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Bild: A. F. Seligmann

5.

Durch ein Thürlein in der Rückwand der Scheuer waren Witting und Joß Friz in die Nacht hinausgetreten. Man hörte noch die Flüchtenden durch den Garten springen und hörte am Flechtzaun ein Gerappel, als wäre einer, dem der Weg bis zum Thor zu weit geschienen, über den Hag geklettert.

Nun standen die beiden am Waldsaum. Tief drunten auf dem Berghang sahen sie den Fackelschein im Gehölz und hörten ferne Stimmen.

»Thäten's die Klosterleut sein, die thäten doch nicht so schreien?« flüsterte Witting. »Aber schnell, Joß! Eh die herauf kommen, sind wir in meinem Lehen. Und da bist sicher.«

Sie sprangen an den Zäunen der stillen Gehöfte hin und erreichten das Thor, als ein paar hundert Schritte unter ihnen der Fackelschein und das Lärmen herausquoll aus dem Wald. Zweimal, und wieder zweimal pochte Witting. Da that sich auch das Thor schon auf. »Vater?« flüsterte Maralen, deren Gestalt man in der dunklen Nacht kaum unterschied.

»Ja, Lenli, ich bin's! Und da ist ein Mann, den führ ins Haus und birg ihn!«

Schon eilte Maralen mit dem Schwaben dem Hause zu. Da hörte Witting, als er das Thor schließen wollte, deutlich die Stimmen des näher kommenden Menschenhaufens – und was er hörte, ließ ihn rufen: »Joß! Komm her!«

Der Schwabe kam zurück, und Witting öffnete das Thor. »Da, lus!« Man hörte scheltende Männerstimmen, lautes Beten dazwischen und den kreischenden Jammer einer Dirn. »Da, lus! Ein erschlagener Mann und eine heulende Magd, das sind die Reisigen, vor denen die zwanzig Ferchen so mutig gesprungen sind.«

Umzittert vom lodernden Schein zweier Fackeln und umwirbelt vom Rauch des Peches, zog der lärmende Trupp am Zaunthor vorüber. Auf Stangen brachte man einen toten Bauernknecht getragen – im Rausch und aus Eifersucht hatte er im Leuthaus zu Berchtesgaden Streit mit einem Klosterjäger begonnen, und der Jäger hatte ihm den Hirschfänger durch den Leib gerannt.

Als der Trupp vorüber war, lehnte Witting das Thor zu. »Wart, Joß, ich will dich führen und hol ein Kienlicht.« Er ging ins Haus und kehrte mit einer brennenden Fackel zurück. »So, jetzt komm!«

Langsam, ohne weiter noch ein Wort zu reden, stiegen sie in der stillen Nacht den rauhen Waldhang hinunter, Witting voraus mit erhobener Fackel. Da sprang vor ihnen aus dichtem Gebüsch ein Mensch heraus, schwarz eingehüllt in einen Mantel mit großer Gugel. Wie ein Wild, hinter dem die Hunde sind, flüchtete der Mann mit langen Sprüngen in die Finsternis des Waldes.

»Von den Ferchen einer!« Witting lachte. »Schau nur, Joß, wie er springen kann! Der hat uns für Spießknecht genommen, die ihn suchen.«

Unter den Sprüngen des Flüchtenden krachten die Äste im Wald, und die Steine kollerten. Er rannte und rannte, stürzte zu Boden, überschlug sich und raffte sich keuchend wieder auf. Rasselnd ging ihm schon der Atem zu Ende, und immer noch rannte er und rannte. Er hielt erst inne in seiner Flucht, als er die Straße im Thal erreichte. Während er zitternd stand und die Fäuste auf seine Brust drückte, wandte er das von der schwarzen Gugel verhüllte Gesicht bald die Straße hinunter gegen das Thal der Ache, bald die Straße hinauf gegen das Kloster, dessen Dächer vom Schein der Pfannenfeuer, die in den Höfen brannten, matt erleuchtet waren. »Teufel, Teufel ... wenn ich nur wüßt ...« Er wandte das Gesicht nach der Bergseite, von der er gekommen war – und wieder gegen das Kloster. Seine Fäuste fuhren unter dem Mantel hervor, als hätten sie nach einem Entschluß gegriffen. »Und ich thu's! Ich thu's! Ein jeder ist sich selber der nächst!« Er sprang über die Straße hinaus, die steilen Wiesen hinunter, schlug unten im Thal einen weiten Bogen und rannte die Straße hinauf, die von der Südseite gegen das Marktthor des Klosters führte. Kein Mensch begegnete ihm auf der Straße, die Häuser lagen still und mit schwarzen Fenstern. Nur ein einziges Fenster hatte Licht, das Fenster in der Wärtelstube des Klosters. Schon griff der Mann nach dem Klöppel, der an den Bohlen des Thores hing. Doch er besann sich wieder, als wäre ihm ein lauter Hall nicht lieb. Sich dicht an die Mauer drückend pochte er leis an die trüben Rundscheiben der Wärtelstube.

Man hörte in der Stube eine Knabenstimme: »Märtel! Wach auf! Es hat einer gepocht.«

Das kleine Fenster wurde aufgethan. »Wer ist da?«

»Einer, der dem Kloster freund ist!« klang es mit einer Stimme, der man die Verstellung anhörte. »Trag deinem gnädigsten Herrn eine Botschaft zu! Ins Land ist einer gekommen, auf den ein Kopfgeld von tausend Gulden gesetzt ist. Joß Friz heißt er und ist von den rechten Ursächern des Bundschuhs einer. Und werben thut er. Und Martinisch ist er. Und der Salzmeister Humbser muß wissen, wo er hauset. Der hat ihn eingedinget unter dem Namen Häfler-Basti.«

Ein Fluch. Und der Wärtel streckte den Kopf zum Fenster heraus. »Mensch! Wer bist?«

»Das mußt nicht wissen! Habt ihr den Vogel eingefangen, so komm ich schon und hol mir ein goldenes Federlein auf den Hut. Wenn einer kommt und sagt: ›Dem Kloster treu und meinem Herrn‹ ... so bin ich's! Gut Nacht!« Und mit hastigen Sprüngen eilte der Mann im Mantel davon.

»Mensch! Zum Teufel, so bleib!« rief der Wärtel, rannte aus der Stube, öffnete das Thor und spähte in die Nacht hinaus. Aber die Straße war leer, der Mann verschwunden. »Ist das ein Possen oder ist das Ernst?« Der Wärtel lief in die Stube zurück. Da stand ein fünfzehnjähriges Bürschlein, von den Troßbuben des Klosters einer, zitternd vor Schreck und so bleich wie die Wand. Aber der Wärtel hatte nicht Zeit, um des Buben zu achten. Hastig brannte er an der Talglampe ein Windlicht an. »Mach das Thor zu, Ruppert! Ich muß zum Herren hinauf!« Er eilte davon.

