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Bild: A. F. Seligmann

16.

Schweigend – Maralen mit starrem Gesicht, Witting mit geballten Fäusten und unter keuchenden Atemzügen – so folgten die beiden dem Ufer der Ache. Schon waren sie über die Wiesen ein Stück des Weges nach der Gern hinaufgestiegen, als sie auf der Salzburger Straße einen langen Zug bewaffneter Bauern und Knappen daherkommen sahen. Das waren die vierhundert Schellenberger. Ruhig, in geordneten Rotten, kamen sie anmarschiert. Vor jeder Rotte ging der führende Mann, und dem ganzen Zug voran marschierten zwei: ein graubärtiger Knappe und ein junger Bursch, der vor der Brust ein langes Schwert trug und keine Kappe hatte, so daß sein Blondhaar in der Sonne schimmerte.

»Jesus!« stammelte Witting. »Der Bub! Lenli, der Bub!« Wie von Sinnen begann er über die Wiesen hinunterzurennen.

Maralen sah dem Vater nach. Nur langsam schien sie aus ihrer Starrheit zu erwachen. Jetzt folgte sie dem Alten, zögernd, dann mit rascheren Schritten, als wäre in ihrem zerdrückten Herzen eine neue Hoffnung aufgedämmert. Sie kam zur Straße. Und da war es schon wie Aufruhr in die Schellenberger gefahren, die von Witting vernommen hatten, daß der Hauptmann schon gewählt wäre. Hundert Stimmen hörte man durcheinanderschreien: man dürfe die Wahl nicht gelten lassen, der Hauptmann dürfe nur gewählt werden von der ganzen Landschaft, man hätte auf die Schellenberger warten müssen. Und ein altes Bäuerlein kreischte: »Der Hannes reitet uns all in des Teufels Brüh! Wir Schellenberger wollen den Buben haben! Des Wittings Buben! Der ist der Best von uns!«

Maralen stand vor dem Bruder und hielt seine Hände umklammert. Und sah, was aus dem Buben geworden war – ein Mann! Wie ein Lächeln der Freude glitt es ihr über das verhärmte Gesicht. Und gläubig nickte sie, als er mit seiner ernsten Festigkeit zu ihr sagte: »Thu dich nicht sorgen, Lenli! Es ist nichts verloren noch! Schau die Schellenberger an ... schau, wie die Leut sein können, wenn man ihnen in Güt das richtige Wörtl sagt! ... Und komm, wir müssen zum Anger!« Er hob die Hand – und da schwiegen alle. Und Juliander rief: »Zum Anger, Leut! In fester Ordnung, gelt!«

Die Rotten setzten sich in hastigen Marsch. Und Juliander, zwischen Maralen und dem Vater, schritt den Schellenbergern voran. Als sie zum Anger kamen, scholl ihnen ein Jubel und Freudenlärm entgegen, als wäre diesen tausend Menschen die Seligkeit vom Himmel herunter auf die Köpfe gefallen – und ein Bild war zu sehen, als hätte sich der Anger verwandelt in die Butterwiese des Schlaraffenlandes. Große Fässer waren aufgestellt, und mit Johlen und Jauchzen, mit Geschrei und Gelächter, balgte man sich um die quellenden Spundlöcher. Aus den Pelzmützen und Eisenhüten tranken sie, in die hohlen Hände ließen sie den Wein rinnen und schluckten, was nicht durch die Finger sickerte.

Erschrocken machte Juliander mit den Rottmännern der Schellenberger den Versuch, die Sinnlosen zu einem Gedanken der Überlegung aufzurütteln. Doch keine Stimme wirkte mehr in diesem Rausch und Jubel, kein Wille mehr bändigte das entfesselte Thier dieser tausendköpfigen Trunkenheit.

Als sich Juliander durchgedrängt hatte bis zur Mitte des Angers, fand er eine Scene, die sich ansah wie das glückliche Ende eines lustigen Spiels. Der Fürstpropst, Herr Pretschlaiffer und der Sekretarius – alle drei mit Bauernkappen über den Ohren und mit grauen Lodenmänteln über den Schultern – standen mit dem Schmiedhannes und den Sprechern der Gnotschaften beisammen, ließen sich duzen von den Bauern und lachten dazu, obwohl sie kreidebleiche Gesichter hatten. Und Herr Wolfgang litt es, daß ihm der Schmiedhannes unter dem Gelächter der anderen ›zur Festigkeit des Bundes‹ einen Schmatz auf die Wange drückte.

