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Bild: A. F. Seligmann

15.

Im Fürstenzimmer des Stiftes zu Berchtesgaden stand der Propst, Herr Wolfgang von Liebenberg, um die zehnte Morgenstunde am sonnigen Fenster. Weil durch die dicken, in Blei gefaßten Rundscheiben ein trübes Schauen war, hatte der Fürstpropst das kleine Schubfenster geöffnet. Grell lag ihm die Sonne auf dem entfärbten Gesicht, während er über die Ringmauer und den Hirschgraben hinunterblickte zum Anger, von dem ein brausender Lärm heraufquoll wie das Wogengeräusch von einem See, den der Sturm in Aufruhr brachte. Im Geflimmer der Morgensonne sah man dort unten an die tausend Menschen durcheinander wimmeln. Waffen blitzten, und bunte Fahnen sah man flattern, ein ganzes Dutzend, Fahnen in allen Farben.

Stumm, an der Lippe nagend, blickte Herr Wolfgang in dieses Gewirbel von Menschen hinunter. Dann stieß er in Zorn mit der Faust das Schubfenster zu, als wäre ihm dieses Bild dort unten eine Qual in den Augen, dieser Lärm eine Pein in den Ohren. »Das alles kommt von der luthrischen Büberei!« Er ging auf den greisen Dekan zu, der inmitten des prunkvollen Gemaches am Tische saß. »Schöttingen? Was rätst du mir?«

Der Greis mit dem weißen, wackelnden Kopf erhob sich. Doch bevor er zu sprechen anfing, durchschrillte ein gellender Pfiff das Zimmer. »Schweig, Satanas!« zürnte Herr Wolfgang und schlug mit einem Stäbchen nach dem kleinen Affen, der an eine dünne Silberkette gefesselt war und in gereizter Unruh an einer mit Sprossen versehenen Stange auf und nieder fuhr – ein langschwänziges Krallenäffchen, das aus der neuen Welt gekommen war, und das der Kaiser auf dem Wormser Reichstag dem Propst zu Berchtesgaden geschenkt hatte. Eingeschüchtert duckte sich das Thierchen auf eine Sprosse, ringelte den buschigen Schweif um den Hals, fleschte die Zähne seiner altklugen Teufelsfratze und sah den Propst mit funkelnden Augen an.

Der legte das Stäbchen fort und wandte sich zum Dekan: »Was rätst du mir, Schöttingen? Was ich in vier Wochen thäte, wenn der Frundsberg und der Wernau mit ihren Landsknechten daheim sind, das wüßt ich. Aber was thu ich heut?«

»Ja, Herr,« nickte der Greis »für den Menschen das größte Rätsel ist nicht die Zukunft, sondern die Zeit, in der er lebt.«

Der Fürstpropst machte eine Bewegung der Ungeduld. »Was rätst du mir?«

»Das, Herr, was ich als den Willen der Zeit erkenne.«

»Und was meinst du, daß die Zeit von mir begehrt?«

»Daß Ihr handelt als ein deutscher Mann.«

»Was hat mein Deutschtum mit diesem Bauernrummel von heut zu schaffen?« Die Stimme des Fürsten klang gereizt. »Heut muß ich mich wehren als Herr, den der Aufruhr seiner Bauern bedrängt. Und dann muß ich handeln als Priester, dem die Ketzerei das Thor seiner Kirche niederbrechen will.«

»Dann werdet Ihr das Falsche thun! ... Ihr habt meinen Rat immer beiseite geschoben, weil er Euch unbequem zu hören war. Heut, in der Drangsal der Stunde, habt Ihr mich gerufen. Jetzt sollt Ihr meinen Rat auch hören. Ihr Herren alle, ihr seid in dem Irrtum befangen, daß der Inhalt unserer Zeit nur dieser unglückselige Zank um die Kirche ist, nur die Unruh, die in das Volk gefahren, daß es nach Befreiung von seinen Lasten schreit, nach freiem Acker und freiem Herd. Nein, Herr, das allein ist es nicht, um was heut gewürfelt wird. Dieser Kirchenstreit und dieser Bauernrummel ... wie ihr den Sehnsuchtsschrei des deutschen Volkes nennt ... das sind nur zwei von den vielen Gesichtern, mit denen die Gegenwart dem Kommenden entgegenläuft. Was als Kern in der Sache steckt, was alle deutschen Seelen aufwühlt in ihren Tiefen ... das ist die dunkle Sorge eines Volkes um seine Zukunft.«

Vom Klang dieser Worte gefesselt, trat Herr Wolfgang an den Tisch. »Nimm einen Stuhl, Schöttingen! Das Stehen fällt dir schwer ... ich sehe, daß du zitterst.« Die Arme kreuzend lehnte er sich an die Kante des Tisches. »Erkläre mir, wie du das meinst.«

