Emanuel Geibel
Juniuslieder
Emanuel Geibel

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Herbstlieder.

1.
                  Nun strömet klar von oben
Der Tag ins Land herein,
Aus tiefem Blau gewoben
Und lichtem Sonnenschein.

Es will noch einmal blühen
Der Wald, bevor er starb;
Er prangt in goldnem Glühen
Und lächelt purpurfarb.

Und fern im Glanze schließet
Sich Berg an Berg gereiht,
Und Sabbatstille fließet
Im Tale weit und breit.

Was will dich's wundernehmen,
O Freund, zu dieser Frist,
Daß deine Brust ihr Grämen
Wie einen Traum vergißt?

Daß du der alten Sorgen
Mit Lächeln nur gedenkst,
Und in den goldnen Morgen
Dich voll und froh versenkst?

O gib dich hin dem Frieden
Und sauge diesen Glanz,
Der aller Welt beschieden,
In deine Seele ganz.

Laß Ruh' und Lied sich gatten
Bei frommem Harfenklang,
Der letzten Trauer Schatten
Versühne mit Gesang.

Der Sonne heb entgegen
Den Becher jungen Weins,
Und heischt der Trunk den Segen,
So wünsche segnend eins:

Daß, wenn nach Freud' und Leide
Dein Herz einst brechen will,
Wie dieser Herbst es scheide
So heiter, groß und still.


2.
Ach, in diesen blauen Tagen,
Die so licht und sonnig fließen,
Welch ein inniges Genießen,
Welche stillverklärte Ruh!
Heiter ist das Blut gezügelt,
Leichter Schlaf und klarer Morgen
Wissen nichts von bangen Sorgen,
Und die Seele schweift beflügelt
Jeder lieben Stelle zu.

Ach, in diesen blauen Tagen,
Die wie Wellen so gelinde
Mich ins Leben weiter tragen,
Muß ich hoffen, muß ich fragen,
Ob ich nie dich wiederfinde,
Liebling meiner Seele du!


3.
Es schleicht um Busch und Halde
Der Sonnenstrahl so matt,
Im herbstlich stillen Walde
Fällt langsam Blatt um Blatt.
Die Welt versinkt in Todesruh –
Was ist's denn mehr? Auch du, auch du,
Mein Herz, du findest balde
Die rechte Lagerstatt.

Du brachst am Lebenssteige
Die Früchte, die er bot,
Der Jugend Rosenzweige,
Der Minne Himmelsbrot.
Doch endlich wird des Windes Raub
Die letzte Lieb', das letzte Laub –
So neige dich, o neige
Dich lächelnd in den Tod.


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