Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Mutter Notburga

Alles lag in tiefster Ruhe. Es hatte endlich Mühe gekostet, sie herzustellen, und gute sowohl, als ernste Mahnworte mußten hierfür aufgeboten werden. Jetzt aber wies jedes Bett, bis zur Wiege Magdalenchens herab, seine Inwohner auf. Wäre es dem menschlichen Auge gegönnt gewesen, die irdischen Nebel zu durchdringen, es hätte wohl die heiligen Schutzengel der Kinder erblickt, die sich liebevoll über ihre Schlummerstätte beugten und ihre Ruhe behüteten.

Die stürmische Lust des Tages hatte heute lange keinen Abschluß finden können.

Während der Nachtsuppe, und selbst noch beim Auskleiden, waren die Plappermühlen in steter Bewegung gewesen und mochte man denken, ein jedes der Kinder hätte sich seine allerwichtigste Mitteilung für zuletzt aufgespart.

Als jedoch die Mutter zum Nachtgebete rief, trat allgemeine Stille ein; Mädchen und Knaben stellten sich vor dem Hausaltare in der Stubenecke auf und falteten andächtig die Hände.

Es ist ein großer Irrtum, die Kinder erst dann mit dem Gebete bekannt und vertraut zu machen, wenn sie groß genug sind, um hierfür das richtige Verständnis äußern zu können. Die Ehrfurcht vor dem lieben Gott und allen Heiligen muß mit den kleinen Geschöpfen aufwachsen und ihnen in Fleisch und Blut übergehen, sie muß ihnen ebenso natürlich sein, wie die Liebe zu Vater und Mutter.

Jede fromme Mutter wird ihren Lieblingen die heiligen Bilder in der Kirche oder an den Wänden des Zimmers zeigen, sie wird ihnen täglich einigemale die kleinen Händchen zusammenlegen, und ihnen zuweilen vom lieben Gott im Himmel erzählen.

Bald wird dann in der Seele ein unbestimmtes Bewußtsein dämmern, daß die Kirche etwas anderes sei, als die Wohnstube, daß man um Speise und Trank bitten und dafür danken müsse, und sei es auch wirklich die ersten Lebensjahre hindurch ein bloß mechanisches Gebet ohne wirkliches Verständnis, was die liebe Unschuld verrichtet, so wird schon diese äußerliche Andacht gewissermaßen zum Gottesdienste, Gebet und Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten aber zur lieben Gewohnheit, die man später nur weiter zu pflegen hat. Mehr oder minder ist ja jeder Mensch von so vielen Gewohnheiten abhängig, warum soll denn gerade die Gepflogenheit der zarten Kinderjahre verwerflich sein?

Mutter Notburga hat ihre Kinder schon frühzeitig zum Gebete angehalten und während nun die größeren ihre Andacht bereits mit Verständnis verrichteten, suchten die jüngsten mit dem unvermeidlichen Nachahmungstriebe aller kleinen Menschen Stellung und Gebärden der Geschwister wiederzugeben.

Frau Schlicht war verständig genug, diese gemeinsamen Andachten auf das bescheidenste Maß zu beschränken und die Kinder durch langes Beten nicht zu ermüden.

Wie unrecht ist es, wenn die Mütter ihren Kleinen in dieser Beziehung allzuviel zumuten, und wie schnell könnte ihnen hierdurch der Kirchenbesuch und das Gebet zur schwerverhaßten Arbeit werden, die sie auch in späteren Jahren noch abstoßt und langweilt.

Nach verrichteter Abendandacht, an der Vater und Mutter teilnahmen, wünschten die Kinder den Eltern mit ehrerbietigem Handkusse »gute Nacht« und jedes einzelne erhielt aus der Mutter Hand das Weihwasser und das hl. Kreuzzeichen auf die Stirne. Die drei größeren Knaben suchten ihre Schlafkammer auf, Grete und Lischen schliefen im Stübchen bei der Großmutter, die Kleinsten blieben unter der Obhut der Eltern selbst.

Auch Meister Schlicht lag bereits in sanftem Schlummer, indes seine Gattin noch wachte. Die Worte der Nachbarin Kluge und das hieraus entspringende Gespräch beschäftigte ihre Gedanken und ließ sie heute lange keine Ruhe finden. Die Zukunft ihres ältesten Sohnes lastete schwer auf ihrem mütterlichen Herzen.

Im ersten Jahre ihrer Ehe hatte ihr Gott ein liebes, kräftiges Töchterlein geschenkt, das nach Vater Christoph den Namen Christine erhielt. Das Kindlein war ihre größte Freude und die junge Mutter entwarf bereits die kühnsten Pläne für spätere Zeiten, als eine tückische Krankheit die zarte Blüte in wenigen Tage knickte. Wie Christinens Wiege so zu sagen, unter dem Christbaume gestanden hatte, so deckte jetzt nach weiteren elf Monaten der erste Schnee den kleinen Grabhügel ein. Das Erdenwallen des lieblichen Mägdleins hatte kein ganzes Jahr gewährt. Dieser erste große Schmerz aber schlug dem Mutterherzen eine tiefe Wunde.

Meister Schlicht bot trotz der eignen Trauer alles auf, sein armes Weib zu beruhigen; sie wies jedoch seinen Trost zurück, und überließ sich einer so rückhaltlosen Verzagtheit, daß man ernstliche Folgen für ihre Gesundheit fürchtete.

Als sie aber endlich einem Knaben das Leben schenkte, schwebte sie mehrere Wochen lang zwischen Tod und Leben, und nur die aufmerksamste Pflege ihres Gatten und seiner Mutter trugen im Vereine mit Notburgas Jugendkraft den endlichen Sieg davon.