Mit tastenden Händen suchte der Greis die Lehnen des Sessels und ließ sich nieder. »Ein Volk, Herr, das ist nicht anders wie der einzelne Mensch, der in Nöten um die Dauer seines Lebens ringt und in den Sorgen der Stunde schon die Gefahren ahnt, die noch kommen sollen. Wie der, so hat auch ein Volk seine ahnenden Nerven, in seinen kämpfenden Gliedern den Gichtschmerz, der das böse Wetter vorausempfindet. Und uns Deutschen, Herr, uns stehen harte Zeiten bevor. Sagt doch selber, wie es steht um unser Land! Ist das noch ein Reich? Endlose Bruderkämpfe, endlose Kriege um den blauen Himmel hinter den deutschen Bergen dort unten haben unsere Kraft zerrieben. In den Nöten der Zeit, wo jeder im Trüben fischen wollte, hat man die Bundesverfassung zu einer schalen Suppe zusammengerührt. Kaiser, das ist nur noch ein Name. In der Wirrnis dieser Zeiten rissen die Landesfürsten an sich, was sie erhaschen konnten. Von Jahr zu Jahr hat die Zersplitterung des Reiches überhand genommen ... wie ein morschgewordenes Haus, so steht es da, mit geborstenen Mauern, mit zerklüftetem Dach! Wie soll es da den Sturm überstehen, den kommende Zeiten über uns bringen werden?«

»Schöttingen, du siehst zu schwarz mit deinen müden Augen. Unser Reich hat hundert Gefahren überstanden und wird sich auch der kommenden erwehren.«

»Nein, Herr ... diese Gefahr ist größer, als Ihr glaubt. Was unserem Reich in der Zukunft droht, das ist der Kampf um seinen Bestand ... was unseres Volkes wartet, das ist der Kampf um sein Leben. Was jetzt da drunten vor Pavia gegaukelt wurde, das war nur ein Vorspiel böser Zeiten, die erst kommen sollen. Und daß man den König Franz gefangen nahm, das wird nichts ändern. Was sich ausbrütet im Schoß der Zeit, ist nicht eine Fehde der Fürsten, das ist ein Krieg der Völker. Der Bauch von Frankreich möchte wachsen bis an den Rhein und deutsches Land verschlingen. Im Osten droht uns der Türkenschreck, hinter dem uns kommen wird, ich weiß nicht was. Im Süden kocht der alte Groll aus einer Zeit, in der wir dort unten die Herren waren. Der enge Norden drängt nach weiterem Leben. Von allen Seiten rückt die Gefahr auf uns ein. Und Deutschland hat keinen Freund in der Welt, nur Feinde. Wir selber müssen uns schützen, wir müssen wachsen, müssen alle Stämme in uns aufnehmen, die unsere Zunge reden, und müssen unsere zerfahrenen Kräfte sammeln, wenn uns nicht, wie die reibenden Steine das Korn zermalmen, die kommenden Zeiten zerdrücken sollen ... zu Mehl und Mutter für andere Völker. Seht, Herr, das Vorgefühl dieser Gefahr ist wie dunkle Sorge in allem deutschen Volk. Wer soll uns schützen? Die deutsche Ritterschaft? Sie hat ihre Macht verloren ... das schwarze Körnlein, das den Tod durch Panzer und Mauern wirft, hat ihre Kraft gebrochen. Und eine neue Kraft muß heranwachsen, um das Reich zu schützen.«

»Wahr, Schöttingen! Aber wo ist diese Kraft?«

»Im Volk!«

Herr Wolfgang lachte, obwohl der Ernst dieser Stunde mit fahler Blässe auf seinem Gesichte lag. »Die trunkenen Schreier da drunten? Die wollen einen tiefen Krug und eine volle Schüssel haben. Dann sind sie zufrieden. Was kümmert die das Reich!«

»Ein gefährlicher Irrtum, Herr! Was aus den Bauern schreit, als ein unverstandenes Gefühl, als ein halber Wille mit halbem Gesicht ... das schreit nicht nur in den Bauern. Das schreit auch in uns, die wir uns Herren nennen. Daß ein Wandel aller Dinge kommen, daß man ein neues Wesen erschaffen muß, um unser wankendes Reich zu stützen ... war das nicht auch das Schlagwort aller Gebildeten und aller Besitzenden im Reich? Und immer die Frage: Wer ist der rechte Mann dafür, um diesen Wandel zu schaffen?«

»Schöttingen!« Die Stirne runzelnd richtete sich Herr Wolfgang auf. »Da fehlt nur noch, daß du mir sagst: dieser rechte Mann wäre der Luther!«

»Tausende glauben, daß er die Rettung ist. Mir ist er nur einer von den vielen Namen für die gleiche Sache. Sagt: Sickingen ... und Ihr nennt einen Kämpfer für die deutsche Sache, der voreilig war und fallen mußte. Sagt: Hutten ... und Ihr nennt einen Helden der Seele, den das Feuer der Zeit verbrannte. Sagt: Münzer ... und Ihr nennt einen Thoren und Träumer. Sagt: Luther ... und Ihr nennt einen schaffenden Mann. In ihnen allen wirkte der Geist der Zeit ...«

»Den Wittenberger? Diesen Ketzergeist der Unruh und Zerstörung? Den nennst du einen schaffenden Mann?« Erregt, mit hastigen Schritten, trat der Propst dicht vor den Sessel hin und legte die Hand auf die Schulter des Greises. »Schöttingen? ... Willst du mir einen Rat geben, der mich täuschen soll? ... Bist du Martinisch?«

Mit leisem Lächeln schüttelte der Greis den weißen Kopf. »Nein, Herr! In dem Glauben, in dem ich geboren wurde, will ich sterben. Er hat mein langes Leben ausgefüllt und wird mir auch für den nahen Tod genügen. Aber weil ich ein Christ und Priester bin ... soll mich das hindern, die Zeit zu erkennen und den Wert eines Menschen zu schätzen? Achtet nicht auch ein Landsknecht den Feind, bei dem er Tapferkeit sieht und Begeisterung für seine Sache?«

»Es gab eine Zeit, in der du eine andere Meinung von diesem Wittenberger hattest!« sagte der Propst mit unverhehltem Aerger. »Seit wann denkst du so gut von ihm?«

»Seit ich seine Bibel las.«

Herr Wolfgang machte eine Bewegung mit der Hand, wie man ein Käferchen fortstreift, das auf den Tisch gekrochen.