Juliander hatte sich auf einen Stein geschwungen. Das blitzende Eisen erhebend, rief er mit hallender Stimme in den Lärm: »Ihr Leut! Ihr lieben Leut! Um Christi Barmherzigkeit! Höret mich an, ihr Leut!« Doch seine Stimme verhallte im Lärm – und die ihn hörten, schrieen es ihm mit Jubel zu: »Was willst denn, Bub? Ist ja doch alles gut! Wir haben die Freiheit, wir haben die gute Zeit, alles ist fest und beschworen!«

Zu ›friedlicher Raitung über die Zeitläuft und die gute Volkssach‹ hatten sie mit den Herren einen Waffenstillstand auf zwei Monate abgeschlossen. Und bis das ›neue Gesetz der guten Zeit‹ gemacht wäre, sollten die zwölf Artikel der Bauernschaft als einzige Satzung gelten, weder Fron noch Scharwerk geleistet, weder Zins noch Steuer gezahlt werden. Alle Weide sollte frei sein, der Fischfang in den Bächen und die Jagd auf Feldern und Almen sollte den Bauern gehören, die Fische im See und das Wild in den geschlossenen Wäldern sollte den Herren bleiben. Jedem sollte sein Lehen als Eigentum gehören, jeder seinen Acker als festes Recht besitzen. Das hatten die Herren mit heiligem Eid beschworen – und der Hauptmann und alle Sprecher der Bauern hatten den Schwur gethan, diesen Frieden redlich zu halten. Und der Schmiedhannes war der große Mann, der die Freiheit der Bauern erfochten hatte, ohne Schwertstreich und Blutstropfen, mit einem Handschlag in die Rechte des Fürsten – und nach einem leisen Wort, das Herr Pretschlaiffer dem Hannes ins Ohr geflüstert hatte. Und da die Freiheit gewonnen war – sollten sich die Bauern ihrer guten Zeit nicht freuen dürfen? Sie nahmen es schließlich dem Buben übel, daß er noch immer nicht schweigen wollte.

Während der Hannes und die Sprecher der Gnotschaften den Herren das Geleit gaben, gelang es Juliander, ein paar Hundert um sich zu versammeln, die auf ihn hörten. Doch der Ruf, mit dem er an ihren Herzen und Köpfen rüttelte, hatte nicht mehr die Kraft der Ueberzeugung, und fand nicht mehr den guten Boden der Stunde, wie am Morgen zu Schellenberg. Juliander fühlte, daß er zu spät gekommen – und dieser Schwur, den die Bauern geleistet hatten, war für ihn eine Schranke, über die er nicht mehr hinüber kam.

»Schauet, Leut, das ist füreilig gewesen und eine arge Thorheit! Aber ein Schwur muß gehalten werden, ein Schwur muß fest sein wie Eisen. Und Gott soll's geben, daß die Herren ihren Schwur so ehrlich achten, wie ich von den Bauren verlang, daß sie ihn halten müssen. Aber schauet, Leut ... soll's wahr und recht sein, daß wir den Frieden haben in unserem Land ... aber schauet, wir Berchtesgadener sind doch nicht allein auf der Welt. Unser Fried wird keine festen Füß nicht haben, eh die gute Zeit nicht aufgestellt ist im ganzen Reich. Schauet, Leut, da müssen wir mit dem Nachbar zusammenhalten wie Baum zu Baum im festen Wald! Wir müssen den andern helfen, die noch im Streit mit den Herren sind ...«

Eine Stimme kreischte aus dem Gedräng: »Was gehen denn uns die andern an! Die sollen's machen wie wir! Sollen halt grad so gescheid sein!« Das Wort fand Beifall und Widerspruch.