Der Bub sprang in die Thorhalle, sah zitternd dem Wärtel nach, und als er das Windlicht im Innenhof des Stiftes verschwinden sah, rannte er zum Thor hinaus, über den Marktplatz hinüber und auf die kleine Drechslerhütte zu, die neben des Weitenschwaigers neu erbautem Hause stand. Mit aller Kraft riß der Bub an einem der kleinen Fenster den Laden auf und durchschlug mit der Faust das Oelpapier, das den Fensterrahmen überspannte. »Was ist denn?« klang in der Stube eine erschrockene Stimme.

»Ich bin's, der Ruppert!«

»Was willst?«

»Lauf, Zawinger ... zum Bruder Humbser hinauf ... sag ihm, die Spießknecht kommen!«

»Du guter Heiland! Bub, was ist denn?«

Die Frage fand keine Antwort mehr, denn Ruppert rannte schon wieder dem Kloster zu. Atemlos erreichte er die Halle und schloß das Thor. Da kam auch schon der Wärtel zurück mit dem Kammerdiener des Propstes, um den Knechten die Weisung zu bringen. Die Leute waren schnell bereit – sie hatten in ihren Kleidern auf den Pritschen der Wachtstube geschlafen. Sechs Spießknechte und zwei Handrohrschützen wurden ausgeschickt. Sie rückten über die Straße hinunter, die zum Thal der Ache führte. Einer der Spießknechte, der voranmarschierte, trug eine Laterne mit geschlossenen Blenden. Und zwei glimmende Funken wanderten mit ihnen: die Luntenglut der beiden Schützen.

Als sie die Achenbrücke überschritten hatten und auf dem jenseitigen Berghang durch ein finsteres Gehölz hinaufstiegen, blieb der Führer der Leute plötzlich stehen. »Mir ist, als wär grad einer über den Weg gesprungen, der von droben gekommen.« Sie lauschten, aber man hörte keinen Laut im Wald. »Wird ein Wild gewesen sein.« Sie stiegen weiter. Das Gehölz lichtete sich und that sich gegen eine Wiese auf. Ein paar hundert Schritte hatten sie noch zu steigen bis zum Haus des Salzmeisters, von dessen Garten man schon die schwarzen Baumkronen unterschied. Höher auf dem Berghang hörte man Stimmen, durch die Ferne gedämpft, und sah den gaukelnden Schimmer kleiner Lichter. Dort oben lag der Eingang eines Salzschachtes – und es war Schichtwechsel zur Mitternacht.

»Flink!« meinte der Führer. »Wir müssen fertig sein, eh die Knappen kommen.« Bei der Hast mit der sie stiegen, überhörten sie ein leises Geräusch – es klang wie das matte Ächzen einer Thür, die man langsam öffnet.

Nun erreichten sie die Ecke des Gartens und theilten sich. Ein Spießknecht mit einem Schützen umging die Hecke, um die Rückseite des Hauses zu verlegen, und während vier Knechte das Gehöft betraten, blieb der Führer mit dem anderen Schützen an der Thalseite des Gartens zurück. Er stand geduckt und spähte nach allen Seiten in das Dunkel. Die dichten Stauden des Gartens verwehrten ihm den Blick gegen das Haus. Nur an der aufglimmenden Helle konnte er merken, daß die Knechte im Hof ihre Fackel anbrannten. Deutlich hörte er das Pochen, das Öffnen der Hausthür und die wechselnden Stimmen.

»Was wollet ihr, Leut?«

»Eine Frag thun in unseres Herren Namen.«

»So fraget!«

»Das wollen wir thun in deiner Stub.« Der Lichtschein verschwand, und die Thüre wurde geschlossen.

Da hörte der Führer ein Rascheln im welken Laub der Gartenhecke. Rasch vorspringend gegen den Weg, schlug er die Blenden der Laterne auf und sah einen Mann in der Tracht der Salzknappen hastigen Schrittes über den Weg hinaufsteigen. »He, du! Bleib stehen, oder das Handrohr schreit dir ein Wörtl nach!« Der Mann gehorchte und wandte im Schein der Laterne langsam das Gesicht. Es war Joß Friz. Ruhig lächelnd ließ er die beiden an sich herankommen.

Der Führer hob die Laterne. »Wer bist?«

»Ein Schlepper im Salzwerk.« Joß lachte. »Und wenn ich anzieh, geht der Karren vom Fleck.«

»Wie kommst da her, so gählings?«

»Über den Weg da komm ich her, vom Thal herauf. Ich wohn da drunten am Bach.«

»Ich hab dich laufen sehen. Warum mußt laufen?«

»Weil ich Eil hab. Es ist Mitternacht und meine Fahrt hebt an. Verpaß ich die, so thät's mir übel gehen. Die Herren sind streng.« Das sagte Joß wie einen Scherz.

Der Führer hob ihm die Laterne näher zum Gesicht. »Dich hab ich noch nie gesehen. Komm mit herein zum Salzmeister! Der soll ausweisen, wer du bist.«

»Wohl, ich komm schon,« sagte Joß. Im gleichen Augenblick aber schlug er mit der Faust dem Führer die Laterne aus der Hand und sprang in die Nacht hinaus.

»Schütz! Brenn los!« kreischte der Führer und raffte die Laterne vom Boden auf. Sie war nicht erloschen, und ihr Schein glitt hinter dem Flüchtenden her. Der Schütz hatte das Rohr gehoben, auf der Pfanne flammte das Pulver auf, und krachend zuckte der Feuerstrahl des Schusses in die Nacht. Der Fliehende taumelte und brach in die Kniee – »Den hat's!« lachte der Schütz und begann das Rohr wieder zu laden – aber da raffte sich Joß wieder auf und sprang gegen den Saum des Gehölzes. Doch plötzlich sah er seinen Weg verstellt, und in dem matten Licht, das die Laterne noch herwarf über die Wiese, funkelte vor seiner Brust die Klinge einer Hellebarde. »Gott steh mir bei!« Mit der Linken griff er nach dem Spieß, in seiner Rechten zuckte das Messer, das er vom Gürtel gerissen. Ein dumpfer Schrei scholl in die Nacht, man hörte den Fall eines schweren Körpers, das Klirren von Eisen – am Waldsaum krachte ein Schuß – und als der Führer mit der Laterne und mit blanker Wehr herbeigesprungen kam, hörte er die Flüche des anderen Schützen, dessen Rohr noch rauchte, und fand den Spießknecht, der die Bergseite des Gartens behütet hatte, als stillen Mann auf der Erde liegen, mit einem gurgelnden Blutquell am Hals.

Joß Friz war im Wald verschwunden.