Langsam hob der Greis die Augen. »Habt Ihr sie nicht gelesen? ... Dann lest, Herr! Und wir wollen allen Streit um die Kirche aus dem Spiel lassen ... und gar nicht reden von dem Wert, den dieses Buch für die Gesundung des christlichen Gedankens haben wird. Aber dieses Buch, Herr ... dieses Buch ist eine deutsche That! Welch eine herrliche Sprache, die es redet! Nie noch hat einer sein liebes Deutsch mit solcher Kraft geredet, mit so feierlichem Orgelklang und mit so klarer Festigkeit! Kommt die Zeit ... und kommen muß sie ... die unser Reich zu einem festen und starken Ganzen schmiedet, so wird die unüberwindliche Stärke und das stolze Leben unseres Volkes auf der Gemeinschaft aller deutschen Zungen ruhen – und diese Zukunft wird auf diesem Buch stehen, das uns Deutschen eine neugeborene deutsche Sprache gab! ... Und dieses Buch, Herr ... dieses Buch war eine That der Freiheit. Denn es schenkt der Welt die reine Lehre Christi ... und des Heilands Lehre, daß alle Menschen Brüder sind, Kinder eines Vaters ... das ist eine Freiheitslehre, die aller Knechtschaft widerspricht! Seht, Herr, da liegt der Quell des Erfolges, den dieser Wittenberger gegen Rom gewann – ein Erfolg, den ich mit jedem Tage wachsen sehe. Mit dieser thörichten Acht, die ihr aus dem Wormser Tag verkündet habt, meintet ihr den Wittenberger und seine Lehre, seine Anhänger und diese ganze Bewegung tötlich getroffen zu haben ... und ihr habt dem neuen Wesen nur neue Nahrung gegeben, daß es sich ausbreitet wie eine wachsende Flamme. Weil ihr die Zeit nicht verstehen wolltet, habt ihr sie wider euren Willen vorwärts geschoben ... auf Wege, die gefährlich sind.«

»Laß das alles!« fuhr Herr Wolfgang auf. »Ich habe dich gerufen, um mir zu raten! Aber du willst mir predigen.«

»Ja, Herr, das will ich!« Zitternd erhob sich der Greis. »Und will Euch in die Ohren schreien, was ich fürchte und was ich hoffe. Und um der ernsten Stunde willen bitt ich Euch: versteht mich nicht falsch! Laßt in Euch kein Mißtrauen gegen mich aufkommen. Ich rede nicht der Lutherei das Wort. Nein! Denn dieser ganze Kirchenstreit, das hat mit dem Himmel nichts zu schaffen, und nichts mit den Nöten unseres Volkes. Aber als deutscher Mann hat dieser Wittenberger eine Saite angeschlagen, die das Herz unseres Volkes klingen macht.«

Herr Wolfgang deutete in Zorn nach dem Fenster. »Schöne Klänge ... die da drunten!«

»Was so übel tönt, das ist nur der schlechte Geigenboden, auf dem die Herren hundert Jahre kratzten, ohne ihn zu pflegen! Aber die Saite, die ist gut! Dieser Wittenberger hat's empfunden, daß nur eines unser Volk aus den Wirren der Zeit erlöst und für den Kampf der Zukunft kräftigt: die Freiheit. Und weil er ein Mönch war, schlug er zuerst an die rostige Thür, die seiner Faust am nächsten lag. Und auch das war gut. Und hätten unsere Kirchenfürsten so deutsch empfunden, wie dieser geschmähte Mann, so wär's nicht dahin gekommen, wo wir heute stehen, und der Luther wäre nicht auf den Weg getrieben worden, den er heute geht ... wir hätten nicht diese unglückselige Spaltung, sondern eine einige Kirche, die frei und deutsch ist. Das hätte sie auch im alten Glauben sein können. Aber frei mußte sie werden – frei von Rom, das undeutsch ist und immer ein Feind des deutschen Gedankens war. Nur auf dem Boden einer freien Kirche wird sich unser Reich zu neuem Glanz und zu dauernder Kraft erheben. Die Fürsten im Norden, die haben das verstanden ... und Ihr werdet es noch erleben, Herr, welche Fülle von Kraft ihnen aus dieser freien Gemeinschaft von Thron und Kirche erwachsen wird. Wir im Süden, wir sind taub geblieben, und weil unsere Herrenohren den Ruf der Zeit nicht hören wollten, drum mußte der Schrei so laut werden, daß ihn das Volk vernahm in aller Dumpfheit seines Lebens.«

Der Propst wollte sprechen. Doch aus der Brust des erregten Greises klangen die Worte wie ein heißer Strom:

