eine gewisse Wehmut, als müsse er einem geheimen Wunsche entsagen, der seine kindliche Seele füllte.

Über der lauten Unterhaltung war Lenchen erwacht und guckte jetzt mit ihren Schelmenäuglein ganz verständig im Kreise umher. Als sie Gretes ansichtig wurde, streckte sie die Ärmchen nach ihr aus und krähte dazu in den höchstmöglichen Tönen. Die zärtliche Schwester aber, in der sich bereits das künftige Hausmütterchen regte, liebkoste die Kleine und überließ ihr geduldig ihre blonden Locken zum Zausen. Lieschen hatte indessen ihre Puppen auf Fritzels Wagen gesetzt, und wenn die Kieselsteine eben auch keine weichen Sitzkissen für ihre Kinder abgaben, so war sie doch sehr befriedigt, überhaupt ein Fuhrwerk aufgetrieben zu haben, denn nachgerade wär's ihr schwer geworden, alle drei mit sich herum zu schleppen.

Die Sonne neigte sich zum Untergange und beleuchtete noch mit letztem Gruße das Kreuz auf der Turmspitze der nahegelegenen Kirche.

»Es wird kühl im Freien,« meinte die Mutter und befahl der Jugend nach dem Hause aufzubrechen.

Ohne Widerrede verließen die Kinder den Spielplatz im Freien, um noch in der Stube fortzusetzen, was sie draußen so vergnüglich begonnen hatten. Unter der mütterlichen Überwachung durfte Grete das kleine zappelnden Lenchen ins Haus tragen, Fritzel aber hatte sich unversehens auf Sepperls Rücken geschwungen und dieser sprengte wie ein mutwilliges Pferdchen mit seinem glücklichen Reiter noch etlichemale im Hofe umher.

Paul, mit Fritzens Peitsche in der Hand, und Benno jagten gleichfalls nebenher.

»Glückliche Kinder,« sprach die Großmutter mit dankbarem Aufblicke zum Himmel, »Gott erhalte sie uns.«

»Amen!« entgegneten Vater und Mutter zugleich.

»Wie die Borsdorferäpfel so rotwangig und schön,« meinte Frau Kluge, und dann fügte sie noch hinzu: »Aber der Allerschönste von allen ist doch der Sepperl.«


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