Zwei von den Knechten, die ins Haus getreten, kamen gelaufen, und da standen sie zu fünft um den Toten her und schwatzten im Zorn und mit Flüchen ratlos durcheinander. Sie sahen ein, daß es ein zweckloses Beginnen wäre, eine Verfolgung in dem finsteren Gehölz zu versuchen. »Der lauft nimmer weit,« meinte der Schütz, der den ersten Schuß gethan, »ich hab mit einer Kugel geschossen, die den Brand macht.« Lichter gaukelten über den Berg herunter, und Stimmen kamen näher. »Ins Haus!« gebot der Führer und löschte die Laterne. »Tragt den Toten unter Dach, eh die Knappen kommen! Und lasset den Salzmeister mit keinem Schritt aus der Stub. Ich lauf hinunter zum Herren, daß er die Nacheil aufbietet.« Er wartete noch, bis sie den Toten aufgehoben hatten, dann eilte er thalwärts, heim ins Kloster.

Eine Stunde verging.

Da wurde auf dem Thurm des Münsters eine Glocke geschlagen. Wie Feuerlärm begann es und wurde ein hastiges Läuten – es war das Glockenzeichen der ›Nacheile‹, ein Zeichen, das alle Straßen an den Grenzen des Thales schloß. In das Läuten des Münsters fiel die Glocke der Pfarrkirche ein und von überall antworteten die hallenden Thurmstimmen, von der Kapelle im Schellenberger Thal, vom Kirchlein zu Unterstein, von der Kapelle zu Ilsank und von der hochgelegenen Grenzhut gegen Hallein.

Auf der Thalbastei der Klostermauer wurde die Lärmschlange gelöst. Wie schwerer Donner dröhnte der Schuß, und über alle Berge rollte der Widerhall. Fast eine Viertelstunde verging, ehe man den Antwortschuß vom Hallthurm an der Reichenhaller Grenze vernahm. Von dem Schusse, der in der Burghut am Hangenden Stein hinter Schellenberg gelöst wurde, hörte man nur ein brummendes Echo von den Felswänden des hohen Göhl.

An den Häusern öffnete sich kein Fenster, keine Thüre. In allen, die das Läuten und Dröhnen hörten, war die Sorge größer als die Neugier. In ihren finsteren Stuben, in ihren Betten flüsterten sie und fragten sich: »Was hat's gegeben?« Und in Hunderten war die scheue Angst: »Komm ich nicht mit hinein?«

Die Glocken schwiegen. Überall wieder die Stille der Nacht. Nur im Leuthof des Klosters war's lebendig, und der rote Schein der geschürten Pfannenfeuer glomm hoch am Thurm des Münsters hinauf. An die Dreißig rückten aus, zu Pferd und auf Maulthieren, zu Fuß und mit den Schweißhunden an der Koppel. Im ersten Grau des Morgens begannen sie die Suche und fanden eine Blutspur, die sich im Wald verlor. Die Hunde hielten noch eine Strecke weit die Fährte, dann fingen sie zu irren an und jagten auf frisch begangenen Wechseln dem Hochwild nach.

Als die Dämmerung sich dem Tage löste, führte man den Salzmeister Humbser mit gebundenen Händen aus seinem Haus. Der Mann war bleich, doch ruhig. Auf Stangen trugen sie ihm den toten Knecht voran.

Sie mußten an des Schmiedhannes Werkstätte vorüber, die bei der Achenbrücke lag.

Der Schmied war schon bei der Arbeit und hämmerte auf ein glühendes Hufeisen los, während der jüngste Bub des Dürrlechners neben dem Ambos stand, mit einem mageren Gaul am Zügel.

»So red doch, Hannes! Was meinst denn, daß es gegeben hat heut nacht, weil sie zur Nacheil gelärmt haben?«

Der Schmied hämmerte. »Red nicht so laut! Draußen auf der Straß hör ich Leut kommen.«

Die Stimme zu leisem Geflüster dämpfend, fragte der Bub: »Meinst, daß der Jäger flüchtig worden ist, der den Knecht erschlagen hat?«

»Wen erschlagen?«

»Ja weißt denn nichts?«

»Was soll ich denn wissen?«

»Der reisige Haufen, vor dem die Mannsleut gestern all davon gelaufen sind, das ist ein toter Knecht gewesen, den sie gebracht haben. Ein Jäger hat ihn im Rausch erstochen.«

Der Schmied ließ den Hammer ruhen und sah den Buben mit verdutzten Augen an. Dann lachte er rauh. »Die Hasenblüter!«

»Bist ja du auch gelaufen!«

Hannes streckte sich in seiner ganzen Größe. »Gelaufen! So eine Narretei! Gesichert hab ich mich halt ... weil ich mich aufheben muß für die richtige Stund.«

Da gingen sie draußen mit klirrenden Waffen vorüber – und der Schmied fing mit dem Hammer zu dreschen an, daß es klang und tönte. »Heiliger Christ! Schau, Hannes,« stammelte der Bub, »da tragen die Spießknecht einen Toten.«

Aber der Schmied war ohne Neugier und hämmerte: »Schau dich nicht um! Sei froh, daß du lebst!«

»Und schau nur, schau, den Humbser führen sie gebunden dem Kloster zu!«

Nun rastete der Hammer, und langsam wandte Hannes das Gesicht. »Was der ... versündigt haben muß?« Die Worte lösten sich zögernd von seinen Lippen. »Ist allweil so ein rechtlicher Mann gewesen ... der Humbser ...«

»Es ist halt so!« Mit einem Blick des Grauens nickte der Bub vor sich hin. »Einmal kommt der Scherg über jeden, ob's ein guter Mensch ist oder ein schlechter.«

Draußen vor dem breiten Thor der Schmiede glitt ein mildes Licht über den frostig blauen Morgenschatten der Landschaft. Die Sonne war gestiegen und strahlte die Berge an. Als man den Salzmeister über die Straße hinaufführte zum Klosterthor, glänzten alle Mauern des Stifts in goldenem Licht.

In der Pflegerstube des Rentamtes führten sie den Gebundenen vor Gericht.

Der Sekretarius zupfte am Bärtchen und lächelte verlegen, und Herr Pretschlaiffer faltete die schwarze Schaube um den Leib und zeigte jenes bekümmerte Gesicht, das er bei ernsten Fällen anzunehmen pflegte.

Mit stockender Stimme verlas der Sekretarius die Artikel ›von der Verräterei genügsamer Anzeige‹ und ›von unzweifelhaften Missethaten‹ – ein Artikel, in dem es hieß: »Item, so eine Missethat öffentlich und unzweifelhaft ist, soll man alle rechtliche Verlängerung abschneiden, damit Urteil und Strafe mit den wenigsten Kosten gefördert und vollzogen werden.«

Herr Pretschlaiffer sprach die Vermahnung zur Wahrheit. Dann sagte er mit traurigem Blick: »Hans Humbser, was hast du dich da in üble Sachen eingelassen! Und bist doch immer ein so redlicher Diener deines Herrn gewesen!«

»Ja, Herr Richter, der bin ich allzeit gewesen.«

»Wärst du es doch immer geblieben! Aber nun gieb der Wahrheit die Ehre ...«

Bild: A. F. Seligmann

Das Verhör begann.