»Das Volk hat diesen Ruf verstanden, hat ihn aufgenommen mit einer Ahnung, die heller war als sein Verständnis, hat nicht geklügelt über Dogmen und Thesen, hat nicht gehadert um die Kirchenthür und um den Opferstock, hat nur empfunden: das ist ein Ruf der Freiheit, das ist ein Ruf, der deutsch ist ... das ist der Ruf, auf den wir hören müssen. Das Volk empfindet nur, versteht noch nicht, was es will ... und macht in Unverstand ein Zerrbild aus der Schönheit seines großen, deutschen Willens und glaubt, es ginge ans Raufen um den vollen Fleischtopf seines Lebens. Aber das ist Narretei! Um das Leben anders zu machen, müßten erst die Menschen anders werden, als sie sind. Aber die bleiben sich immer gleich. Sie tragen andere Kleider, stutzen das Haar oder lassen es wachsen. Doch der Kern ihres Wesens ändert sich so wenig, wie die Sanduhr, die man stürzt ... oben schmilzt der Sand und unten wächst er, doch es bleibt der gleiche Sand, die gleiche Menge. Rinnender Sand füllt die Gläser der Uhr, wie wechselnde Hoffnung das Herz der Menschen. Und nicht das Erreichen ist das beste Theil unseres Lebens, sondern die Ewigkeit des Hoffens. Wer sein Leben lang hofft, der hat sein Leben lang gewonnen. Glück des Lebens, das ist wie ein Stern, der immer nur dem Einzelnen in die Hände fällt ... und ein guter Mensch im Glück seines Herzens kann Gutes um sich her verbreiten, wie die Blume ihren Duft. Hunderte genießen davon ... und das heißen sie dann eine ›gute Zeit‹. Die kam für hundert, weil einer glücklich war. Doch jeder Kampf um das Glück der Massen ist Thorheit, ist ohne Sieg. Und der Schrei nach der goldenen Zeit des Lebens ist so alt, wie die Menschen sind, und wird erst verstummen mit dem letzten Bürger auf Erden.«

»Was soll das mir? Sage das doch den Schreihälsen da drunten! Beruhige sie ...«

Bild: A. F. Seligmann

»Ich, Herr? Nein! Das müßt Ihr thun! Das ist Eure deutsche Herrenpflicht in dieser ernsten Stunde. Und das ist mein Rat. Ihr, als Herr, müßt ihnen sagen: Euer Schrei ist gerecht, auch wenn die Thorheit des Lebens und der Irrtum der Menschen an ihm hängt, auch wenn ihr nur halb versteht, was eure Sehnsucht will. Ihr habt gehungert und schreiet nach Brod ... das Brod soll euch werden. Ihr habt den Acker gedüngt mit eurem Schweiß ... der Acker soll euer eigen sein! Ihr nähret das Feuer auf eurem Herd ... drum soll es euer Herd sein, das Heim und Erbe eurer Kinder. Euch hat Gott erschaffen, wie mich ... und unter uns Gleichen soll jener der Bessere sein, der dem Leben und seinem Volk als der Bessere dient. Aber was in euch lebendig wurde ... in euren Herzen, wie in all den Millionen Herzen des deutschen Volkes ... das schreit nach Besserem noch, als nur nach Brod und Acker. Das schreit nach einem Wandel der Zeit für uns Deutsche, nach dem freien Wachstum unseres Volkes, nach Sicherheit für das Leben unseres Namens. Unser Reich will zerbrechen ... das fühlt ihr, und das ist die schreiende Furcht in euch, auch wenn ihr sie nicht erkennt. Doch unser Reich soll blühen ... und das ist die Hoffnung, die euch aufrüttelte aus dem Elend eures Lebens. Gefahr drängt um uns Deutsche her, wie ein Rudel Wölfe um ein einsames Haus im Winter. Das fühlt ihr alle ... und fühlt, daß nur eines dieser Gefahr begegnen kann: nicht die müd und schwach gewordenen Herrenfäuste, nur die frische, zum Leben erwachte Kraft des deutschen Volkes. Wollen wir nicht zerrieben werden vom Mühlwerk der Völker, die uns umringen, so müssen die Millionen deutscher Arme werden wie ein einziger Arm. Doch ein Arm, der in Knechtschaft gebunden ist ... wie soll der schlagen können und ein Heiliges schützen? Das kann nur ein Arm, der seine Kraft in Freiheit braucht. Und deshalb, weil ihr alle das empfunden habt in den Dämmertiefen eures Herzens und im Rollen eures deutschen Blutes ... deshalb ist, als ein Wille der Zeit und als eine Ahnung des Kommenden, die Sehnsucht nach der Freiheit in euch entbronnen. Und diese Freiheit soll euch werden ...«

»Schöttingen,« sagte Herr Wolfgang mit halbem Lächeln, »was in deinem Weißkopf wirbelt, ist schöne Thorheit! Aber so zu handeln, so mit diesen schreienden Lümmeln zu reden, das wär ein Narrenstreich, der dem tollen Fastnachtsspiel der Bauern noch eine bunte Kappe aufsetzen würde.«

