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6. Joseph

Wie zu Vaters und Großvaters Zeiten, saß auch heute wiederum die Familie Schlicht im Hofe hinter dem Hause. Die Kastanienbäume waren um ein bedeutendes größer geworden; der alte, krumme Holunderbaum spendete nach wie vor seine duftenden Blüten und wohlschmeckenden Beeren und versammelte Eltern und Kinder unter seinem Schatten. Er hätte viel erzählen können, der treue alte Baum, wenn er hätte reden dürfen; er hätte viel gewußt von Sonnenschein und schweren Gewitterstürmen, die da weggezogen waren über ihn und über jene, die heute unter seinen Zweigen saßen.

Aber auch ohne ihn ließ sich manches erraten. Zeit und Kummer sind zwei bedeutende Bildhauer und hier hatten sie scharf und deutlich gemeißelt an den Zügen der Schlichtschen Eheleute. Vater Schlicht trug sich zwar noch aufrecht und gerade wie ehedem, und seine blühende Gesichtsfarbe hatte keine Einbuße erlitten, aber um den Mund lag doch ein herber Zug, der früher nicht dagewesen, und Bart und Haupthaar waren vor der Zeit ergraut. Wenn Benno neben ihm stand, konnte man des Vaters Bild noch einmal in verjüngtem Maße schauen, und dann erst fiel die Veränderung gegen frühere Tage so recht eigentlich auf. Ungleich mehr als ihr Gatte hatte Frau Rotburga gealtert. Die silberweißen Haare, von der Haube teilweise bedeckt, das bleiche, leidende Gesicht mit den müden Augen, die festgeschlossenen Lippen, das alles zeugte von still getragenem Schmerze. Die etwas vorgebeugte Haltung ließ die anmutige Frau von ehedem kaum wieder erkennen, und wenn sie nicht genötigt war, ihre ganze noch übrige Kraft für die Alltagspflicht des großen Haushaltes einzusetzen, konnte sie die Hände ruhig im Schoße liegen lassen und müßig vor sich hinträumen.

Die herzigen Enkelskinder allein zwangen ihr dann und wann ein Lächeln ab und führten sie unwillkürlich wieder in die Gegenwart zurück. Bennos junge Frau war eine tüchtige Stütze für die Mutter geworden, nachdem die eigene Tochter Grete einem braven Geschäftsmann Herz und Hand geschenkt hatte und fortgezogen war aus dem Elternhause. Lieschen, zur sinnigen, sittsamen Jungfrau erblüht, widmete sich fast ausschließend der Pflege der achtzigjährigen Großmutter. Nach wie vor zollte die ganze Familie dieser geliebten Greisin die hingebendste Verehrung, und es schien, als ob Segen von ihr ausströme für alle. Groß und Klein drängte sich an sie heran, und geizte um den Segen ihrer Liebe. Ihr selbst aber mischten sich bereits Vergangenheit und Gegenwart zum dunklen, unklaren Bilde, und oft geschah es deshalb, daß sie die Enkel mit ihrer Eltern Namen rief.

Immer war's ein Fest für alle, wenn Paul und Benno, die beiden kräftigen Männer, Großmütterchen in ihrem Lehnstuhle herausfuhren in den Hofraum. Die kleinen Mädchen und Buben wurden alsdann nicht müde, Blumen und Steinchen, Puppen und Spielzeug herbeizutragen, damit die alte Frau alles sehe und sich daran freue.

Bennos Ehe war mit drei blühenden Kindern gesegnet. Auch Paul, der gleichfalls im väterlichen Geschäfte arbeitete und dereinst Mitteilnehmer des älteren Bruders zu werden hoffte, hatte bereits einen kräftigen zweijährigen Buben und einen noch jüngeren Schreihals in der Wiege. Mathilde, seine Frau, war ein stilles, schmiegsames Wesen, das mit zärtlicher Liebe an Mutter Notburga hing. Sie hatte ihre Eltern schon in frühester Kindheit verloren und erkannte es nun als großes Glück, daß sie, die Einsame, in der zahlreichen Familie ihres Mannes Vater, Mutter und Geschwister fand und von allen so wohl aufgenommen wurde.

Heute war Sonntag; Grete war mit Jakob, ihrem Manne, und den drei Kleinen auf Besuch gekommen. Sie war eine lebhafte, rührige Frau, die von Gesundheit strotzte. Über Vater Christophs Antlitz ging's jedesmal wie Sonnenleuchten, wenn er sie sah. Fritz hatte den Vater gebeten, die Landwirtschaft erlernen zu dürfen, und er hoffte, da seine Lehrjahre nahezu beendigt waren, recht bald als Verwalter auf einem herrschaftlichen Gute Anstellung zu finden. Lenchen machte sich gleich Lieschen überall nützlich und den Kindern geradezu unentbehrlich, denn die lustige »Basi Leni« verstand es gar hübsch, auf all die lustigen Streiche einzugehen, weshalb sie bei den Kindern in höchster Gunst stand.