»Leut! Habet Vernunft! Um Christi Barmherzigkeit! Laßt euch nicht fangen mit solcher Red! Wenn wir den Nachbar fallen lassen, das wirft uns einen Prügel vor die eigenen Füß. Schauet, Leut ... die Salzburger streiten gegen den Bischof, der sich mit siebenhundert Knecht in seine Burg geworfen hat ... und eh wir am Morgen fort sind von Schellenberg, ist Botschaft aus Hallein gekommen, daß aus der Steiermark ein Kriegshaufen der Herren von Österreich herzieht. Da müssen wir helfen! Da müssen wir mitthun, solang wir noch Fäust haben und ein Eisen rühren können! Leut! Der guten Sach und um der Freiheit wegen ... wer ein braver Bursch ist und ein richtiges Mannsbild ... her zu mir! Und nach Hallein hinüber!«

Und wieder wirkte der Klang seiner Stimme, der Glanz seiner Augen. Doch als sich die Besonnenen schon um Juliander zu sammeln begannen, kam der Schmiedhannes zurück und drängte sich in den lärmenden Ring. Was es da gäbe? Und wer da außer dem Hauptmann ein Wort zu reden hätte?

Als Hannes hörte, welche Wendung der Tag durch Juliander gewinnen wollte, erschrak er. Den Streitkolben schüttelnd, bleich vor Wut, sprang er auf den roten Sessel und schrie: » Wer hat da ein Maul zu machen? Wer ist der Hauptmann? Und wer ist ein solcher Lump, daß er den Treuschwur brechen möcht, den die Baurenschaft ihrem Hauptmann geschworen hat? Der ist ein Feind der guten Landssach! Dem laß ich den Pfahl vor's Haus schlagen!«

Da klang aus dem Lärm die Stimme des alten Witting: »Wie du's mir gethan hast? Gelt, Hannes? Selbigsmal, wie einer den Joß Friz verraten hat!«

Das Gesicht von brennender Röte überfahren, brüllte Hannes: »Auf Treu und Schwur, ihr Leut! Her da zu mir! Her zu mir, wer Verstand im Grind hat! Wo der Hannes steht, da ist der Bauren Freiheit und das gute Leben, da ist Klosterwein und Wildpret, da ist Geld und Gut! Her zu mir!«

Und vom Stein her klang die Stimme Julianders: »Her zu mir! Da steht der Bauren gutes Recht und redliches Wollen! Da steht das neue Wesen! Der Frieden und die Kraft im Reich! Wer's redlich meint, der hilft den Brüdern zu Hallein! Zu mir her, Leut! Zu mir!«

Ein wirrer Tumult entstand. Viele drängten zu Juliander, doch Hannes hatte den großen Schwarm für sich, für Klosterwein und Wildpret, für Gut und Geld. Und aus dem Lärm erhob sich die zeternde Stimme des Dürrlechners: »Die Halleiner, die können uns auf den Buckel steigen. Ich hab mein Recht, jetzt bleib ich daheim und freu mich dran. Und denket, Leut, es ist im Frühjahr, wo man die Aecker pflügen und die Wiesen misten muß. Im Herbst hat keiner misten können wegen der Jagdfron. Und auf den Wiesen spitzelt schon bald das Gras. Wenn da der Mist nimmer faulen kann, so dünget er nimmer.«

Das schrieen ihm hundert nach: »Der Mist muß auf die Wiesen! Das ist nötiger wie alles ander! Wenn die Wiesen gemistet sind, wird's allweil noch Zeit sein, daß man raitet, wie's weiter geht!«

Da griff die rote Maralen, die schweigend in allem Lärm gestanden, nach dem Arm des Bruders und zog ihn vom Stein herunter. »Laß gut sein, Julei! Das ist nimmer Narretei! Die Leut, die glauben an den Mist wie ans Himmelreich! Das reißt ihnen keiner aus der Seel! Die müssen misten! Das ist ihr Leben!«

Doch Juliander hob noch das Eisen und rief: »Ich geh vom Anger, Leut! Und die zu mir halten, die gehen mit!«

Über Fünfhundert waren es, die sich am Ufer der Ache um Juliander sammelten, die Hochbauern vom Göhl, dreihundert von den Schellenbergern und hundert aus dem Berchtesgadener Thal. Von der Gern schlossen sich dem alten Witting noch der Etzmüller, der Frauenlob mit seinem Buben und der Meingoz an.

Auf der Straße hielten sie kurze Rast, um sich zu ordnen und um den schmalen Bissen zu verzehren, den sie in der Tasche trugen, sauren Käs und Kleienbrod. Dann stiegen sie gegen den Halleiner Paß hinauf.