»Laßt Euch beschwören, Herr ... allzeit wart Ihr ein kaisertreuer Fürst, allzeit ist unser Kloster gegen Rom gestanden ... laßt mich reißen an Eurem deutschen Herzen!« Mit zitternden Händen faßte der Greis nach dem seidenen Kleid des Fürsten. »Was die Zeit verlangt von uns Deutschen, das kann das Volk allein nicht schaffen ... ein Volk, das gestern noch ein Knecht gewesen und heut im Rausch seiner Hoffnung ein trunkner Thor geworden. Wenn die Fürsten und Herren dem Volk nicht helfen, wird alle Arbeit des Volkes ein halbes Ding und nutzlos bleiben, und all der heilsame Aufruhr dieser Zeit wird in nichts zerrinnen und zu Fäulnis werden, wie Blut, das in den Sand geflossen.«

»Das wäre zu wünschen!« Ruhig streifte der Propst die schwachen, dürren Hände des Greises von sich ab. »Laß es gut sein, Schöttingen! Ich sehe nicht, was du siehst ... und deine Furcht ist nicht die meine.«

»Laßt Euch beschworen, Herr!« Die Erregung, die den Greis erfüllte, war stärker als die müde Kraft seines gebrochenen Körpers – er schlotterte an allen Gliedern wie ein Frierender, seine Stimme wollte erlöschen, und Thränen rollten ihm über das kleingerunzelte Gesicht. »Laßt Euch beschwören! Wollt ihr die Pflicht dieser Stunde nicht erkennen ... Ihr und Eure fürstlichen Brüder ... so begeht ihr ein Versäumnis, das unser Volk in hundert Jahren nicht wieder einholt! Und am deutschen Land begeht ihr ein Verbrechen, unter dem noch die Kinder und Kindeskinder unseres Volkes leiden werden.«

»Warum soll ich mich um die Enkel der Bauern sorgen ... ich, der ich keine Kinder habe? Mir genügt die Sorge für meine Zeit. Dieser tolle Rummel geht meiner Macht an die Haut, vielleicht meinem Leben. Da muß ich mich wehren, so gut ich kann.«

»Laßt Euch warnen, Herr! Wollt Ihr nicht dazuthun, um den Sturm dieser Zeit auf gute Wege zu lenken und von ihm abzulösen, was ihm als Thorheit anhängt ... Herr, dann werden Zeiten kommen, vor denen Euch grausen soll! Ich sehe sie voraus mit meinen alten Augen. Ein Schwertstreich geht durch die deutschen Lande, ein blutiger Wehschrei füllt die Lüfte, rote Feuersäulen färben den Himmel und leuchten einer zügellosen Verwüstung, und über Schuld und Unschuld geht das Verderben hin. Aber das Feuer, das diese Zeit entzündet, wird erlöschen und wird nicht Raum geschaffen haben für neuen Bau, wird nur zerstört und verdorben haben, was Gutes hätte wachsen können ...«

Dem Greis zerbrach die Stimme. Und von der Schwäche seines Alters überwältigt, fiel er auf den Sessel hin und weinte in die Hände wie ein Kind.

Dieser Anblick schien den Fürsten zu erschüttern. Schweigend ging er durch das Zimmer, trat auf das Fenster zu und blickte hinunter auf den Anger, von dem der wachsende Lärm heraufrauschte wie das Toben eines im Gewitter schwellenden Wildbaches.

Mit roter Stirne wandte sich Herr Wolfgang vom Fenster ab und schüttelte den Kopf. »Nein, Schöttingen! Auch wenn ich wollte ... wenn ich der gute Thor wäre, wie du ... ich kann nicht! Und darf nicht! Die Pflicht meiner Stellung bindet mir die Hände. Und was könnt ich da ausrichten? Ich allein? Das ist wahr: das Volk hat unter schwerer Bedrückung zu leiden. Aber nicht nur der Bauer ist überlastet mit Steuer und Zins. Auch Fürsten und Edle haben Ursach, über Beschwerung zu klagen. Wie sollen wir dem Kaiser geben, wenn wir nicht dem Bauer nehmen. So machen es alle Herren. Das kann ich nicht ändern, auch wenn ich wollte. Ich muß handeln wie die andern.«

»Herr ...« Schöttingen ließ die Hände sinken und hob das Gesicht, das noch kleiner und runzliger geworden schien, als es zuvor gewesen. »Herr ... die Botschaft der Liebe wäre nie in die Welt gekommen, wenn Christus gedacht hätte: ein Pharisäer macht es wie der andere, dagegen komm ich nicht auf, da muß ich schweigen.«

»Das ist ein Gleichnis für die Kanzel, nicht für meine Stube. Und die deutschen Fürsten sind keine Pharisäer, und der Propst zu Berchtesgaden kann nicht ein Heiland sein.«

»Aber er kann seinem Land und seinem Volk die Gerechtigkeit geben, die nach des Heilands gütigem Geiste ist. Und was dann kommen wird, das kann er als Christ und Priester dem lieben Herrgott anheimstellen.«