Aus all diesen großen und kleinen, jungen und alten Menschen war die heutige Versammlung im Hofraume zusammengestellt, und Eintracht und Liebe herrschte unter ihnen. Gott hatte die Verhältnisse des braven Meisters sichtlich gesegnet. Neben äußerlicher Einfachheit war ein gewisser Wohlstand nicht zu verkennen. Das frühere kleine Wohnhaus war aufgebaut, die Werkstätte wesentlich erweitert worden und mit ihr auch das Geschäft, das sich eines großen Vertrauens und zahlreicher Bestellungen rühmen durfte. Meister Schlicht hatte den Wahlspruch seines Herzens stets im Auge behalten: »Gib jedem das Seine und Gott die Ehre.« Danach hatte er gelebt und gearbeitet und dafür hatte Gott ihn gesegnet.

Und dennoch dieser Kummer auf der gefurchten Stirne? Dennoch das stille Leid auf dem Antlitze seines braven Weibes? – –

Es fehlt ja einer in dem traulichen Kreise! Heute und immer, schon seit zwölf Jahren, wurde er vermißt, und dieser eine war einst der Stolz und Liebling, die stille Hoffnung aller gewesen! – Wo war Joseph, der fleißige, der ausgezeichnete Student? Was war aus ihm geworden? Wo weilte er? – Seine Geschichte ist bald erzählt. –

Nach jener ernsten Unterredung mit seiner Mutter hatte er nochmals mit bestem Willen den Kampf mit Welt und Verführung aufgenommen, aber es fehlte leider das Hauptfundament zum Aufbau eines wirklichen dauernden Lebensglückes – es fehlte – die Demut! Mit Entzücken hatte sich schon der Knabe gelobt und über andere erhoben gesehen, und mehr und mehr verlangte seine Eitelkeit nach solcher Befriedigung. Die Freunde, die ihn dem Berufe des Priesters zu entziehen strebten, erkannten diesen schwachen Punkt seines Charakters nur allzuwohl und huldigten ihm auf jede Weise. Allgemach vernachlässigte der junge Mann das wichtigste, nämlich: das eifrige Gebet und berauschte sich förmlich am Beifalle der Welt.

In dem Grade, als seine braven Eltern Ursache hatten, mit ihm unzufrieden zu sein, wurde er der Abgott der modernen Gesellschaft. Niemand mochte aus den weltläufigen, guten Manieren des interessanten Jünglings schließen, daß seine Wiege in einem ärmlichen Häuschen der Vorstadt gestanden habe, und Vater und Brüder ihren Unterhalt als ehrliche Arbeiter fanden. Als aber endlich der Zeitpunkt herankam und Joseph ins Priesterseminar eintreten sollte, machte er dem Vater das beschämende Geständnis, er habe schon lange einen anderen Lebensberuf ergriffen und sich für das Studium der Medizin entschieden.

Das war ein niederschmetternder Schlag für den redlichen Mann. Lange konnte er keine Erwiderung finden. Die schwere Last, die er als Haupt einer so zahlreichen Familie für die Ausbildung seines ältesten Sohnes sich auferlegt hatte, war also umsonst gewesen! Umsonst war es, daß die Mutter an der eigenen Behaglichkeit gedarbt und jeden ersparten Pfennig für Joseph hingegeben hatte, umsonst auch die Großmut der guten alten Base Kluge! –

Des Vaters starres Schweigen ging allgemach in gerechtes Zürnen über. Schwere Vorwürfe auf das schuldige Haupt des Sohnes schleudernd, wies er ihn von der Schwelle seines Hauses, »Ich will nichts mehr gemein haben mit Dir,« rief er schmerzbewegt aus, »Du hast unsere Güte schmählich mißbraucht, hast unser Vertrauen hintergangen, unser sauer erworbenes Gut unerlaubt verschwendet, unsere Liebe für immer verwirkt! Nicht das, daß Du kein Priester werden wolltest, möchte ich Dir als schwere Schuld anrechnen, nein, nicht das, – denn Gott allein schenkt den heiligen Beruf und die hiezu nötige Gnade – aber daß Du nicht offen mit uns gewesen, daß Du ohne unser Wissen andere Pläne verfolgt, andere Wege eingeschlagen hast. Fortan ziehe ich meine Hand von Dir ab und reiße Dich los aus meinem Vaterherzen. Von heute an habe ich keinen Sohn mehr.«

Angesichts solcher Vorwürfe, die er doch nicht in solcher Strenge verdient zu haben glaubte, brauste Josephs Stolz aufs heftigste auf. Wohl hatte er gefürchtet, daß es zu schlimmen Auseinandersetzungen kommen würde und deshalb bis zum äußersten geschwiegen. In der Wahl eines anderen Berufes sah er kein Unrecht. Im Umgange mit den freisinnigen Genossen, unter dem Eindrucke der modernen Lehren, welche die Religion als ein lächerliches Ding verwarfen, das dem tief gebildeten Manne der Wissenschaft nun und nimmer mehr genügen könne, hatte leider auch Josephs Glaube Schiffbruch gelitten! Mit der Gewohnheit des Gebetes hatte er noch viele andere Gepflogenheiten seiner Knabenjahre beiseite gelegt und hatte nach einem glitzernden Stein gegriffen, den ihm die falsche Welt darbot, statt des gesunden Hausbrotes, das seine Seele bisher genährt hatte.