»Ich kann nichts andres sagen, Herr Richter, als was ich schon den Spießknechten gesagt hab. Der Mann heißt Häfler-Basti. Den Namen hab ich schwarz auf weiß gelesen. Auf dem Kirchplatz hat der Mann mich angeredet und hat mir einen Bleibverlaub des Klosters gewiesen und einen Wegzettel vom Reichenhaller Salzmeister. So hab ich ihn eingedinget als Schlepper im neuen Stollen. Er hat genächtet bei mir, und eine Weil, eh die Spießknecht gekommen sind, hat er mein Haus verlassen und ist zur Schicht gegangen.«

Frage um Frage wurde gestellt – Hans Humbser wußte nichts anderes zu sagen. Da gab der Landrichter dem Sekretarius mit bekümmertem Blick einen Wink. Der Edle zu Hirschberg zog verlegen an einem Glockenstrang hinter seinem Sessel. Zwei Schergen in rotem Wams mit nackten Armen traten in die Stube. Der Greis erbleichte, und seine gefesselten Hände zuckten.

»Hans Humbser! Bevor du mich durch deine Verstocktheit zwingst, das peinliche Befragen zu beginnen, will ich dich noch ermahnen: Blick hinauf zu diesem heiligen Bild!« Herr Pretschlaiffer deutete auf ein großes Gemälde, das an der Wand der Stube hing: Jesus Christus mit blutenden Wundmalen und mit rotem Mantel, auf doppeltem Regenbogen ruhend; zu Seiten seines von der Glorie umschimmerten Hauptes zwei geflügelte Engel mit Posaunen, ihm zu Füßen die Erde mit Gräbern, die sich öffnen, mit den Gerechten, die zum Himmel steigen, mit den Sündern, die der höllische Drache verschlingt; und durch die Kreise des doppelten Regenbogens war ein Spruch geschlungen:

Gedenk allzeit der letzten Ding,
So wird das Recht dir thun gering.
Das Urteil dort wird dir gefällt,
Wie du gelebt hast in der Welt.

Das las der Greis, und ein ruhiges Lächeln glitt ihm über die bleichen Lippen.

»Hans Humbser? Willst du bekennen, wer der Mann gewesen ist? Und wie er in dein Haus gekommen?«

Der Salzmeister schwieg; noch immer hing sein Blick an dem Bild, und seine Augen begannen still zu glänzen.

Herr Pretschlaiffer winkte den Schergen. »So befraget ihn auf den ersten Grad! Doch mit geziemlicher Schonung seines Alters.«

Da sagte der Salzmeister: »Lasset die Schergen, Herr! Und Vergeltsgott für eure gute Mahnung! Jetzt hab ich der letzten Ding gedacht und will gestehen.« Er atmete tief. »Ich hab den Mann in mein Hans genommen, weil es Sünd für mich gewesen wär, ihn abzuweisen. Ich hab ihn herbergen müssen

»Müssen? Weshalb?«

»Weil er mir evangelischen Gruß geboten hat. Ich bin Martinisch, Herr Richter! ... Mehr sag ich nimmer.«

Immer hastiger zupfte der Sekretarius an seinem Bärtchen, und Herr Pretschlaiffer sprang auf, mehr erregt als erschrocken. »Du gottvergessener Mensch! Weißt du denn auch, daß dich dieses Geständnis meinem milden Richterspruch entzieht?«

»Ja.«

»Daß unser Herr durch Vertrag gebunden ist, dich Seiner Hochfürstlichen Gnaden dem Herrn Erzbischof von Salzburg auszuliefern?«

»Ja.«

»Und daß Seine Hochfürstliche Gnaden, Herr Matthäus, mit unerbittlicher Strenge gegen die Martinischen rechtet? Und daß du vom Regen in die Traufe kommst? Und daß du ein verlorener Mann bist? Weißt du das?«

»Ja! ... Und mein Herr Jesus, von allen Guten der Beste, wird gnädig sein meiner armen Seel, weil ich um meines Brodes willen geheuchelt hab seit dritthalb Jahr.«

Herr Pretschlaiffer stellte keine Frage mehr. Ein halbes Stündlein knirschte noch die Feder. Dann wurde Hans Humbser in Verwahr geführt, und vor den Richter kam ein anderes Geschäft. Man brachte den Jäger, der den Bauernknecht erstochen hatte. Der Fall war klar und rasch erledigt. Denn der Artikel sagte: »Item, welcher eine rechte Notwehr zur Rettung seines Leibs und Lebens thut und denjenigen, der ihn also benötigt, in solcher Notwehr entleibt, der ist darum niemanden nichts schuldig.« Der Jäger ging frei aus der Stube – und am Abend wurde er zum Geleit gestellt, das den Salzmeister Humbser in der Stille der Nacht über Schellenberg nach Hohensalzburg brachte.

Die ganze Woche waren die Spießknechte auf der Suche nach Joß Friz. Keine Spur von ihm ließ sich entdecken. Er schien aus dem Land verschwunden, trotz der gesperrten Straßen und Pässe. Dem Kloster blieb von ihm nur das schwäbische Gewand, das man im Haus des Salzmeisters gefunden hatte – und die glimmende Glut, die er in zwanzig Herzen geworfen. Die brannte weiter in heimlicher Stille. Lebensangst und scheue Hoffnung gaben ihr Nahrung.

So strenges Schweigen man den Leuten des Stiftes in dieser Sache geboten hatte, es sickerte doch in der zweiten Woche durch die Mauern heraus: daß ein Werber für den Bundschuh ins Land gekommen wäre, daß einer zum Verräter an ihm geworden, und daß der Mann, als man ihn fassen wollte, einen Spießknecht niedergestochen und sich gerettet hätte wie durch ein Wunder.

Nun wußten sie droben in der Gern, weshalb sie in der zweiten Sonntagnacht vergebens auf Joß Friz gewartet hatten. Bis lange nach Mitternacht waren sie beisammen geblieben, und immer wenn sie auseinander gehen wollten, hatte der Schmiedhannes gemahnt: »Bleibet noch, er kommt! Er hat's versprochen, daß er kommt, und der Joß ist ein Mann von Wort!«