»Was dann kommen würde, das kann ich mir auch ohne den Herrgott ausrechnen: wir hätten in vier Wochen nichts mehr zu leben, und die Bauern würden den Spieß umdrehen und uns die Haut über die Ohren ziehen. Kämen mir die Leute mit schicklicher Ehrfurcht entgegen, so ließe ich vielleicht manches mit mir reden ... und würde manchen Herrenbrauch abstellen, den ich selbst als ein Unrecht erkenne. Fron und Scharwerk könnte gemildert werden, mit Ausnahme der Jagdfron, denn ich brauche die Leute beim Hetzen. Verdient einer ein schönes Stück Geld, dem könnte man's zugestehen, daß er sein Lehen als Eigentum erwirbt. Da ginge Geld ein, mit dem wir unsere Schulden decken könnten. Aber ganz auf Zins und Steuer verzichten, gerade jetzt, wo der Kaiser von uns Fürsten den fünften Theil aller Einkünfte als Rüstungsbeitrag gegen inländische Rotten, gegen Lutheraner und Türken erhebt ... das ist unmöglich! Und auf die Fischenz verzichten ... damit uns der Bauer den letzten Ferchenschwanz aus Seen und Bächen holt? Nein! Wie sollten wir da unsere vielen Fasttage halten können? Und den Wald freigeben? Das Wild? Daß ich nimmer durch meine Wälder reiten könnte, ohne eine Schlinge zu finden, in der sich ein Hirsch verzappelt? Nein! Der Bauer soll seinem Ochsen den Schwanz drehen, aber meine Hirsche soll er in Ruhe lassen!«

»Herr!« stammelte der Greis erschrocken. »Gilt denn das Leben des Volkes und das Wohl des Reiches weniger als ein Hirsch?«

»Schöttingen!« Das Wort hatte scharfen Klang. Und Herr Wolfgang richtete sich auf. »Du scheinst zu vergessen, mit wem du redest!«

»Ich bitt Euch, Herr ...«

Da trat der Waffenmeister der Klosterknechte in das Zimmer, klirrend von Eisen. »Gnädigster Fürst! Das Ding auf dem Anger drunten nimmt ein grausliches Wesen an. Ein Späher ist eingelaufen. Der schätzt den Haufen der Bauren auf Anderthalbtausend. Und den Schmiedhannes haben sie zu ihrem Hauptmann gewählt ...«

»Den Schmiedhannes?« unterbrach der Fürst mit raschem Wort.

»Ja, Herr! Die Göhlbauren und die von der Gern, die wollten den Bruder der roten Maralen zum Hauptmann haben. Aber die Thalbauren, die Berchtesgadner Gewerksleut, die Ramsauer und Untersteiner haben den Hannes gewählt ... und der Späher sagt: der Schmiedhannes wär's gewesen, der heut in der Nacht die Feuer hat zünden lassen.«

Herr Wolfgang schüttelte den Kopf, als wäre das eine Nachricht, die ihm nicht glaubhaft schien. »Der Schmiedhannes?«

»Ja, Herr! Man hört ihn schreien wie einen Stier, vom Anger bis zur Mauer herauf. Und draußen auf dem Marktplatz hat sich von den Spindeldrechslern und Löffelschneidern ein Hauf zusammengethan. Der bricht in die Läden der Kaufleut ein und plündert dem Weitenschwaiger sein neues Haus. Soll man auf die Rottierer schießen lassen?«

Der Fürstpropst hieß den Waffenmeister mit einer Handbewegung schweigen und sagte zum Dekan: »Ich habe deinen Rat gehört. Und verkenne deine gute Meinung nicht. Jetzt will ich thun, was ich für das klügste halte.«

»Herr!« Flehend streckte der Greis die zitternden Hände nach dem Fürsten.

»Du kannst gehen. Diese Stunde hat dich über deine Kraft erregt. Jetzt gönne dir Ruhe!« Herr Wolfgang lächelte. »Ich hoffe für den Aufruhr dieses Tages einen Wandel zu schaffen, der dir die träumerische Muße in deiner Zelle nicht allzugröblich stören soll.«

Mit traurigen Augen, an deren geröteten Lidern noch die Thränen hingen, sah der Greis den Fürsten an. Dann nickte er – und ging mit schlürfenden Sohlen zur Thüre.

Ein schriller Pfiff des kleinen Affen gellte durch das Zimmer.

»Schweig, Satanas!« rief Herr Wolfgang. Er trat an das Fenster und stand eine Weile in Gedanken. Dann wandte er sich lächelnd an den Waffenmeister. »Schießen? Nein! Wir wollen unser Pulver sparen. Laß nur den guten Leuten auf dem Marktplatz draußen ihr Vergnügen. Der Weitenschwaiger hat reichlich Fett angesetzt ... dem wird's nicht schaden, wenn er ein paar Tröpflein schwitzen muß. Und schick einen Mann mit der weißen Fahn hinunter ins Geläger der Bauern. Der soll den Schmiedhannes fragen, ob die Bauern willig sind, friedliche Zwiesprach mit ihrem Fürsten zu halten. Dann komm ich hinunter zum Anger.«

»Herr! Das ist ein gefährliches Fürhaben! Die Leut sind rauschig wie Narren in der Fasnacht.«

»Ueberlaß es mir, die Gefahr zu ermessen, in die ich mich begebe. Herr Pretschlaiffer und der Sekretarius sollen mich begleiten. Und zehn Doppelfässer vom schwersten Wein, den wir im Keller liegen haben, soll man hinunterollen auf den Anger ... und soll den Bauern sagen: das schickt ein guter Fürst seinen lieben Kindern!«

Der Waffenmeister sah den Fürsten an und schmunzelte. Ohne Widerrede ging er, um den Befehl seines Herren auszuführen. Ein wirrer Lärm empfing ihn im Hof des Stiftes. Kloster und Welt, Männlein und Weiblein waren da bunt durcheinandergewürfelt: Chorherren und die Frauen der Beamten, dienende Brüder und die Weiber und Töchter der reichen Bürger, die sich vor dem Aufruhr hinter die Mauern des Stiftes geflüchtet hatten. Der ehrenfeste Weitenschwaiger, dem draußen das Haus geplündert wurde, stand mit aschfahlem Gesicht in erregtem Gespräch mit dem Landrichter zusammen. Fast auf allen Gesichtern war die Angst zu lesen. Nur ein paar der jungen Domicelli hatten ihre übermütige Laune bewahrt und scherzten mit den hübschen Mädchen.