Maralen ging mit ihnen bis zum leeren Haus des Salzmeisters. Zum Abschied drückte sie dem Bruder die Hand und legte den Arm um die Schulter des Vaters.

»Gott wird's geben,« sagte Witting, »daß unser Weg zum Guten ist.«

Mit starrem Lächeln deutete Maralen auf die Wiese hinüber, die am Waldsaum lag. »Schau, Vater, da drüben ist Blut geronnen im Herbst ... schau, das Fleckl, wo das Gras schon wachsen will. Das ist gut gemistet!« Dann wandte sie sich ab und ging.

Während die Fünfhundert bergwärts stiegen, klang vom Anger herauf das Jauchzen und Singen der ›Gescheiden‹, die um die Fässer lagen.

Juliander war hinter den anderen zurückgeblieben. Wo er stand, da konnte man durch eine Scharte des Waldes hinausblicken in das von blauem Duft und Sonnenglanz überflimmerte Thal von Schellenberg.

»Bub?« rief der alte Witting. »Wo bleibst denn?«

Juliander drückte, wie ein Erwachender, die Fäuste über die brennenden Augen, warf noch einen letzten Blick über das blaue Thal hinaus – dann stieg er mit hastigen Schritten bergan.

Bild: A. F. Seligmann

Drunten auf dem Anger war goldene Zeit der Freiheit. Bis zum Abend brauchten sie, um die Fässer leer zu machen. Spät in der Nacht noch hörte man das Jauchzen und Johlen der Betrunkenen. Und an die Hundert blieben wie Holzklötze auf dem Anger liegen, im Schlaf des Rausches.

Der Morgen kam. Und im Berchtesgadner Land war ›gute Zeit‹. Die Herren saßen hinter der Mauer und rührten sich nicht. Kein Bauer wurde zur Fron geholt, keiner zum Scharwerk. Kein Zinsbot ließ sich in den Häusern blicken, keine Maut wurde erhoben, kein ›Kirchversaum‹. Und wie viel der Uebermut auch sündigte – Herr Pretschlaiffer drückte die beiden Augen zu. Jeder Bauer that, was er wollte, jeder, was ihn freute. Mit dem Pflügen der Äcker und mit dem Misten der Wiesen, das hatte Zeit. Denn sie hatten andre Dinge zu thun: im Leuthaus sitzen, wo die Maß Wein auf Klosterkosten um einen Heller ausgeschänkt wurde, und die Forellen aus den Bächen fangen, und hinter dem Wildpret herlaufen – wo eine Hirschkuh nur herausguckte aus dem Wald, da hing sie schon in der Schlinge. Die lachende Rede ging durch das Land: »Jetzt ist der Bauer ein Chorherr worden!« Und dem Schmiedhannes, der diese goldene Zeit geschaffen hatte, nahm es keiner übel, daß er vom Kloster zur ›Ehrung des Hauptmanns‹ die besten Äcker und Wiesen bekam und daß er sich Knechte eindingte, die für ihn pflügen und säen mußten, während er im Leuthaus zechte oder zur Stillung seines Katzenjammers mit dem Spieß hinter den wilden Sauen herlief.

In manchem regte sich wohl ein besonnener Gedanke, und in vielen wurde die Sorge wach. Aber der Hannes mit seinem großen Maul schrie jede Meinung nieder, die ihm nicht taugte. Und als die Nachricht kam, daß die Reichenhaller sich blutige Köpfe an den Klostermauern des heiligen Zeno geholt hatten, und daß im ganzen Bayerland die Bauern ruhig blieben und sich mit ihren guten Fürsten vertrugen, da kam die ›Gescheidheit‹ des Schmiedhannes erst recht ans Licht, und es wurde ihm leicht, jedem Widerspenstigen zu predigen, daß er das Gute geraten und das Beste gewonnen hätte. Nur ein kleines Häuflein war im Land, das dem Hannes zu schaffen machte. Das waren die Martinischen. Die sahen ein, daß des Wittings Bub auf dem Anger das rechte Wort gesprochen hatte, und einer nach dem andern zogen sie davon, nach Salzburg hinaus, mit dem Spieß oder mit der Sense auf der Schulter.