Da hörten sie nun mit bleichem Schreck die Nachricht, die aus dem Kloster herausgetröpfelt und binnen wenigen Tagen von Mund zu Mund gelaufen war. Über jeden, der in der Tenne des Dürrlechners mit Joß um die Glut gestanden, fiel die Sorge her: »Morgen kommen die Spießknecht zu mir!« Und der Schmied-Hannes sagte es einem jeden der Schwurbrüder, die zu ihm in die Werkstätte kamen: »Habet acht, ich bin der erst, den sie sahen! Weil ich der erst gewesen bin, der geschworen hat. Und weil sie Angst haben vor mir!« Kam die Rede auf ›denselbigen, der es gethan‹, so that der Schmied mit dem schweren Hammer einen Streich auf den Ambos, daß es weit hinaus klang in das Thal. »Das muß er hören ... und wenn er's hört, so muß ihm die schlechte Seel im Leib drin zittern ... aus Angst vor mir! Und den bring ich auf! Den bring ich noch auf!« Und als dann ein Tag um den andern verging, ohne daß die Spießknechte kamen, weder zum Hannes noch zu einem andern der Schwurbrüder in der Gern, da wurden die Reden des Schmiedhannes immer schärfer. »Den Judas bring ich noch auf! Und wenn ich ihn hab, so soll ihm der Herrgott gnaden! ... Denken thu ich mir eh schon das meinig! ... Wird halt einer gewesen sein, dem unser gute Sach die Angst um Speck und Schmalz in den Magen getrieben hat! Und wie der dumme Bub gelärmt hat: es kommen die Reisigen ... da wird halt derselbig in seiner Angst schnurgrad zum Kloster gelaufen sein und wird gebeichtet haben, daß er sich lieb Kind macht bei den Herren! ... Ich denk mir das meinig! Es wird schon einer gewesen sein ... einer, dem's gar so zittrig um die milchige Seel gegangen ist! So ein Fürsichtiger halt!« Er sprach den Namen nicht aus. Doch immer deutlicher wurden seine Reden. Aber sie fanden im Ernst keinen Glauben bei den andern. Man kannte den Witting zu gut. Und als der Alte eines Morgens vor seinem Zaunthor eine Stange mit einem Strohwisch aufgerichtet fand, und Juliander im Zorn zum Vater sagte: »Der uns den Schimpf gethan, dem schreib ich mit der Faust die Unehr ins Gesicht!« ... da lächelte Witting: »Laß gut sein, Bub! Der lauft schon unserm Herrgott unter die Faust!« Und Juliander durfte die Stange nicht entfernen, sie mußte bleiben, wie sie stand. Am Abend kam der Etzmüller. »Geh, Witting, so thu die Stang doch weg! Es weiß doch ein jeder, wer du bist!«

»Die Stang soll bleiben! Und soll einem jeden sagen, wieviel schlechter Ding sich ein Mensch vom andern versehen muß.«

Da warf der Etzmüller die Stange nieder und brach sie in Stücke.

Nicht so sicher, wie der alte Witting, waren andere vor dem Verdacht. Und das brachte ein unfreundliches Leben unter die Nachbarn auf der Gern. Einer sah den andern mit mißtrauischen Augen an, und jeder dachte von seinem Nachbar: vielleicht hat's der gethan! Schließlich hängte sich der Verdacht an den Meingoz, ein kleines hageres Bäuerlein von scheuem Wesen. Der Mann merkte den Verdacht erst, als ihn die anderen immer auffälliger zu meiden begannen. In der Scheu seines Wesens blieb er still und wehrte sich nicht. Das bestärkte die anderen in ihrem Verdacht, und keiner redete mehr ein Wort mit dem Meingoz. Nur Witting suchte jede Gelegenheit, um freundlich mit ihm zu schwatzen. Eines Abends traf er den Meingoz im Wald, wie er unter einer entblätterten Buche stand, mit einem Strick in den Händen. Der Bauer erschrak, als er den näherkommenden Schritt vernahm. Forschend sah ihm Witting in das bleiche verstörte Gesicht, dann nahm er ihm den Strick aus den Händen. »Aber Nachbar! Bist denn ein Narr worden!« Der Bauer bedeckte das Gesicht mit der Kappe und brach in bitterliches Schluchzen aus. Witting legte ihm den Arm um den Hals. »Geh, sei gescheid! Denk an Weib und Kinder, Nachbar, und sonst an gar nichts! Das Leben, schau, das ist wie eine Natter. Oft thut sie dem Fuß nichts, der sie getreten hat, und lauft der Hand davon, die nach ihr greifen will ... und einer geht vorbei und denkt an nichts, und dem springt sie ans Herz und beißt ihn auf's Blut.«

Der Meingoz schluchzte.

»Schau, Nachbar, ich weiß, du bist ein rechtlicher Mann. Drum laß dir ein Wörtl sagen, das ich einmal gelesen hab. Das heißt: ›In Gott sei ruhig, meine Seel! Er ist mein Fels und meine Hilf, ist meine Zuversicht, die nimmer wanket‹«. Die Stimme des Alten wurde immer leiser. »Der das gute Wörtl hat drucken lassen, der muß die rechte Frömmigkeit haben! ... Jetzt glaub ich's bald selber!« Er zog den Meingoz mit sich fort. »Und komm, Nachbar! Jetzt geh ich heim mit dir. Dein gutes Weib wird zur Nacht gekocht haben ... da eß ich noch ein bissel mit. Ein Bröckl, das man zehren darf an redlichem Tisch, hat guten Schmack.«

Der Meingoz trocknete mit der Faust die Thränen vom Gesicht. »Vergeltsgott, Witting! Will mir's merken, dein gutes Wörtl!«

Erst spät in der Dunkelheit kam Witting an diesem Abend heim. Maralen in ihrer Sorge stand schon wartend am Zaunthor. »Vater, wo bleibst denn so lang?«

»Ein bissel Heimgart hab ich gehalten.« Er sperrte das Thor. »Ist der Bub schon schlafen gegangen?«

»Der sitzt noch allweil im Nußbaum droben.« Sie gingen durch den Garten in das Haus, und da sagte Maralen: »Heut ist er wieder, ich weiß nicht wie. Den ganzen Tag kein Liedl nimmer, und allweil stiller wird er. Was er nur haben muß?« Sie trat in die erleuchtete Herdstube, während der Vater hinter das Haus ging und in den Nußbaum hinaufrief: »Geh, Bub, komm schlafen!«

Juliander gab keine Antwort. Man hörte in der Dunkelheit nur das Klappern seiner Schuhe, als er langsam über die Leiter niederstieg. Schweigend trat er hinter dem Vater ins Haus und schloß die Thür der Stube.

Eine Weile noch leuchtete der Herdschein durch die Ritzen der Fensterläden heraus über das vom welken Laub überstreute Gehöft. Dann wurde es dunkel in der Stube, still im Haus.