Als der Waffenmeister kam, wollten sie alle wissen, was der Fürst beschlossen hätte.

»Die Bauren lustig machen!«

Der Landrichter und der Edle von Hirschau, der mit zitternder Hand an seinem Bärtchen zwirbelte, mußten zum Propst hinauf. Und im Hof begann man gleich die Arbeit, um die schweren Fässer aus dem Keller zu heben. Das gab einen Lärm: als die Chorherren erfuhren, daß der alte goldklare Rechberg, der die Tafel des Stiftes nur an hohen Festtagen schmückte, in die Gurgeln der ›Ackertrappen und Roßmucken‹ rinnen sollte.

Draußen im Laienhof waren die Waffenknechte versammelt, die nicht Dienst auf der Mauer hatten, an die dreißig Armbruster mit ihren Wehren, Hakeniere mit den geladenen Büchsen, Spießknechte und Eisenreiter, deren Pferde gesattelt vor den Stallthüren an die Mauerringe gebunden waren.

Die Spießknechte schützten das Thor, als man den kleinen Ausschlupf für den Waffenmeister öffnete, der mit der weißen Fahne, von zwei Kirchenwächtern begleitet, einen bitteren Weg begann. Kaum waren die Drei auf den Marktplatz hinausgetreten, als sie schon von einem Schwarm erregter und schreiender Weiber umringt wurden. Ein Regen von Hohn und Schimpf ging über die drei Männer nieder – und die Ruefin, die mit ihrem erhitzten Gesicht und dem zerrauften Haar wie eine Irrsinnige aussah, warf den Kirchenwächtern den Straßenkot ins Gesicht und kreischte: »Wildpret! Wildpret! Möget ihr wieder Wildpret fressen, ihr Schandbäuch und Klostersäck!« Ein Häuflein Männer legte sich ins Mittel und umringte die drei Klosterleute, damit sie ungefährdet zum Hauptmann auf den Anger kämen. Krampfhaft schwenkte der Waffenmeister immer das weiße Fähnlein und schielte dabei nach den drohend erhobenen Fäusten der Schreier und guckte zum schönen neuen Haus des Weitenschwaigers hinauf, aus dem man den Lärm der Plündernden hören konnte – allerlei Hausgerät kam aus den offenen Fenstern geflogen, und johlendes Gelächter begleitete das Krachen, mit dem die hölzernen Gerätstücke auf der Straße zerschellten.

Je näher die Drei mit ihrer Geleitschaft dem Anger kamen, um so brausender wuchs der Lärm, der ihnen entgegenscholl. Es war das gleiche Bild, wie es der Morgen zu Schellenberg gesehen hatte: ein Gewimmel abenteuerlich bewaffneter Menschen, alle wie am Abend einer trunkenen Kirchweih, ein Hopsen und Jauchzen, ein Singen und Schreien, in dem man kaum noch die Weisen der saftigen Lieder unterschied, die da gesungen wurden.

Gegen die Mitte des Angers war im Gedräng ein freier Raum. Da saß der Schmiedhannes im lachenden Glanz seiner Hauptmannswürde auf einem Sessel, über den ein roter Mantel gebreitet lag. Hannes trug einen blank gescheuerten Kyrriß, auf dem Kopf eine Stahlhaube, war mit einem Schwert gegürtet und stützte sich mit beiden Händen auf einen Streitkolben, der in die Faust eines Goliat getaugt hätte. Vor dem Sessel waren zwei Speere in die Erde gesteckt, ein dritter war quer darüber gebunden – und jauchzend schritten und tanzten die Bauern, einer nach dem andern, durch das Thor dieser Speere und schrieen: »Ich schwör zur Freiheit, ich schwör zu den heiligen Artikeln, ich schwör zum Hauptmann!«

Bild: A. F. Seligmann

Seitwärts von den Speeren, inmitten des wirren Geschreis, stand in erregtem Gespräch eine Gruppe von Männern beisammen, aus deren Gesichtern die Sorge redete – unter ihnen der alte Witting, mit verstörten Augen und mit der Röte des Zornes auf der Stirne. Er sprach und sprach, jeden von den Männern faßte er an den Armen, an den Schultern, am Wams, als möchte er jeden, zu dem er redete, mit Gewalt aus dem Narrenrausch dieses Morgens aufrütteln. Und die Männer gaben ihm recht, aber jeder meinte: da wäre nichts mehr zu machen, der Schmiedhannes hätte das alles in der Heimlichkeit so angezettelt, hätte die Brüder vom roten Fädlein und die Josefs-Brüder über die Halbscheid für sich gewonnen, hätte in der Nacht die Feuer angezunden, weil es gestern die Reichenhaller so gemacht hätten, und jetzt wäre der Hannes der von der Bauernschaft gewählte Hauptmann, und wer sich dagegen auflehne, der könne tausend Fäuste über seinem Haardach sehen. Während die Männer noch redeten, hörte man durch allen Lärm die brüllende Stimme des Schmiedhannes:

»Witting! ... Wo ist der Witting?«

Bleich, die Fäuste ballend, richtete sich der alte Bauer auf. »Ich bin, wo ich bin. Was willst von mir?«

»Vierzehnhundert sind durch die Spieß gegangen. Die Schellenberger, die fehlen noch. Aber von den Bauren, die auf dem Anger sind, bist du der letzt! Thu deinen Schwur! Geh durch die Spieß!«

»Durch die Spieß, die du gesteckt hast, geh ich nicht! Ich müßt der Freiheit ein Feind sein, wenn ich's thät.«

In Sorge, daß ein übler Streit entstehen könnte, zogen der Etzmüller und der Meingoz den Alten mit sich fort, hinein in das Gedräng der andern. Und Witting, dem in Erregung die Stimme fast versagte, sah mit verzweifeltem Blick zum Meingoz auf und keuchte: »Nachbar, Nachbar ... ich könnt noch ein Wörtl sagen ... gegen den Hannes ... und thät aus Lieb zu der Bauren guter Sach meine Seel verlieren, wenn ich das Wörtl beweisen könnt! Ich sag dir, Nachbar ...« Da sah er, was ihm die Thränen in die Augen trieb. Und aus seiner Kehle brach es mit einem Schrei, den der Schmerz erwürgte: »Lenli!«

Zu Füßen einer kleinen Ulme, durch deren Gezweig die Frühlingssonne ihre Strahlen wob, saß Maralen auf einem Stein, in ihrem ausgefransten Kleid, die Zöpfe ihres schimmernden Haares auf die Schultern niedergerissen, mit starren Augen, mit dem Gesicht einer Toten. Die zitternden Hände wühlten im Tuch der schwarz-rot-gelben Fahne, die zerknüllt in ihrem Schoße lag – sie hatte diese Fahne in den vergangenen Nächten umsonst genäht, denn jede Gnotschaft, die von Unterstein, von der Schönau, vom Taubensee, von Ramsau und von der Strub, jede war am Morgen schon mit ihrem eigenen Fähnlein angerückt, und jede wollte die schönen Farben, die sie gewählt hatte, auch behalten. Wenn im Gedränge der schreienden Menschen eines von den vielen Fähnlein an der Ulme vorübergetragen wurde, konnte Maralen die grellen Tücher flattern sehen im Wind des Morgens.

Doch sie schien nicht zu sehen, schien nicht zu hören. Sie saß, als wäre sie einsam, als wäre Stille um sie her, und menschenleere Oede. Und keiner kümmerte sich um sie. Hunderte, die den Schwur in ihre Hand gethan, Hunderte, denen sie das rote Fädlein um den Hals gebunden, drängten mit Geschrei und Lachen an ihr vorüber, im gedankenlosen Freiheitsrausch dieses Morgens.

Sie schien auch den Vater nicht zu sehen, als er vor ihr stand. Er mußte ihren Namen schreien, mußte die Faust in ihre Schulter klammern, bevor sie aufblickte.

»Lenli! Lenli! So schau doch die Narren an! Was sagst! Und der Hannes ist Hauptmann!«

Da stand sie auf. Mit zuckenden Händen riß sie die Fahne in Fetzen. »Heut hat mein Josef sterben müssen!« Ganz heiser war ihre Stimme – so viel geredet hatte sie an diesem Morgen, so viel gemahnt, so laut geschrieen in ihrem Zorn. »Heut, Vater! Und nicht am Kathreinstag! Und sein warmes Blut ist in den Kot geronnen, und keine Blum wird wachsen draus!« Ein hartes Lachen erschütterte ihre Brust. »Joß Friz, wo bist!« Dann nahm sie die Hände des Vaters, »Komm! 's ist besser, wir gehen heim und legen der Kuh ihr dürres Futter auf!«

Der Meingoz, der Etzmüller, der Frauenlob und sein Bub, die wollten die beiden noch zurückhalten. Doch Witting, das Wasser in den Augen, schüttelte den Kopf – und hielt die Hand seiner Tochter umklammert – und kämpfte sich einen Weg durch das lustige Gedräng.

Einer, der die Josefsmünze am Hals trug, klatschte lachend die Hand auf Maralens Schulter: »Gelt, Schwester, jetzt haben wir unser Freiheit!«

Maralen hob die Hand und riß ihm das rote Fädlein vom Hals.

Am Saum des Angers, als das Gedränge schon dünner wurde, begegnete ihnen der Dürrlechner, so seelenvergnügt wie einer, der einen tiefen Schoppen über den Durst getrunken. Und lachte: »Gelt, Witting? Mit deiner ewigen Angst und Fürsicht, du! Merkst es jetzt, wie die Bauren zum Fähnlein springen!«

»Ja, ich merk's! ... So spring, du Karpf!«

Sie kamen ins Thal der Ache. Hinter ihnen war der Lärm wie rauschender Sturm – und Geschrei kam über die Straße herunter, die zum Kloster führte. Man sah einen Wagen, mit großen Fässern beladen, und an die hundert Menschen drängten sich um die Pferde und um das Gefährt, dessen Räder mit ihrem Gerassel auch den brausenden Stimmenlärm noch übertönten.

Bild: A. F. Seligmann


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