Die anderen blieben ruhig und hielten ihren Schwur. Und keine Nachricht, die von draußen einlief, machte ihnen die Köpfe heiß. Daß in Salzburg zehntausend versammelt waren, um den Bischof in seiner Burg zu belagern – daß die Gasteiner, die von Hallein und aus dem Pongau, die Raurisser und Schellenberger mit zäher Tapferkeit das überlegene Heer der österreichischen Herren bei Schladming überwunden hatten – daß vom Bodensee bis an den Main hinauf ein Kampf der Verzweiflung geführt wurde – daß der Bayernherzog, weil er keine Plage mit seinen Bauern hatte, einen Theil seiner Kriegshaufen dem Schwäbischen Bund zur Hilfe schickte und sechstausend Landsknechte unter dem Frundsberg zum Entsatz der Hohensalzburg ausmarschieren ließ – das alles kümmerte den Schmiedhannes und seine Schwurbrüder nicht. »Die da draußen,« hieß es, »die machen schon alles aus, wir brauchen keinen Blutstropfen hergeben und haben den Nutzen davon.« Und eine lustige Stunde war's, mit Geschrei und Lachen, als eines Tages ein fahrender Krämer die Nachricht von der Niederlage des Leipheimer Haufens ins Leuthaus brachte und erzählte: »Das hat ein Gezappel gegeben, als wär ein Ameishaufen lebendig geworden, und ein Daddera, als wär's ein Haufen Gäns. Bloß vom Hall der Kartaunen sind sie umgefallen, wie die Juden am Ölberg.« Hörten sie aber die Nachricht eines Sieges, den die Bauern erfochten, so stieg ihnen die Freude heiß in die Köpfe – und die Besonnenen begannen zu schelten, als sie von den Greueln hörten, zu denen die Empörung ausartete, und als die Nachricht von dem blutigen Ostersonntag zu Weinsberg kam. »Haben die Leut denn ihren Verstand verloren,« hieß es, »so was muß doch der guten Sach einen Schaden thun!« Sie hörten, sie lachten und schimpften – aber sie lernten nicht, obwohl sie sahen, daß es überall das gleiche Spiel war: überall die Unvernunft des ersten Rausches, überall der Judas, der die Brüder opferte, überall der schwere Faustschlag der Herren, wo sie die Macht hatten, und überall, wo sich die Herren aus Schwäche ducken mußten, der gleiche Betrug mit beschworenen Verträgen, die so lange gehalten wurden, bis die Landsknechte kamen.

Als aber eine böse Nachricht nach der andern einlief, wurden sie dennoch stutzig. Und der Schmiedhannes bekam einen schweren Stand. Und immer wieder hörte er die Frage: »Was ist denn im Kloster? Was schaffen sie denn da die ganzen Nächt beim Pfannfeuer?«

»Was weiß denn ich?« schrie er die Neugierigen an. »Geht halt hinein und fragt, was los ist!«

Außen an den Mauern war nichts zu sehen. Nur durch die Schießscharten guckten die Armbruster und Hakeniere heraus, die auf Wache standen. Doch in den Höfen war ein schaffender Lärm durch Tag und Nacht.

Und eines Morgens, in der zweiten Woche nach Pfingsten, als von Salzburg ein reitender Bote ins Kloster gekommen, trat der Fürstpropst heiß erregt in die Zelle des Dekans. »Da, Schöttingen! Da, lies!« Er legte ein Flugblatt auf das offene Buch, über das der Greis gebeugt saß. »Mich plagt die Neugier, was du sagst dazu!« Er lachte.

Schöttingen nahm das Blatt und las mit murmelnder Stimme den Titel: »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauren.« Er blickte auf. »Wer hat das geschrieben?«

»Dein schaffender Mann zu Wittenberg! Ein Wort, das nützlicher für die Herren und für uns Kirchenfürsten ist, hat keiner noch geredet!«

Der Greis begann zu lesen, und je länger er las, desto deutlicher sprach aus seinen Zügen ein ratloser Schreck. Seine Hände zitterten, und seine zerdrückte Stimme murmelte zögernd ein Wort ums andere: »Rechtlos sind sie ... man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann ... wie man einen tollen Hund totschlagen muß!« Mit verstörten Augen sah er auf. Und las wieder: »Steche, schlage, würge sie, wer da kann! Bleibst du darüber tot, wohl dir! Seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen!« Er legte das Blatt auf den Tisch, und sein Gesicht war so weiß wie die Mauer seiner Zelle.