In all den letzten Nächten hatten die dichten Herbstnebel das weite Thal überzogen und waren geschwunden mit dem Morgen. In dieser Nacht aber blieben die Sterne klar und flimmerten wie Thautropfen in der Sonne. Das war ein übles Wetterzeichen. Und ehe der Morgen kam, war schon der ganze Himmel überzogen. Gegen Mittag begann es zu regnen, und das grobe Wetter dauerte von einer Woche in die andere. Bald waren alle Berge weiß bis herunter zum entblätterten Buchenwald. Und als der Regen im Thal und das Gestöber in der Höhe zu Ende ging, begann der Frost. Die Felder lagen tot, der Bauern Arbeit wurde leichter, und die meiste Arbeit war im Haus. Im Wittinglehen theilten sich Juliander und Maralen in die Wirtschaft. Der Alte sprang nur ein, wenn Juliander bei den Jagden als Treiber oder Netzträger fronen mußte. War der Bub daheim, so zimmerte Witting an dem Hausrat des jungen Paares. Er sägte und hämmerte, bosselte und schnitzte den ganzen Tag – und war ein Stücklein fertig, so mußte Maralen kommen und sagen, wie es ihr gefiele. Oft legte sie den Arm um des Vaters Hals. »So schön, wie du mir's machst, hat keine ihr Sach. Jedes Stückl verzählt, wie lieb als mich hast!« An den langen Abenden, wenn der Vater und Juliander schon zur Ruhe gegangen waren, saß Maralen noch bis spät in die Nacht beim flackernden Kienlicht und nähte an ihrem Leinenzeug. Dabei vergaß sie aller Sorgen, träumte lächelnd vor sich hin und schien ihre Freude zu haben an jedem Stich, den die Nadel machte.

Jeden Sonntag kam Josef von Schellenberg herüber und blieb bis zum Abend. Da hatten die drei – das junge Paar und der Alte – den ganzen Tag zu schwatzen, vom Hausrat, vom Leinenzeug, von den beiden Kühen, die Maralen bekam, von den Fortschritten, die Josefs Arbeit draußen in der kleinen Hütte zu Schellenberg machte, von Zins und Steuer, die das junge Paar für das kleine Dach zu bezahlen hatte, und von den Gästen, die sie zur Hochzeit laden wollten. Zwölf Gäste erlaubte ihnen das klösterliche Weistum – aber an sechsen war's auch genug: der Vater und Juliander; die Tochter des Meingoz als Brautjungfer; Josefs Stollengesell, der Bramberger, als Brautführer; dazu der Etzmüller und sein Weib. Vier Schüsseln waren ihnen zum Mahl gestattet; aber sie meinten, zwei Schüsseln thäten's auch – und das kleine Mahl wollten sie im Leuthaus zu Schellenberg halten und vier Schilling auf Tisch und Wein verwenden.

Während die drei so alles besprachen, war Juliander bald in der Stube, bald draußen. Ruhelos trieb es den Buben umher. Und kam der Abend, so saß er lange Stunden in seiner Kammer am offenen Fenster oder stieg trotz Wind und Kälte auf den Nußbaum hinauf und saß, bis ihm vor Frost die Glieder zitterten.

So war es auch an einem Sonntag, als der November schon begonnen hatte. Nach dem Abendessen ging Juliander wieder aus der Stube, obwohl es draußen schon dunkelte. Da sagte der Alte: »Geh, Josef, thu mir den Gefallen und nimm dir einmal den Buben ein bißl für! Siehst ja doch selber, wie er ist. Völlig ein anderer wie sonst. Lachen und Singen hat er verlernt, und frag ich ihn: Bub, was hast? ... so schüttelt er den Kopf und schaut auf die Seit! ... Geh, Josef, red doch ein Wörtl mit ihm! Leicht hat er ein Zutrauen zu dir.« Josef ging in den Garten hinaus, über dem schon die graue Dämmerung lag. Wie kleine kalte Lichter standen die ersten Sterne hoch im trüben Blau. Mit Geraschel trieb der rauhe Wind die dürren Blätter um den Flechtzaun her. Die entlaubten Äste der Bäume bewegten sich im Wind wie lange hagere Arme, und das Gewirr der feinen Zweigspitzen war in der Dämmerung anzusehen wie ein zitterndes Spinngewebe, das alle Baumkronen umschleierte.

Als Josef am Nußbaum über die kleine Leiter hinaufstieg, klang von droben eine unwillige Stimme: »Was ist denn?«

Auf dem schmalen Sitz der Kanzel hätten zwei nebeneinander nicht Platz gefunden. So schwang sich Juliander auf einen Ast hinaus, um das Bänklein für Josef frei zu geben. Da pfiff der Wind um ihn her und wirbelte ihm die Haare ums Gesicht, die auch in der Dämmerung noch einen lichten Schimmer behielten, als hätten sie am Tage das Sonnenlicht in sich aufgesogen, um es jetzt hinauszuglimmen in den grauen Abend. Halb unwillig und halb mit scheuem Klang in der Stimme fragte der Bub: »Was willst?«

»Ein bißl heimgarten mit dir.«

»Da bist umsonst heraufgestiegen. Mir fallt nichts ein, was Lustiges schon gar nicht.«

»Sagst mir nicht gern von selber was, so muß ich halt fragen.«

Juliander rückte ein wenig weiter hinaus auf den Ast.

»Sag, Julei, was hast denn allweil?«

»Was soll ich denn haben? Nichts.«

»Jetzt kommst mir nimmer aus, jetzt mußt reden, Bub! ... Sag mir, was ist denn mit dir? Hast dich ja völlig verwendt! Kein Liedl nimmer! Kein Lachen mehr! ... Was hast denn, Bub?«

Juliander schwieg. Doch immer herzlicher redete ihm Josef zu. »Schau, Bub, das Lenli und ich, wir gehen in unser Glück ... und du machst uns so eine Sorg her, daß wir uns gar nimmer freuen mögen! Was hast denn, Julei? ... Mir kannst es doch sagen!«

Ein kurzes Schweigen. Und dann brach es aus dem Buben heraus, gereizt und wie in ratlosem Zorn, dann wieder zögernd, mit stockender Stimme und leis, wie in träumender Verlorenheit. »Wenn ich nur selber wüßt, was ich hab! Oft denk ich die ganze Nacht drüber nach und kann mir's doch selber nicht sagen. Und in der Früh, da treibt's mich wieder um, und ich hab keine Ruh nimmer, und nichts freut mich auf der Welt. Oft denk ich, es muß mich eine besprochen haben ... und sag mir wieder: das ist doch Narretei. Und möcht's abbeuteln von mir, und möcht lachen und singen ... und bring kein Lachen heraus und weiß kein Liedl nimmer. Und diemal ist ein Zorn in mir, ich weiß nicht wie ... daß ich einen Baum lupfen oder ein Sterndl herunterziehen möcht aus der Nacht, oder einen Berg aus der Welt reißen und auf Scherben klopfen! Und

[Teil der Zeile fehlt im Druck] diemal kommt's wieder, daß alles still ist ... auswendig und zu tiefst in mir ... ganz still ... ich kann dir nicht sagen wie ...«

Bild: A. F. Seligmann

Er atmete tief und schwieg eine Weile. Ganz zusammengekauert saß er auf dem Ast, das Gesicht umflattert von den Haaren.