Kalt ließ er den väterlichen Zorn über sich ergehen und hatte nicht ein Wort der Reue und Zerknirschung; ja, er ging so weit, daß er freiwillig jede fernere Unterstützung schroff zurückwies und hochfahrend erklärte, er habe bereits soviel gelernt, um auch ohne Hilfe des Vaters sein Studium vollenden und auf eignen Füßen stehen zu können.

Ach, wie leicht bringen Stolz und Hochmut selbst die edelste Natur zum Falle!

Nur den inständigsten Bitten der Mutter und Geschwister gelang es endlich, den Vater so weit zu beschwichtigen, daß er sich allmählich mit dem Gedanken aussöhnte, daß Joseph nach wie vor im Elternhause wohnen bleibe; was seine Pflichten als Studierender betraf, konnte ihm kein Vorwurf gemacht werden; er zeigte hervorragende Talente zum ärztlichen Berufe und gab berechtigte Hoffnung, daß er sich bald eines berühmten Namens würde erfreuen dürfen.

Von dem, was Mutter Rotburga unter der Verirrung ihres Lieblings litt, wird besser geschwiegen. Das Mutterherz ist ja so unergründlich in seinem Erbarmen, daß es alles, auch das Schwerste, zu verzeihen vermag. Nachdem ihre teuerste Hoffnung, ihren Erstgeborenen, als Priester zu sehen, so jählings zusammengestürzt war, klagte sie nicht so fast über die Versagung ihres heißen Wunsches, als über die Verblendung ihres Kindes. Sie bestürmte den Himmel unaufhörlich mit ihrem Gebete und hoffte gleich der hl. Monika, daß auch Joseph, wie einst Augustinus nicht für ewig verloren gehen würde.

So blieb der Jüngling noch eine Zeitlang unter dem väterlichen Dache, aber er kam sich vor wie ein Fremdling unter Fremden. Die alte Herzlichkeit war gewichen, die Geschwister waren ihm gram, wenn sie auf den Vater schauten, der so finster und gebeugt im Hause umherging, oder die rotgeweinten Augen der Mutter und ihr stillgetragenes Martyrium wahrnehmen mußten.

Auch Benno war sich angesichts der veränderten Verhältnisse nochmals klar geworden, welch' großes Opfer er dereinst in brüderlicher Liebe gebracht hatte; und wozu hatte es geführt? – Süß und verlockend zog der hehre Traum seiner Knabenjahre noch einmal an seinem Geiste vorüber, und ließ ihn empfinden, was er hingegeben, was er verloren hatte. Aber er verschloß das schmerzende Geheimnis ängstlich in seiner Brust, beugte das Haupt und sprach ein zweitesmal voll Ergebung sein »Fiat«, »Dein Wille geschehe!«

Die gute Patin Kluge konnte die arge Täuschung, welche Joseph ihnen allen bereitete, am schwersten verwinden. Sie hatte sich so viel auf ihre Menschenkenntnis zugut getan, und sich nun in ihrem »Sepperl« so schwer geirrt.

Wie stolz war sie gewesen in dem Gedanken an sein erstes hl. Meßopfer. – Ja, dann durfte sie sich sagen: »Zu dem was er geworden ist, hab ich ihn gemacht.« So schleicht sich oft unter die guten Werke ein bißchen Eitelkeit ein. Es war aber gewiß recht schmerzlich für die alte Frau, da es ganz anders kam als sie gewollt hatte. Bald nachher zog sie sich eine schwere Erkältung zu und starb, von der dankbaren Familie Schlicht aufrichtig beweint.

Immer mehr brannte der Boden unter Josephs Füßen; es trieb ihn fort aus der Umgebung, die sonst all' seine Wünsche umschloß, jetzt aber seinem Ehrgeize zu enge, und zum steten Vorwurfe für ihn geworden war.

Nachdem er seine letzte Prüfung bestanden hatte, nahm er eine ihm angebotene Stellung als Reisearzt im Auslande an.

Etliche Jahre vergingen, bis wieder einmal Nachricht von ihm ins Elternhaus gelangte. Man gedachte seiner nur, wie man der Toten gedenkt, und sprach nur selten seinen Namen aus, denn noch immer zeigte sich alsdann ein verräterisches Rot im Gesichte des Vaters und eine Träne im Mutterauge. – Wo wäre denn die Mutter, welche aufhört, ihren Sohn zu lieben und hätte er ihr auch das Herz zertreten? – –


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