»Ist das nicht schön geredet?« höhnte der Fürst. »So recht im Geist des Jüngers, den der Heiland lieb hat!«

»Herr,« sagte Schöttingen ernst, »das ist nicht die Stunde, um zu spotten! Ich begreife dieses Blatt nicht ... und begreif es doch! Hier hat der rechtliche Mann, der Mensch in Luther geredet, den die Greuel des Aufruhrs, die zügellose Wildheit des Volkes empörte. Einer, der neue und große Zeiten schaffen will, muß einen Geist wie Feuer haben, und dazu ein steinernes Herz. Den Geist, den hat er. Aber sein Herz ist weich. Und das Blut, das die Bauern rinnen ließen, zu Weinsberg und an anderen Orten, wider Recht und Menschlichkeit, das hat dem Wittenberger diesen Zornschrei aus dem Herzen gerissen. Das begreif ich. Aber daß er als politischer Mann seine Klugheit von dem Zorn seines redlichen Herzens überrumpeln ließ ... das versteh ich nicht. Und das beklag ich ... um des Volkes und um des Reiches willen! Denn dieses Blatt wird für das Reich ein Unglück sein!«

»Meinst du?« Herr Wolfgang lächelte.

»Ja, Herr! Alle Halbheit rächt sich im Leben und mehr noch im Gang der großen Historia. Dieses Blatt wird Ursach werden, daß die große Zeit der Deutschen sich am Wegrand niedersetzt ... wer weiß, wie lange ... und daß das Werk der Freiheit blos ein halbes bleibt. Denn dieses Blatt, Herr, wird unser Volk dem Mann entfremden, der die Hoffnung in die Herzen des Volkes warf ...«

»Ja, Schöttingen, das ist auch meine Meinung! Und drum will ich sorgen, daß dieses Blatt unter das Volk kommt.« Lachend ging Herr Wolfgang zur Thür. Und wandte das Gesicht. »Weißt du schon, daß wir reiten in dieser Nacht?«

»Nein, Herr.«

»Wir reiten um die Mettenstunde. Halte dich fertig. Unser Weg geht über Schellenberg auf Salzburg zu. Dort lagert der Herzog von Bayern mit dem Frundsberg und mit sechstausend Spießen.«

Zitternd richtete der Greis sich auf. »Ich bleibe.«

»Hast du den Verstand verloren?« Herr Wolfgang kam von der Thüre zurück. »Wollt ich deiner Schrulle nachgeben, ich würde dich lebend nicht wiedersehen. Als dein Herr befehl ich dir, daß du mit uns reitest.«

Dünne Röte färbte das runzlige Gesicht des Greises, seine Augen brannten, der Atem kämpfte in seiner eingesunkenen Brust, und seine Kniee schienen brechen zu wollen.

»Schöttingen?« fragte der Fürst erschrocken. »Ist dir nicht wohl?«

Mühsam reckte der Greis sich auf. »Das ist nur so ... weil alles Ungewohnte dem Alter schwer fällt. Denn ich verweigere meinem Kirchenherrn und Fürsten den Gehorsam. Ich bleibe! ... Wie ihr's haltet mit dem Volk ... das ist ... das ist Betrug und Lüge ... das kann ich nicht ... ich will nicht reiten mit euch ... ich bleibe!«

»Schöttingen!« Der Fürst war bleich geworden. In der ersten Wallung seines Zornes trat er dem Greis entgegen. Doch der Anblick dieses zerstörten Gesichtes machte ihn schweigen. So stand er eine Weile. Dann ging er, ohne noch ein Wort zu sagen.

Zitternd fiel der Greis auf den Sessel hin, als hätte ihn ein Schwindel überkommen.

Und still war's in der Zelle. Nur an dem offenen Buche knisterten die Blätter, die ein Windhauch bewegte, ohne sie wenden zu können.

Draußen, am blauen Junihimmel, schwammen kleine silberweiße Wolken. Verspätete Apfelblüten hauchten durch das offene Fenster ihren Duft in die weiße Zelle – und irgendwo da draußen, im grünen Laubwerk, tönte der Schlag eines Finken.

Bild: A. F. Seligmann


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