Der Kleine brachte nicht das runde, pausbäckige Gesichtchen seiner Schwester mit ins Leben.

Er war ein zartes, gebrechliches Geschöpf, dessen Erhaltung den ganzen Opfermut der Mutterliebe erforderte. Unheimlich groß leuchteten die Augen in dem schmalen Gesichtchen, und die blaugeäderte Stirne erschien durch die krausen dunklen Locken noch bleicher. Wie aber oftmals im Leben ein Kummer den andern verdrängt, so füllte auch jetzt die Pflege ihres Söhnchens Notburgas Denken vollständig aus, und unter den Sorgen der Gegenwart erblaßte Christinens Bild; der ganze Reichtum mütterlicher Liebe gehörte von nun an dem schwächlichen Knaben, den man Joseph getauft und unter den besonderen Schutz des lieben Heiligen gestellt hatte. Sobald er nur einiges Verständnis bekundete, lehrte man ihn sein Bild kennen, und sprach ihm von seinem heiligen Patrone im Himmel. Während seiner ersten drei Lebensjahre schwebte das Kind wiederholtemale in äußerster Gefahr. Kaum durfte man sich seines Gedeihens freuen, als eine neue Krankheit ihn zurückwarf, und all die schwer errungenen Früchte hingebendster Pflege zu nichte machte; sein nur um ein Jahr jüngerer Bruder Benno, der wie ein kleiner Riese in der Wiege gelegen war, stand bereits auf den Füßen und machte die ersten Gehversuche, indes Joseph noch auf dem Arme der Mutter saß. Welch bitteres Weh zuckte dann durch Notburgas Herz, wenn die Freunde des Hauses unwillkürlich Vergleiche anstellten zwischen den so ungleichen Brüdern, wobei sehr deutlich die Überzeugung zu Tage trat, das kränkelnde Büblein werde wohl seinem Engelschwesterchen nachfolgen. Wer möchte die Tränen zählen, die Notburga in schlaflosen Nächten am Bettchen ihres leidenden Kindes vergossen, wer die glühenden Bitten, womit sie ihren Liebling dem Himmel abgerungen hatte! –

Endlich, nach vollendetem dritten Lebensjahre schien das armselige Lebensflämmlein zu erstarken, Gottes Gnade und die Allmacht der Mutterliebe hatten die schwache Natur überwunden, und sie ging siegreich aus dem ungleichen Kampfe hervor.

Der Knabe erstarkte auffällig, ja er holte sogar den kräftigen Benno, der ihm im Wachstum so sehr vorausgewesen war, wieder ein, gleichwohl war und blieb er unter allen Geschwistern, und deren folgten noch viele nach, der zarteste. So lag für die Zukunft allerdings der Gedanke nahe, daß er einst einen Beruf wählen müsse, der keine großen Kraftanstrengungen erforderte, denn für solche schien er gar nicht gewachsen. Dagegen zeigte er rasche Auffassung, scharfe Beobachtungsgabe und ein vorzügliches Gedächtnis. In der Schule wurde er bald der Liebling der Lehrer, und seine überraschenden Fortschritte legten den Gedanken nahe, er möchte einmal studieren und den geistlichen Stand erwählen. Namentlich hielt sich die Mutter mit Vorliebe bei diesem Plane auf. Konnte man's ihr verdenken, daß Joseph, ihr Erstgeborener, das Kind ihrer Sorgen und Kümmernisse, ihrem Herzen näher stund, als die übrigen, gesunden Kinder? Sie hatte sie ja gewiß alle aufrichtig lieb, aber für kein anderes hatte sie soviel gezittert und geweint, für kein anderes so viel gelitten und gebetet, wie für ihn! Es ist aber eine alte Wahrheit, daß uns alles teuer wird, was wir schmerzvoll erringen müssen. Durch seine Schwächlichkeit war Joseph mehr auf die mütterliche Liebe angewiesen gewesen, als die gesunden Geschwister, er saß am liebsten bei ihr und spielte zu ihren Füßen, indes die anderen tollten; den strengen Vater fürchtete er, und konnte sich lange nicht daran gewöhnen, vertraulich mit ihm zu verkehren, die Mutter aber mußte um all seine kleinen Leiden und Freuden wissen, ihr verriet er seine geheimsten Gedanken, und sprach oft mit ihr von den Wünschen der Zukunft. Der hübsche Sepperl war ein kleiner Denker, und da und dort hatte Pate Kluge ein Wörtlein fallen lassen, das nicht ohne Wirkung auf sein jugendliches Gemüt geblieben war.

Heute nun, zu später Nachtzeit, saß auch seine Mutter über Gleiches sinnend; denn Frau Kluge war wieder einmal auf ihr Lieblingsthema geraten, und auch Vater Schlicht hatte seine Mißstimmung deutlich kund getan. Er war offenbar nicht einverstanden, daß man Sepperl zum Studieren schicke, und arge Stürme würde es noch absetzen müssen, bis es dazu kommen möchte. Hatte er aber auch recht mit solcher Ansicht? Und wär's nicht schade um die schönen Talente des Buben? Wer half in all diesen Zweifeln? Und was war von der Zukunft zu erwarten?

Demütig kniete Frau Notburga vor dem alten Kruzifix, vor dem seit so vielen Jahren schon die Glieder der Familie zu beten pflegten. Hier suchte sie Erleuchtung, Hülfe, Trost!

Mitternacht war längst vorüber, als sie sich endlich erhob und ihr Lager aufsuchte.

Ihr Gesicht war bleich, die Augen vom Weinen gerötet. Sie hatte flehentlich mit ihrem Gott gesprochen und Ihm ihr Herzenskind und seine Zukunft übergeben.


 << zurück weiter >>