»Ich kann dir nicht sagen wie! Und da möcht ich bloß allweil sitzen und schauen, und möcht mich gleich gar nimmer rühren. Und da ist mir oft so gut in der Seel, daß ich weinen möcht vor linder Freud! Die Sonn, Josef, die ist nicht wärmer, und das beste im Leben ist nicht halb so gut. Und wenn ich so schau, dann seh ich allweil, ich weiß nicht was ... und alles was ich seh, ist goldig und hat einen Schein ... und da denk ich oft Sachen, die nicht sein können ... und allweil geht's vorbei an mir, und kommt doch wieder, und schaut mich an und lacht ... ein Lachen, das einen traurig macht! Und wenn das so ist in mir, und es redet mich eins an, da krieg ich oft einen Zorn ... meiner Seel, Josef, da könnt ich oft ungut sein gegen den Vater und gegen das Lenli, die ich doch soviel lieb hab. Und wenn die anderen Buben so reden vor mir, daß ich kein Wörtl versteh, und wenn sie allweil Zeichen machen und wispern mit einander: ›Dem sag nichts! Der ist nicht im Schwur!‹ ... schau, Josef, da steigt oft das Blut in mir auf, daß ich einen umbringen könnt! Thät ich nicht allweil an den Vater und ans Lenli denken ... meiner Seel, Josef, ich thät ein Unglück anrichten, oder ... oder ich thät ein Großes, so schön und groß, daß es die Leut nicht glauben thäten ...« Sich streckend griff er in der Finsternis mit beiden Händen über seinen Kopf hinaus nach einem starken Ast und zog ihn mit aller Kraft seiner Jugend zu sich nieder, bis der Ast vom Stamme splitterte und ihm in den Händen blieb.

»Aber Bub, was treibst denn!« Josef lachte. »Ich thät lieber gleich den ganzen Nußbaum umreißen!«

Juliander schleuderte den schweren Ast in die Nacht hinaus. »Laß nur gut sein! Jetzt ist mir ein bißl wohler! ... Aber sag, Josef, meinst nicht auch, daß ein Krank in mir ist? Oder thät's am End doch so sein, daß mich eine besprochen hat? Was meinst denn, Josef?«

»Es giebt schon so Sachen, freilich, ja! ... Aber sag, Julei, wann hat's denn angehoben, daß du so bist?«

»Am selbigen Sonntag, weißt, wo du auf dem Rentamt gewesen bist ... selbigsmal am Abend. Den ganzen Tag bin ich noch allweil lustig gewesen und hab gesungen. Und in der Nacht, wie der Vater fort ist zum Dürrlechner, und wie er mich so stehen hat lassen, als thät ich noch ein Kindl sein ... und am selbigen Abend, weißt, da bin ich so lang im Nußbaum gesessen ... und jetzt hat's mich halt!«

Josef nickte. »Es ist auch wahr, der Vater sollt diemal ein bißl denken, daß du ein ausgewachsenes Mannsbild bist, und sollt dir von allem, was heimlich umgeht, doch soviel sagen, daß du vor den andern Buben nicht dastehen mußt wie ein Kindl, das nichts wissen soll.«

»Gelt, ja?«

»Aber das sag ich dem Vater heut noch.«

»Thu's, Josef! Und Vergeltsgott!«

»Aber geh jetzt, Bub, und komm mit hinunter in die Stub! Blast ja der Wind, daß er dich schier vom Ast wirft.«

»Mich wirft er nicht! Und mir ist's lieber in der Kält, als in der warmen Stub.«

Josef lachte und stieg über die Leiter hinunter. Als er in die Stube kam, trat ihm der Alte entgegen. »Hast geredet mit ihm?«

»Wohl.«

»Was hat er denn?«

»Verliebt ist er halt und weiß es nicht. Und was so zittert in ihm, das schaut er für Unmut an und schiebt's auf dich, Vater, weil er allweil so auf der Seit stehen muß, wenn die Mannsleut raiten. Und da hat er ein bißl recht. Sollst ihm diemal ein Wörtl sagen, Vater, daß er nicht allweil wie ein junges Henndl dreinschauen muß, wenn die anderen Buben tuscheln.«

Witting atmete erleichtert auf. »Wenn's nicht mehr ist, als Lieb und Zorn, da soll mir der Bub bald wieder auf gleich kommen.« Er lachte, während ihm die Augen feucht wurden. »Ist mir selber lieber, daß eine junge Bäuerin ins Haus kommt, wenn das Lenli fort ist! ... Was für eine thät's denn sein?«

»Da hat er keinen Schnaufer gethan.«

Nun rieten sie auf die Tochter des Meingoz, auf die jüngste des Etzmüllers, auf die Dirn im Brunnlehen – doch immer schüttelte Maralen den Kopf. »Von denen ist's keine. Das hätt ich merken müssen.«

Als es für Josef Zeit wurde, an den Heimweg nach Schellenberg zu denken, war Juliander noch immer nicht in die Stube gekommen. Das junge Paar ging in den Garten, um ihn zu rufen. Doch sie hörten keine Antwort, und die Kanzel im Nußbaum war leer.

Während Maralen ihren Verlobten zum Thor begleitete, ging Witting mit einem Spanlicht in die Kammer. Und da fand er den Buben. Juliander war durch das offene Fenster in die Kammer gestiegen, lag schon unter der Decke und hielt die Augen geschlossen. Aber der Alte merkte, daß der Bub nicht schlief. Mit der Linken den flackernden Kienspan über das Bett haltend, strich er mit der Rechten das Haar von Julianders Gesicht. »Sei gut, Bub! Wenn ich dir diemal ein bißl was verschweig, ich thu's nur zu deinem Besten. Aber wenn das Lenli ihren Hausstand hat, und wir zwei Mannsleut bleiben allein, da will ich dir alles sagen, was die andern wissen. Und da wollen wir's halten miteinander, nicht wie Vater und Bub, sondern wie zwei rechte und gute Brüder! Gelt?«

Da hatte Juliander die Augen offen und faßte die Hand des Alten. »Ja, Vater! Und Vergeltsgott! Und wirst sehen, morgen bin ich auch wieder, wie ich allzeit gewesen bin ... und sing und lach.«

Die Nacht verging und der Morgen kam. Aber Juliander war der gleiche, wie in all den letzten Tagen. Er machte wohl einen redlichen Versuch, die helle Sonne wieder einzufangen, die ihm entflogen – er wollte lachen, doch es gelang ihm nicht, er wollte singen und brachte keinen rechten, klingenden Ton aus der Kehle.

Zwei Wochen vergingen – und dann an einem Sonntag kam Josef mit der Nachricht: das kleine Haus stünde fertig, um den Hausrat und die beiden Kühe aufzunehmen.

Am Morgen des andern Tages zahlten sie auf dem Rentamt Zins und Steuer für das Lehen, den Liebgulden und die Brauthühner, das Herdgeld und die Hochzeitsbeden – und viel mehr, als die vier Schillinge für das Mahl, blieb ihnen nach allen Kosten nicht mehr übrig.

Josef hatte vom Schellenberger Salzmeister drei Tage Urlaub erbeten und theilte sich am Montag mit dem Vater in die Mühe, den schweren Karren mit dem Hausrat dreimal die zwei Stunden Weges hin und her zu schleppen. Juliander that die Arbeit im Lehen daheim. Und Maralen weinte den ganzen Tag und ging vom Morgen bis zum Abend in Hof und Haus umher, um jedes Stücklein der Heimat noch einmal zu berühren – und um die Magd, die der Vater aufgenommen hatte, in die Arbeit einzuweisen.

Spät in der Nacht kam Witting von der letzten Fuhre mit dem leeren Karren nach Hause, so ermüdet, daß er nicht essen wollte, nur immer am Herd beim warmen Feuer sitzen. Den Buben schickte er in die Kammer, und auch Maralen sollte sich niederlegen. »Weißt, Lenli, hast morgen einen harten Tag!« Aber Maralen wollte beim Vater bleiben, bis er schlafen ging. Sie sprachen kein Wort, sie saßen nur nebeneinander, Hand in Hand. Und plötzlich warf sich Maralen an des Vaters Brust, umklammerte seinen Hals und brach in Schluchzen aus, als möchte ihr das Herz zerspringen. Unter Thränen lächelnd streichelte ihr der Alte das Haar. »Geh, du Dummerl, was thust denn! Gehst ja doch in dein Glück!« Aber sie schluchzte und schluchzte, bis er sie aufrichtete und in ihre Kammer schob. »Gut Nacht, mein Kindl, mein liebs! Gott soll dich hüten die letzte Nacht in Vaters Haus. Und morgen hast dein nettes Häusl, schau ... und übermorgen hast deinen Josef und dein Glück.« Er zog an ihrer Kammer die Thüre zu, als sollte kein weiteres Wort mehr geredet werden. Dann stand er beim letzten Glutschein der Kohlen noch lang in der Herdstube – und schleichenden Schrittes ging er nach seiner Kammer, so müd und gebeugt, als wäre diese Stunde mit dem Gewicht von Jahren über ihn hergefallen.

Am andern Morgen, noch in der Dämmerung, kam Josef wieder, in dichtem Schneegestöber, das in der Nacht begonnen hatte. Als es heller Tag wurde, ließ das Gestöber nach, und während sich über den weißen Zinnen des hohen Göhl schon wieder ein Flecklein des blauen Himmels zeigte, fielen noch große, langsam gaukelnde Flocken.

Nun machten sie aus, daß Juliander die beiden Kühe nach Schellenberg treiben und Maralen mit Josef den letzten Karren mit dem leichteren Gerät hinunterführen sollte – das bringt Glück ins Haus, wenn die Braut mit eigener Müh das letzte Stücklein Hausrat unter Dach stellt. Am Abend sollte Juliander heimkehren, und dann wollte der Vater nach Schellenberg kommen und die Nacht mit Maralen in ihrem neuen Heim verbringen. Und am Mittwoch morgen wollten sie alle im Wiesengütl Zusammentreffen, um zur Kirche zu gehen.

Der Karren stand gepackt, mit einer grauen Blache überzogen, und die Kühe waren schon gekoppelt. Juliander und Maralen zogen ihre guten Kleider an, und dann nahmen sie zusammen noch ein Mahl, das Maralen gekocht hatte – das letzte in ihres Vaters Haus, wie sie unter Thränen meinte.

Als sie hinaustraten vor die Herdstube, ging ein Sonnenschimmer über die weißen Berge hin. Aber es war ein Schein ohne Wärme. Der Frost lag in der windstillen Luft, und der frisch gefallene Schnee begann zu knirschen.

Juliander, ohne ein Wort zu sagen und in ungeduldiger Erregung, begann schon die Kühe gegen das Thor zu treiben. Während Maralen, immer die Augen trocknend, noch hastig hin und her lief, als hätte sie etwas vergessen und wüßte nicht was, ging Josef auf den Vater zu und reichte ihm die Hand: »Vergeltsgott, weil du mir dein Kindl giebst!«

»Thu mir das Lenli gut halten, wie sie's verdient! Und alles ist mir recht.«

Als Josef an die Karrendeichsel trat, kam Maralen aus dem Haus. Sie ging mit verstörtem Gesicht auf den Vater zu, legte ihm den Arm um den Hals und wollte ihm etwas sagen – aber sie konnte nur schluchzen.

»Laß gut sein, Kindl ... und schau, dein Josef wartet! Thu nimmer Zeit versäumen! Der Julei ist auch schon draußen zum Thor.«

Nun stand der Alte allein vor der Hausthür. Er nickte lächelnd und schob die Hand unter den Gürtel. Doch als er sah, daß Maralen an die Deichsel trat und ziehen wollte, ging er zu ihr und schob sie mit dem Ellbogen beiseite. »Geh nur, Lenli, über den Berg hinunter helf ich noch. Drunten auf der Straß, da hast dann ein leichtes Ziehen.« Er legte sich mit der Brust gegen das Querholz der Deichsel, und der Karren knirschte durch den Schnee.

Es war auf dem steilen Weg und dem glitschigen Schnee ein hartes Fahren. So oft eine schwierige Wegstelle überwunden war und Witting mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirne wischte, sagte er: »Ist gut, daß ich noch mit bin. Das Lenli hätt sich ein bißl hart gethan.«

Als sie die Straße erreichten, war von Juliander und den Kühen nichts mehr zu sehen – so weit war er vorausgekommen.

»So, Lenli! Dein Weg ist da!«

Maralen war ruhig geworden und konnte dem Vater die Hand reichen, ohne daß sie in Schluchzen ausbrach. »Vergeltsgott, Vater! Dein letztes Schritt! für mich ist Lieb und Müh gewesen.« Sogar lächeln konnte sie. »Wirst sehen, das bringt mir Glück.«

»Ja, Kindl! Thätst du das Glück nicht haben, so thät's keinen Gott im Himmel geben.« Er wandte sich und stieg mit ruhigem Schritt den Hang hinauf. Einmal drehte er sich noch um und winkte lachend mit der Hand. Dann ging er dem verschneiten Walde zu. Als ihn die Bäume deckten, blieb er stehen. Die Arme hingen an ihm herunter, als wären seine Fäuste wie Blei. Immer tiefer krümmte sich sein Rücken, ein Zucken lief ihm über das furchige Gesicht, und während er immer nickte, rannen ihm die Thränen über den zitternden Bart. Um sich herblickend, tastete er mit der Hand ins Leere – und wie von tiefer Müdigkeit befallen, ließ er sich auf eine Buche nieder, die der Sturm geworfen hatte.

Von den Ästen der Bäume, die um ihn herstanden, fielen die Schneeklumpen auf ihn herab – er schien es nicht zu fühlen und blickte nicht auf.

Bild: A. F. Seligmann


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